BAG zur Massenentlassungsanzeige nach Betriebsstillegung: Zuständig bleibt die­selbe Arbeit­sa­gentur

Gastbeitrag von Alexandra Groth

25.03.2024

Wo muss ein Insolvenzverwalter die Massenentlassungsanzeige stellen, wenn das Unternehmen nicht mehr operiert? Das BAG entschied, worauf es in so einem Fall ankommt, und legte nicht dem EuGH vor. Das ist konsequent, erläutert Alexandra Groth.

Eine Flugbegleiterin der insolventen Air Berlin mit Service Base in Düsseldorf hat Ausdauer gezeigt: Nachdem das Bundesarbeitsgericht (BAG) die erste Kündigung gegen sie mit Urteil 14. Mai 2020 (Az. 6 AZR 235/19) wegen Verkennung des Betriebsbegriffs für unwirksam erachtete, ging die Frau auch gegen die zweite Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses durch den Insolvenzverwalter wegen der vollzogenen Stilllegung des Flugbetriebs vor. 

Auch hier ging es durch alle Instanzen, bis das BAG mit Urteil vom 8. November 2022 (Az. 6 AZR 16/22) entschied, dass die Nachkündigungen des Kabinenpersonals wirksam erfolgt waren. Die zweite Kündigung beruht auf einer erneuten Massenentlassungsanzeige des Insolvenzverwalters bei der Agentur für Arbeit in Düsseldorf, dem Ort der Service Base der klagenden Flugbegleiterin. 

Die Frau gab sich jedoch auch mit dieser Entscheidung des BAG nicht zufrieden und legte Nichtigkeitsklage beim BAG ein. Ihrer Ansicht nach verletzt die Entscheidung aus 2022 das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG). Das BAG hätte nach ihrer Auffassung die sich stellende Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen müssen, wie es dies bei den anderen Verfahren im Zusammenhang mit der Unwirksamkeit von Kündigungen aufgrund fehlerhaften Massenentlassungsanzeigeverfahrens zuletzt entschieden hatte (BAG, Vorlagebeschl. v. 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23 (A)). 

Kernfrage: Wo ist die Massenentlassungsanzeige zu stellen? 

Die Krux an der ganzen Sache: Es stellte sich bis zur Entscheidung des BAG vom vergangenen Donnerstag (Urt. v. 21.03.2024, Az. 6 AZR 45/23) die Frage, ob eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) auch dann noch bei der für den Ort des Betriebes zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten ist, wenn der Betrieb zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung wegen Stilllegung nicht mehr existiert bzw. zum Zeitpunkt der Entlassungen bereits langjährig untergangen ist. 

In seiner Entscheidung vom 8. November 2022 hatte der Sechste Senat des BAG mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 27.01.2005, Az. C-188/03 (Junk)) angenommen, dass aus dem Zweck des Anzeigeverfahrens folge, dass die Anzeige bei der Agentur der Arbeit zu erstatten ist, bei der es zu den innerhalb der Sperrfirst zu bewältigenden sozioökonomischen Auswirkungen kommt. 

 

Damit stellte das BAG in seiner Entscheidung aus 2022 maßgeblich auf den Betriebsbegriff im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) ab. Nach deren Grundgedanken treten die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen typischerweise am Sitz des Betriebes auf, dessen örtliche Gemeinschaft unmittelbar betroffen ist. Insoweit mache es für das Anzeigeverfahren von Massenentlassungen auch keinen Unterschied, ob der Betrieb noch existiere oder vollständig stillgelegt wurde, so das BAG 2022. 

Diese Entscheidung ist logisch: Wenn es auf einen noch bestehenden Betrieb zum Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige ankäme, könnten nie Nachkündigungen ausgesprochen werden. Bei solchen ist regelmäßig bereits der Betrieb eingestellt, wenn die neue Kündigung ausgesprochen wird. 

Verletzte Vorlagepflicht wird nicht durch Nichtigkeitsklage gerügt 

Es war demnach wenig überraschend, dass der Sechste Senat des BAG am Donnerstag – entgegen der Praxis aus den vergangenen bei ihm anhängigen Verfahren zur Thematik der Massenentlassungsanzeige – entschied, dass es einer Vorlage an den EuGH nicht bedürfe. Vielmehr kamen die Erfurter Richter zu der Auffassung, dass die Nichtigkeitsklage kein statthafter Rechtsbehelf für die Rüge der Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sei.  

Die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter ist stattdessen mit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geltend zu machen. Es bleibt abzuwarten, ob die gekündigte Flugbegleiterin auch diesen Weg noch einschlagen wird. Die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Frage des maßgeblichen Betriebsbegriffs im Sinne der MERL ist jedenfalls ausgiebig vom EuGH beleuchtet worden. 

Was ein "Betrieb" im Sinne der MERL ist 

Der EuGH hat bereits in zahlreichen Entscheidungen zum Betriebsbegriff der MERL Stellung genommen (so etwa Urt. v. 15.02.2007, Az. C-270/05; Urt. v. 13.05.2015, Az. C-392/13; Urt. v. 07.12.1995, Az. C-449/93).  

Entsprechend hat auch das BAG festgestellt: Ziel des Anzeigeverfahrens ist es, die Agentur für Arbeit in die Lage zu versetzen, die Folgen der Entlassung für die betroffenen Arbeitnehmer zu mildern (Urt. v. 21.03.2013, Az. 2 AZR 60/12). Dies könne örtlich nur dort sein, wo sich die Arbeitnehmer örtlich arbeitssuchend melden und den Arbeitsmarkt belasten.

Dementsprechend ist es naheliegend, auch bei einem bereits stillgelegten Betrieb örtlich auf die Agentur für Arbeit abzustellen, in deren Zuständigkeitsbereich der Arbeitnehmer ursprünglich im Betrieb tätig war, was das BAG im November 2022 auch so entschieden hatte. Dass sich der EuGH mit der Frage nun erneut hätte beschäftigen müssen, erschließt sich nicht. Sofern die klagende Frau Verfassungsbeschwerde einlegen sollte, bleibt abzuwarten, was das BVerfG hierzu sagen wird. 

Die wirklich wichtigen Fragen

Massenentlassungen stellen Arbeitgeber weiterhin vor die Herausforderung, dass mehrere unterschiedliche Betriebsbegriffe zu berücksichtigen sind. So gilt für Verhandlungen mit dem Betriebsrat zum Interessenausgleich und Sozialplan nach §§ 111 ff. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein anderer Betriebsbegriff als beispielsweise für die Durchführung der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG oder eben für das Anzeigeverfahren bei der Agentur für Arbeit nach § 17 KSchG. 

Interessanter und richtungsweisend bleibt die Frage, welche Auswirkungen formale Fehler im Rahmen von Massenentlassungen nach sich ziehen.  Im Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2024 (Az. 2 AS 22/23 (A)) spielt die wirkliche Musik.

Die Autorin Alexandra Groth ist Rechtanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin bei Oppenhoff. Sie ist spezialisiert auf Restrukturierungsthemen im Arbeitsrecht. 

Zitiervorschlag

BAG zur Massenentlassungsanzeige nach Betriebsstillegung: . In: Legal Tribune Online, 25.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54197 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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