Nicht jede Überstunde muss gesondert bezahlt werden, pauschale Abgeltungen sind zulässig. Es müssen aber Spielregeln eingehalten werden, die das BAG für eine Pauschalabgeltung in Betriebsvereinbarungen ergänzt hat, erläutert Patrick Mückl.
Mehrarbeitszeiten nachzuhalten und abzurechnen, ist nicht nur aufwändig. Vor allem ist häufig nicht leicht festzustellen, wann vergütungspflichtig gearbeitet wird. In der Praxis stellen sich immer zwei Fragen. Erstens: Während welcher Zeit wurde tatsächlich gearbeitet. Und zweitens: Muss die ermittelte Arbeitszeit (gesondert) bezahlt werden?
Bereits die erste Frage ist nicht immer leicht zu beantworten. Ein Beispiel? Die Raucherpause ist grundsätzlich keine Arbeitszeit. Wenn während ihr allerdings zwischen den zwei damit beauftragten Kollegen das Veranstaltungskonzept wirklich weiterentwickelt wird, ist sie Arbeitszeit. Bereits die Arbeitszeit selbst lässt sich also häufig nicht schematisch bestimmen.
Das gilt jedenfalls, wenn nicht innerhalb maschinengebundener Abläufe produktionsabhängig in Schichten gearbeitet wird. Noch schwieriger ist häufig aber Frage zwei zu beantworten, also welche Arbeitszeit (zusätzlich) zu vergüten ist.
Wann Überstunden bezahlt werden müssen
Denn einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass jede Mehrarbeitszeit oder jede dienstliche Anwesenheit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus zu vergüten ist, gibt es nicht (BAG, Urt. v. 21.9.2011, 5 AZR 629/10; BAG, Urt. v. 27. 6.2012, 5 AZR 530/11). Wann müssen Überstunden also vergütet werden? Entweder, wenn das vereinbart ist, oder der Mitarbeiter immerhin eine berechtigte Vergütungserwartung hat (§ 612 Abs. 1 BGB).
Um die gerade skizzierten Schwierigkeiten bei der Bestimmung vergütungspflichtiger Mehrarbeit zu vermeiden, werden häufig Pauschalabgeltungen vorgesehen. Für derartige als AGB ausgestaltete Vereinbarungen in Arbeitsverträgen gilt:
- Vereinbart werden darf - wegen der Vorgaben des ArbZG - nur eine Arbeitszeit inklusive Überstunden bis 48 Stunden pro Woche (BAG, Urt. v. 28.9.2005, 5 AZR 52/05).
- Es erfolgt eine klare Festlegung der Zahl/des Umfangs der abgegoltenen Überstunden (BAG, Urt. v. 22.2.2012, 5 AZR 765/10).
In seiner Entscheidung vom Mittwoch (Urt. v. 26.06.2019, Az.: 5 AZR 452/18) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) nun präzisiert, welche Vorgaben für Pauschalierungsregeln in Betriebsvereinbarungen gelten.
Danach müssen die Voraussetzungen des Mehrarbeitsausgleichs zum einen hinreichend klar bestimmt sein. Zum anderen darf der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt werden.
Das klingt einfach, ist es aber offenbar in der Praxis nicht unbedingt. So auch im entschiedenen Fall, der die Gewerkschaft ver.di - und damit immerhin "Arbeitsrechtsprofis" - betraf.
ver.di und die Überstunden
Der klagende Mann ist bei der ver.di als Gewerkschaftssekretär beschäftigt. Es ist "Vertrauensarbeitszeit" vereinbart, der Mitarbeiter entscheidet entsprechend selbst über Beginn und Ende der Arbeitszeit. Auf das Arbeitsverhältnis finden die als Gesamtbetriebsvereinbarung abgeschlossenen "Allgemeinen Arbeitsbedingungen für die ver.di-Beschäftigten" (AAB) Anwendung. § 10 AAB sieht vor, dass Gewerkschaftssekretäre, die regelmäßig Mehrarbeit leisten, als Ausgleich neun freie Arbeitstage im Kalenderjahr erhalten.
Die anderen Mitarbeiter haben dagegen für jede geleistete Überstunde Anspruch auf einen Freizeitausgleich von einer Stunde und achtzehn Minuten (30 Prozent Überstundenzuschlag) bzw. auf eine entsprechende Überstundenvergütung.
Der klagende Gewerkschaftssekretär hat für vier Monate, in denen er neben seinen sonstigen Aufgaben in einem Projekt arbeitete, die Vergütung von Überstunden in Höhe von 9.345,84 Euro brutto verlangt. ver.di hat Klageabweisung beantragt und gemeint, sämtliche Überstunden des Klägers seien mit den neun Ausgleichstagen nach den AAB abgegolten. Während die Vorinstanzen die Klage abgewiesen haben, hatte die Revision des Klägers vor dem 5. Senat des BAG Erfolg.
BAG: Wann ist Mehrarbeit "regelmäßig"?
Nach der Bewertung des BAG sind die AAB teilunwirksam, soweit sie für bestimmte Gewerkschaftssekretäre eine Pauschalvergütung von Überstunden vorsehen. Das BAG sieht hierfür zwei Gründe:
Zunächst einmal verstoße § 10 AAB mit der Voraussetzung "regelmäßiger Mehrarbeit" gegen das Gebot der Normenklarheit, weil für die Arbeitnehmer nicht hinreichend klar ersichtlich sei, wann "regelmäßige" Mehrarbeit vorliegt und wann nicht.
Außerdem genüge die Regelung nicht dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Eine - wie auch immer geartete - "Regelmäßigkeit" von Überstunden sei - so das BAG - kein taugliches Differenzierungskriterium dafür, ob die Vergütung von Überstunden pauschaliert oder "spitz" nach den tatsächlich geleisteten Überstunden gezahlt wird.
Was passiert, wenn die Abgeltungsklausel unwirksam ist
Ist eine solche Abgeltungsklausel - wie im entschiedenen Fall - unwirksam, fehlt zur Vergütung von Überstunden eine explizite Regelung. Dann kommt ein Anspruch nur nach § 612 Abs. 1 BGB in Betracht, der auf eine berechtigte Vergütungserwartung abstellt. Diese ist stets anhand eines objektiven Maßstabs unter Berücksichtigung der Verkehrssitte, der Art, des Umfangs und der Dauer der Dienstleistung sowie der Stellung der Beteiligten zueinander festzustellen, ohne dass es auf deren persönliche Meinung ankäme. Sie wird zwar in weiten Teilen des Arbeitslebens gegeben sein, aber insbesondere fehlen (vgl. BAG, Urt. v. 27. 6. 2012, 5 AZR 530/11),
- wenn arbeitszeitbezogen und arbeitszeitunabhängig vergütete Arbeitsleistungen zeitlich verschränkt sind,
- wenn Dienste höherer Art geschuldet sind,
- der Mitarbeiter zusätzlich zur arbeitszeitbezogenen Vergütung Provisionen erhält oder
- insgesamt eine deutlich herausgehobene, die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung überschreitende Vergütung gezahlt wird.
Was das BAG-Urteil für die Praxis bedeutet
Auch nach der jüngsten Entscheidung des BAG bleibt die pauschale Abgeltung von Überstunden zulässig. Parallel zur AGB-rechtlichen Bewertung muss sie aber auch in Betriebsvereinbarungen so klar ausgestaltet sein, dass der Mitarbeiter weiß, was auf ihn zukommt. Zudem darf sie Gleichbehandlungsgebote nicht verletzen.
Mit den zur Gesamtbetriebsvereinbarung von ver.di entwickelten Grundsätzen hat das BAG sehr wahrscheinlich (bislang liegt nur die Pressemitteilung vor) mittelbar auch klargestellt, was für die Pauschalabgeltung in Tarifverträgen gilt. Denn für Gewerkschaftsmitarbeiter gibt es keine Gewerkschaft. Sie sind auf "tarifersetzende" Betriebsvereinbarungen beschränkt. Auch das bringt aber für Gewerkschaften keinen zusätzlichen Gestaltungsspielraum, wie die Entscheidung des BAG zeigt.
Dr. Patrick Mückl ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht im Düsseldorfer Büro der Kanzlei Noerr LLP. Er berät nationale und internationale Unternehmen in allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.
BAG zur Pauschalvergütung von Mehrarbeit: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36133 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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