Entgeltgleichheit, Kündigung und Kirche, Mehrarbeitsvergütung: Die Fälle am BAG sind stark geprägt von Entscheidungen des EuGH. Das führte im vergangenen Jahr auch zu sehr langen Verfahrensdauern, zeigt der Jahresbericht des BAG.
Bevor Inken Gallner bei ihrem Jahresbericht für das Bundesarbeitsgericht (BAG) zurückblickt, startet sie mit dem Blick auf das, was im Jahr 2024 ansteht: die Europawahl, die Präsidentschaftswahl in den USA, drei deutsche Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, in Thüringen zudem im Mai Kommunalwahlen. "Im Zusammenhang der wichtigen Wahlen wird befürchtet, dass eine Spaltung der Gesellschaft in Europa und den USA noch deutlicher zutage tritt", sagt die Präsidentin des Gerichts im thüringischen Erfurt. Viele fragten sich, ob die liberale Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr seien.
Für Gallner gibt es allerdings Hoffnung für Rechtsstaatlichkeit und die europäische Rechtsgemeinschaft. Die liegt ihrer Meinung nach darin, dass sich die Zusammenarbeit der Gerichte in Europa und darüber hinaus intensiviere. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verstärke die ohnehin schon intensive Zusammenarbeit mit den höchsten Gerichten in der EU noch weiter. Das BAG knüpfe an diese Zusammenarbeit an: Im Juni wird in Erfurt ein europarechtliches Symposium stattfinden – und dabei auch die Feier zum 70. Geburtstag des BAG.
Europas Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht
Als Beispiele für die Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts nannte die BAG-Präsidentin drei Fälle: die Entgeltgleichzeit bei Männern und Frauen, Kündigungen im Zusammenhang mit Kirchenaustritten und das Recht der Massenentlassung.
Zur Entgeltgleichheit hatte das BAG im Jahr 2023 entschieden, dass gleiches Entgelt auch zu bezahlen ist, wenn der Mann ein höheres Gehalt ausgehandelt hatte (BAG, Urt. v. 16.01.2023, Az. 8 AZR 450/21). Dabei sei der Equal-Pay-Grundsatz seit Jahrzehnten in der Richtlinie zur Arbeitsweise der Europäischen Union und in Art. 119 EWG-Vertrag festgeschrieben. Aber noch immer, so sagte Gallner am Mittwoch, gebe es in allen EU-Ländern außer in Luxemburg Gender-Pay-Gaps – also Gehaltsunterschiede bei Männern und Frauen.
Auch das Arbeitsrecht und die Kirchen stehen stark im europäischen Fokus: In einem deutschen Fall, der bereits bei der Großen Kammer des EuGH anhängig war, verglichen sich die Parteien in der mündlichen Verhandlung. Das Arbeitsverhältnis der Hebamme mit einem Krankenhaus der Caritas besteht nun trotz Kirchenaustritts weiter. Einen weiteren Fall einer Sozialpädagogin in der katholischen Schwangerschaftsberatung hat das BAG im Januar dem EuGH vorgelegt (Vorlage v. 01.02.2024, Az. 2 AZR 196/22).
Neue alte Themen bei anstehenden Entscheidungen
Gallner warf am Mittwoch aber nicht nur einen Blick zurück, sondern auch nach vorn. In diesem Jahr wird sich das BAG mit vielen weiteren Themen befassen, darunter auch drei der wenigen beim BAG angekommenen Corona-Fälle: So wird im Mai der Fall eines Betriebsrentners verhandelt, der mit diesem Status von der Corona-Prämie ausgenommen war (Az. 3 AZR 193/22). Ein anderer Fall betrifft die Frage des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung, wenn ein symptomlos mit Corona-infizierter Mitarbeiter nicht im Homeoffice arbeiten konnte, weil es die Art der Arbeit – hier ein Produktionsmitarbeiter – ausschließt. Da der Mann nicht als krank gilt, wurde hier die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert (Az. 243/23). Und auch über einen Anspruch auf Vergütung bei Verweigerung der Corona-Impfung wird das BAG in diesem Jahr entscheiden (Az. 5 AZR 167/23 und 192/23).
Von besonderer Relevanz wird ein Rückläufer vom EuGH werden, der Fall ist als "Lufthansa-Cityline" unter Arbeitsrechtlern bekannt. Hier ging es um die Frage, ab wann Teilzeitmitarbeitende einen Anspruch auf die Zuschläge für Mehrarbeit haben: Erst wenn der Umfang der Vollzeitarbeitenden erreicht ist? Oder liegt darin eine Geschlechterdiskriminierung der Teilzeitkräfte? Oder liegt Mehrarbeit bereits ab Erreichen der individuell vereinbarten Stundenzahl vor? Dies ist einer der wenigen Fälle, in dem der EuGH zu einem anderen Ergebnis gekommen ist als zuvor der Generalanwalt, der eine Geschlechterdiskriminierung noch abgelehnt hatte. Diese Fälle werden nun am 24. April entschieden (Cityline Az. 10 AZR 185/20).
Lange Verfahrensdauer: "Hört sich schlimm an, ist es aber womöglich nicht"
Auch auf die Zahlen des Gerichts blickte Gallner: Die durchschnittliche Dauer der beim BAG erledigten Verfahren betrug im abgelaufenen Geschäftsjahr neun Monate und sechs Tage (Vorjahr fünf Monate und vier Tage). "Das hört sich schlimm an, ist es aber womöglich nicht", sagte die Präsidentin zu diesen Angaben. Die längere Dauer liege vor allem an vielen Erledigungen des 10. Senats, die Nachtarbeitszuschläge betreffen. Durch Vorabentscheidungsersuchen habe sich die Erledigungsdauer in über 400 Revisionsverfahren beträchtlich verlängert, weil die Entscheidung des EuGH abgewartet werden musste. Die Fälle seien nun bereits weitgehend abgearbeitet, einige Erledigungen in Massenblöcken stünden aber noch an.
Die Zahl der Eingänge beim BAG ist im Jahr 2023 um 125 Verfahren bzw. 9,87 Prozent auf insgesamt 1.391 gestiegen (Vorjahr: 1.266). "Das ist nicht viel, aber ein wenig Aufwind", sagte Gallner. Mehrfach betonte die BAG-Präsidentin an diesem Tag, wie schwierig es sei, Rechtsprechungslinien zu legen, wenn es zu wenig Fallmaterial gebe. Das sei aber die Aufgabe eines Revisionsgerichts. Sie kritisierte, dass immer mehr große Kanzleien versuchten, die Fälle ohne Gerichtsverfahren abzuschließen. Im Vorjahr hatte die Zahl der Eingänge einen Tiefstand erreicht, nachdem die Zahl im Jahr 2021 mit 1.521 Verfahren bereits um rund ein Viertel zurück gegangen war (2020: 2041 Eingänge).
Insgesamt gingen im Geschäftsjahr 2023 1.391 Sachen ein (Vorjahr 1.266 Sachen). 23,72 Prozent der Eingänge (330 Sachen) betrafen Revisionen und Rechtsbeschwerden im Beschlussverfahren. 70,09 Prozent der Eingänge entfielen auf Nichtzulassungsbeschwerden (975 Sachen). Gegenüber dem Vorjahr stellt dies hinsichtlich der Revisionen und Rechtsbeschwerden im Beschlussverfahren einen Rückgang um 69 Sachen bzw. 17,29 Prozent dar (Vorjahr 399 Sachen). Die Zahl der Nichtzulassungsbeschwerden hat sich gegenüber dem Vorjahr um 174 Verfahren bzw. 21,72 Prozent erhöht (Vorjahr 801 Sachen).
Im Jahr 2023 erledigten die Richer:innen 1.503 Sachen, die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr wieder angestiegen (2022: 1.283, 2021: 1.599, 2020: 2.266). Damit überstieg die Zahl der Erledigungen die der Eingänge um 112 Verfahren. Von den erledigten Revisionen und Rechtsbeschwerden hatten unter Berücksichtigung der Zurückverweisungen 114 Erfolg, das entspricht einer Erfolgsquote von 19,13 Prozent gegenüber 25 Prozent (84 Sachen) im Vorjahr. Von den Nichtzulassungsbeschwerden waren 40 (4,82 Prozent - im Vorjahr 38, entsprechend 4,32 Prozent) erfolgreich.
Der Bestand lag bei Ende des Berichtsjahres bei 813 Sachen (Vorjahr: 925); davon sind 480 Revisionen (Vorjahr 758) – das ist der geringste Bestand seit mehr als zehn Jahren.
Dem Großen Senat des BAG, der bei unterschiedlichen Rechtsauslegungen eine einheitliche Entscheidung treffen muss, liegt derzeit keine Sache vor. Das heißt aber nicht, dass es keine Meinungsunterschiede gibt. Vielmehr möchte der Sechste Senat seine bisherige Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige aufgeben. Ein Verstoß gegen die entscheidende Norm § 17 Abs. 1, Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) soll danach in Zukunft nicht mehr zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Dies stünde allerdings im Widerspruch zur Rechtsauffassung des Zweiten Senats – daher hat der Sechste eine Divergenzanfrage gestellt. Der Zweite Senat hat daraufhin selbst einige Auslegungsfragen an den EuGH gerichtet – dieses Vorabentscheidungsersuchen ist noch in Luxemburg anhängig.
Jahresbericht des BAG 2023: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53991 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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