Fragen des Schwerbehindertenrechts beschäftigen immer wieder auch die Arbeitsgerichte. In einer aktuellen Entscheidung des BAG haben die Erfurter Richter die weit reichende Prüfpflicht des Arbeitgebers betont, der eine Stelle besetzen will. André Niedostadek zu den Hintergründen des Falls und den Konsequenzen für die Praxis.
Die ersten Zeilen einer Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom vergangenen Donnerstag lesen sich auf den ersten Blick unspektakulär: "Arbeitgeber sind verpflichtet zu prüfen, ob sie freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen können. Um auch arbeitslose oder arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen zu berücksichtigen, müssen sie frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit aufnehmen."
Schließlich ist es genau das, was § 81 Abs. 1 SGB IX ohnehin fordert. Mit dieser Regelung und den weiteren Bestimmungen im Zweiten Teil des SGB IX verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, dass möglichst viele schwerbehinderte Menschen Arbeit finden – sei es bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern.
Warum also ist dieser Fall so besonders, dass er es immerhin bis nach Erfurt geschafft hat? Unter anderem, weil die Vorinstanzen noch anders entschieden hatten. Und damit wird es nun doch wieder interessant. Vor allem für die Arbeitgeber, für die es zukünftig richtig teuer werden kann, wenn sie schwerbehinderte Menschen bei der Stellenbesetzung nicht berücksichtigen. Und dabei ist durchaus Eigeninitiative gefordert.
Der schwerbehinderte Kläger hatte sich bei der beklagten Gemeinde um einen Arbeitsplatz beworben, der infolge einer Mutterschaftsvertretung zu besetzen war. Konkret ging es um eine Stelle in den Bereichen Personalwesen, Bauleitplanung, Liegenschaften und Ordnungsamt. Vorweisen konnte der Bewerber dabei neben einer Ausbildung zum gehobenen Verwaltungsdienst auch ein betriebswirtschaftliches Fachhochschulstudium. Eine nicht ganz unwesentliche Nuance dieses Falls: Er hatte in seinem Bewerbungsschreiben unter anderem angegeben, durch seine Behinderung "insbesondere im Verwaltungsbereich nicht eingeschränkt" zu sein.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Zankapfel
Die Bewerbung blieb letztlich erfolglos. Das veranlasste den Kläger, einen auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gestützten Entschädigungsanspruch geltend zu machen. Dieses Gesetz zielt darauf ab, Benachteiligungen unter anderem wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts oder auch einer Behinderung zu verhindern und zu beseitigen. Kommt es doch zu einem Verstoß, hat der diskriminierte Bewerber einen Zahlungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG.
Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg als Vorinstanz hatte einen Anspruch des abgelehnten Bewerbers noch verneint (LAG BW, Urt. v. 06.09.2010 Az: 4 Sa 18/10). Die Richter im Ländle waren der Ansicht, der Kläger sei keineswegs "wegen" seiner Behinderung benachteiligt. Allerdings musste das Gericht in seiner Begründung einige Klippen umschiffen. Denn speziell im Schwerbehindertenrecht gelten einige Besonderheiten, die aus den im SGB IX normierten Rechten schwerbehinderter Menschen und den Pflichten der Arbeitgeber resultieren.
So müssen zum Beispiel Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber nach § 82 SGB IX den Agenturen für Arbeit frühzeitig melden, dass Arbeitsplätze frei werden, neu zu besetzen sind oder geschaffen werden. Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, dann werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Nur dann, wenn sie offensichtlich fachlich nicht geeignet sind, können die öffentlichen Arbeitgeber auf das Bewerbungsgespräch verzichten. Verstößt der Arbeitgeber gegen eine solche Pflicht, kann sich daraus beispielsweise die Vermutung ergeben, dass er den Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung benachteiligt.
Das LAG setzte sich unter anderem damit und mit weiteren Fragen eingehend auseinander, und beinahe gewinnt man den Eindruck, der Bewerber könne den Prozess gar nicht verlieren. Aber erstens kommt es bekanntlich immer anders und zweitens als man denkt: Das Gericht versagte dem Kläger den Anspruch am Ende doch. Die Begründung allerdings liest sich etwas konstruiert. Der Bewerber habe die beklagte Gemeinde nämlich nur darüber informiert, dass eine ihn nicht einschränkende Behinderung bestehe, nicht aber darüber, dass er schwerbehindert sei. Und weil die beklagte Gemeinde weder das Bestehen einer Schwerbehinderung kennen musste noch verpflichtet war, sich nach dem Bestehen einer Schwerbehinderteneigenschaft zu erkundigen, habe er keinen Entschädigungsanspruch.
Arbeitgeber aufgepasst: Wer nicht generell prüft, zahlt drauf
Im Rahmen der Revision des Bewerbers kommt der achte Senats des BAG jetzt nicht nur zu einem anderen Ergebnis, sondern auch zu einem anderen Begründungsansatz (Urteil vom 13.10.2011 Az: 8 AZR 608/10). Auch wenn die schriftlichen Urteilsgründe noch nicht vorliegen, ist dazu schon die Pressemitteilung sehr aufschlussreich: Den Erfurter Richtern geht es gar nicht darum, ob in einem konkreten Fall eine Behinderung oder Schwerbehinderung vorliegt und ob der Arbeitgeber das hätte wissen können oder wissen müssen.
Der Kernsatz lautet vielmehr: "Die Prüfpflicht zur Berücksichtigung schwerbehinderter Menschen bei der Besetzung freier Stellen besteht immer und für alle Arbeitgeber und unabhängig davon, ob sich ein schwerbehinderter Mensch beworben hat oder bei seiner Bewerbung diesen Status offenbart hat."
Das hat es in sich, denn die Richter unterstreichen nochmals die ganz generelle Prüfpflicht: Verletzt ein Arbeitgeber sie, so das BAG weiter, ist das bereits ein Indiz dafür dar, dass er einen abgelehnten schwerbehinderten Menschen wegen der Behinderung benachteiligt hat, weil er seine Förderungspflichten nicht beachtet hat. Ein Aspekt, der schon in einer etwas älteren Entscheidung des BAG (Urteil v. 17.08.2010 9 AZR 839/08) einmal kurz anklang und nun quasi konkretisiert wurde.
Im hier zu entscheidenden Fall war es dem Arbeitgeber nicht gelungen, die Vermutung einer solchen Benachteiligung zu widerlegen. Das BAG hat die Sache nun an das Baden-Württemberger LAG zurückverwiesen, das nun noch über die Höhe der dem Kläger zustehenden Entschädigung entscheiden muss.
Die Entscheidung der obersten Arbeitsrichter ist konsequent und birgt rechtlich im Grunde gar nicht so viel Sprengstoff. Für die Praxis aber hat das Urteil gravierende Auswirkungen. Auch private Arbeitgeber müssen sicherstellen, dass die Prüfpflicht erfüllt wird. Gegebenenfalls ist initiativ bei der Agentur für Arbeit anzufragen, ob möglicherweise ein schwerbehinderter Bewerber für deren Besetzung in Betracht kommt.
Noch entscheidender als die Einhaltung der Pflicht ist aber, dass die Erkundigungen auch hinreichend dokumentiert werden. Nur so können Arbeitgeber gegebenenfalls die Vermutungsregel widerlegen – und potenziellen AGG-Hoppern die Grundlage für ihre Klagen entziehen.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
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André Niedostadek, BAG zu schwerbehinderten Bewerbern: . In: Legal Tribune Online, 19.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4592 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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