Das OLG Köln hätte einen schwerbehinderten Bewerber zum Vorstellungsgespräch einladen müssen. Dass man die Email mit der Bewerbung schlicht übersehen habe, sei keine Entschuldigung, so das BAG.
Dass man freie Stellen geschlechtsneutral ausschreiben muss und man nicht nach jungen oder alten Bewerbern suchen darf, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Ansonsten verstößt man gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern. Abgesichert wird das durch Entschädigungsansprüche des Diskriminierten. Vorgesehen sind Entschädigungssummen von bis zu drei Gehältern, selbst wenn sich der Bewerber im Auswahlprozess ohnehin nicht als Bester durchgesetzt und die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte.
Dabei erleichtern die strengen Beweislastregelungen in § 22 AGG die Geltendmachung solcher Entschädigungsansprüche ganz erheblich: Der Geschädigte muss nur Indizien einer Diskriminierung wie z.B. eine unzulässige Stellenausschreibung beweisen. Der Arbeitgeber kann dann zwar darlegen, dass keine Diskriminierung vorlag – in der Praxis gelingt dies aber nur in den seltensten Fällen. Liegen Indizien für eine Diskriminierung vor, sind AGG-Klagen in aller Regel erfolgreich.
Volles Postfach und Mitarbeiterfehler
Das zeigt sich letztlich auch in einem Fall, den das Bundesarbeitsgericht (BAG) jetzt entschieden hat (Urt. v. 23.1.2020, Az.: 8 AZR 484/18). Dabei sah es zunächst so aus, als habe der abgelehnte Bewerber mit seiner Klage kein Glück.
Der Mann hatte sich Anfang August 2015 auf eine vom Oberlandesgericht (OLG) Köln ausgeschriebene Stelle als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst beworben. In seiner Bewerbung wies er auf seine bestehende Behinderung und Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten hin. Im Rahmen des weiteren Bewerbungsverfahrens wurde er nicht berücksichtigt, insbesondere nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Hierzu wäre das OLG allerdings gesetzlich verpflichtet gewesen. § 165 S. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) IX verlangt von öffentlichen Arbeitgebern nämlich explizit, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch immer einzuladen, sofern die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt.
Das OLG lud den Bewerber hingegen nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein. Der machte daraufhin eine Entschädigung von drei Monatsgehältern der Stellenbesoldung eines Gerichtsvollziehers in Höhe von EUR 7.434,39 gegenüber dem OLG geltend. Weil sich das OLG weigerte und die Ansprüche zurückwies, klagte er.
Das OLG berief sich darauf, dass die Bewerbung durch ein "schnell überlaufendes Outlook-Postfach" sowie Ungenauigkeiten in den Absprachen der mit der Bewerbung befassten Mitarbeiter schlicht nicht in den Geschäftsgang gelangt und nur daher nicht berücksichtigt worden sei.
Diesen Fehler konnte das OLG auch genau erläutern: Es sei nämlich verabredet gewesen, dass eine Beschäftigte zunächst die ungelesenen Bewerbungs-Emails auszudrucken, zu erfassen und in den Geschäftsgang zu geben habe, während eine Kollegin sodann die Aufgabe gehabt habe, die als gelesen markierten Emails zur Entlastung des Eingangs-Postfaches in einen weiteren Ordner zu verschieben. Von dieser Absprache habe aber ein weiterer Beschäftigter nichts gewusst, der parallel dazu an seinem Computer die eingegangenen Bewerbungen gelesen habe. So seien diese Bewerbungs-Emails in den Ablage-Ordner des Email-Postfachs verschoben worden, obwohl sie noch nicht bearbeitet wurden. Nur deswegen und nicht wegen seiner Behinderung sei der Kläger unberücksichtigt geblieben und nicht eingeladen worden.
LAG: 1,5 Monatsgehälter Entschädigung
Das Arbeitsgericht (ArbG) Köln (Urt. v. 20.12.2017, Az. 2 Ca 1016/17) prüfte im Wege einer Beweisaufnahme, ob die geschilderten Prozesse des OLG zum Umgang von Bewerbungen durch die jeweiligen Zeugen bestätigt wurden. Zur Überzeugung des Gerichts stellte sich der Sachverhalt so dar, wie vom OLG vorgetragen. Daraufhin erklärte das Gericht, dem beklagten Land sei der Nachweis gelungen, dass ausschließlich andere Gründe als die Schwerbehinderung zur Benachteiligung des Klägers geführt hätten – nämlich vor allem die unzureichende Ausstattung und Organisation des öffentlichen Arbeitgebers.
Das vom Kläger angerufene Landesarbeitsgericht (LAG) Köln sah das jedoch anders. Es sprach dem Bewerber eine Entschädigung in Höhe von EUR 3.717,20, also der Hälfte des eingeklagten Betrags, zu. Der Entschädigungsanspruch nach dem AGG entstehe dem Grunde nach verschuldensunabhängig. Das Übersehen oder Verlieren einer Bewerbungsmappe oder einer Bewerbungs-Email sei kein sachlicher Grund, der Ansprüche ausschließen könne.
Deutliche Worte fand das LAG daher auch für die Speicherkapazitäten der Email-Postfächern des OLG, die bereits das ArbG richtigerweise als "suboptimale Ausstattung" charakterisiert habe. Hieraus folge nicht etwa die Entschuldigung des öffentlichen Arbeitgebers, sondern umgekehrt dessen besondere Verantwortung. Da ein GB Speicherkapazität zurzeit in IT-Verbrauchermärkten etwas über 2 Cent koste und die Speicherkapazität in Outlook für Emails im Bereich der Justiz bei ca. 300 MB pro Arbeitsplatz liege, würde eine Verzehnfachung des Speicherplatzes pro Arbeitsplatz weniger als 10 Cent kosten. Dies sei eine Größenordnung, die wirtschaftlich marginal und folglich mit Blick auf den öffentlichen Haushalt unbeachtlich sei.
Scheitere die Verwirklichung eines individuellen Anspruchs, dessen Ziel es ist, im öffentlichen Dienst – als Vorbild für den Rest der Arbeitgeber – die Benachteiligungen von Schwerbehinderten zu bekämpfen, an der Größe eines Emailpostfachs, so liege ein grundlegender Organisationsfehler vor, betonte das LAG.
Überhöht sei allerdings die eingeklagte Entschädigung von drei Gehältern. Vorliegend sei die Bewerbung nicht wegen der Behinderung unberücksichtigt geblieben, sondern lediglich wegen Organisationsfehlern. Das begründe einen Anspruch von nur 1.5 Bruttomonatsgehältern Entschädigung.
BAG: Email zugegangen, fehlende Kenntnisnahme irrelevant
Die Argumentation des Landesarbeitsgerichts überzeugte auch die höchsten deutschen Arbeitsrichter. Das BAG gab dem Bewerber nun ebenfalls Recht und wies die Revision zurück, so die Pressemitteilung des Gerichts (Urt. v. 23.1.2020, Az. 8 AZR 484/14).
Das beklagte Land hätte den Kläger als öffentlicher Arbeitgeber aufgrund dessen bestehender Schwerbehinderung bzw. der erfolgten Gleichstellung einladen müssen. Die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch habe die Vermutung begründet, dass der Kläger wegen seiner Gleichstellung mit einer schwerbehinderten Person benachteiligt wurde.
Diese Vermutung sah das BAG auch nicht als widerlegt an. Die Bewerbung sei – unstreitig - dem Land zugegangen. Dass daher trotz des Zugangs ausnahmsweise eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich war, sei nicht ersichtlich. Auch hinsichtlich der Höhe schloss sich das BAG dem Vorschlag der "goldenen Mitte" des LAG an und sprach dem Kläger nicht eine Entschädigung in Höhe von drei Gehältern, sondern anderthalb Gehältern nunmehr rechtskräftig zu.
Unabhängig von den Kuriositäten des Falles bleibt festzuhalten: Wenn Arbeitgeber AGG-Klagen vermeiden wollen, müssen sie auf zuverlässige unternehmensinterne Abläufe achten. Das gilt nicht nur für die Erstellung der Stellenausschreibung, die vorherige Erkundigung bei der Agentur für Arbeit nach geeigneten schwerbehinderten Bewerbern und ein diskriminierungsfreies Führen der Vorstellungsgespräche, sondern in gleichem Maße für eine sorgfältige Sichtung und Bearbeitung der eingehenden Unterlagen sowie für etwaige Rückmeldung an die Bewerber.
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM – Fuhlrott Hiéramente & von der Meden Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB - sowie Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in Hamburg.
BAG zu Benachteiligung von schwerbehindertem Bewerber: . In: Legal Tribune Online, 24.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39863 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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