BAG zur Information der Arbeitsagentur: Wann sind Mas­se­n­ent­las­sungen unwirksam?

Gastbeitrag von Jörn Kuhn

28.01.2022

Bei Massenentlassungen muss die Arbeitsagentur über die Einleitung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat unterrichtet werden. Handelt es sich dabei um ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB? Diese Frage hat das BAG dem EuGH vorgelegt.

Die Anzeige einer Massenentlassung ist für Unternehmen mit hohen formalen Anforderungen verbunden. Sie sind darauf angewiesen, penibel auf die Einhaltung aller Schritte zu achten, denn ansonsten ist die Unwirksamkeit aller Kündigungen zu befürchten. Die Arbeitsgerichte ersetzen in dem Bereich klar den Gesetzgeber.

Dies belegen aktuelle Entscheidungen aus dem Jahre 2021. Zunächst sorgte das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hessen für Aufsehen, nach der alle Soll-Angaben in der Anzeige nunmehr Muss-Angaben sind (Urt. v. 25.06.2021, Az. 14 Sa 1225/20). Jüngst ist dann mit der Entscheidung des LAG Düsseldorf das Massenentlassungsverfahren auch auf die verhaltensbedingte und personenbedingte Beendigung von einer Vielzahl von Arbeitsverhältnissen für anwendbar erklärt worden (Urt. v. 15.10.2021, Az. 7 Sa 405/21).

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich mit der Frage zu befassen, ob die nach § 17 Abs. 3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vorgesehene Unterrichtung der Agentur für Arbeit über die Einleitung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat wie auch § 17 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 KSchG ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB ist.

Mit seinem Beschluss hat das BAG zunächst keine Entscheidung getroffen, sondern die Angelegenheit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt (BAG, Beschl. v. 27.01.2022, Az. 6 AZR 155/21). Dieser soll zunächst klären, welchen Zweck die in Art. 2 Abs. UAbs. 3 der Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union (EU) vom 20. Juli 1998 (RL 98/59 EG - MERL) vorgegebenen Einbindung der zuständigen Behörde im Konsultationsverfahren hat. Erst danach kann die Norm des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG hinsichtlich der Frage ausgelegt werden, ob und inwieweit es sich um ein Verbotsgesetz handelt. In diesem Falle wäre die Kündigung unwirksam.

Betriebsbedingte Kündigung in der Insolvenz

In dem vom BAG zu entscheidenden Fall wurde ein Insolvenzverfahren über die Beklagte eröffnet, die ca. 190 Mitarbeitende beschäftigte. Da eine Sanierung scheiterte, traf die Gläubigerversammlung den Beschluss zur Stilllegung des Geschäftsbetriebs. Danach hatte der Sachwalter das Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren aufgenommen.

Der Interessenausgleich hielt fest, dass zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat eine Verständigung besteht, die das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG sowie weitere Beteiligungsrechte im Zusammenhang mit der Massenentlassung mit dem Interessenausgleich verbindet. Ferner wurde im Interessenausgleich festgestellt, dass dem Betriebsrat alle erforderlichen Auskünfte nach § 17 Abs. 2 KSchG erteilt worden sind und das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist. Zu diesen Auskünften zählen etwa die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie der Zeitraum der Entlassungen. Nach Abschluss der Verhandlungen stellte der Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit.

Der Kläger erhielt nach vorheriger Anhörung des Betriebsrats eine betriebsbedingte Kündigung und erhob Kündigungsschutzklage. Der Kläger, der auf der zum Interessenausgleich vereinbarten Namensliste aufgeführt war, griff die Kündigung in mehreren Punkten an. Im Besonderen sah er Fehler im Massenentlassungsverfahren. Weder sei eine rechtzeitige und ausreichende Information des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG erfolgt, noch sei die Mitteilung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG der Agentur für Arbeit zugeleitet worden. Das BAG sollte nun letztinstanzlich über die Wirksamkeit der Kündigung und die aufgeworfenen Fragen zum Massenentlassungsverfahren entscheiden.

Massenentlassungsverfahren bei Abbau einer größeren Anzahl von Arbeitsplätzen

Das Massenentlassungsverfahren ist durchzuführen, wenn es zum Abbau einer größeren Anzahl von Arbeitsplätzen kommt. Grundlage ist die MERL, die in Deutschland in §§ 17 ff. KSchG umgesetzt worden ist.

Unterschiedliche Begrifflichkeiten in der MERL und in den §§ 17 ff. KSchG sowie eine durch die Gerichte fortlaufende Ausweitung der gesetzlichen Regelungen der §§ 17 ff. KSchG über den Wortlaut hinaus machen es kaum noch möglich, ein rechtssicheres Massenentlassungsverfahren durchzuführen.

Der ursprüngliche arbeitspolitische Gedanke der §§ 17 ff. KSchG war es, dass im Falle von Massenentlassungen eine frühzeitige Information der Agentur für Arbeit erfolgen solle, um Arbeitsförderungsmaßnahmen vorzubereiten. Davon ist in der Praxis jedoch nichts mehr spürbar. Vielmehr ist das Massenentlassungsverfahren eine bloße materielle Hürde für den wirksamen Ausspruch von Kündigungen geworden.

EuGH: Bezugspunkt der Massenentlassung ist Ausspruch der Kündigung

Nachdem der EuGH in 2005 mit der Junk-Entscheidung (Urt. v. 27.01.2005, C-188/03) darauf abgestellt hat, dass die Massenentlassung als Bezugspunkt den Ausspruch der Kündigung und nicht den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat, wurde es konfus. Aus Arbeitgebersicht lag dann der Anfang vom Übel in der Entscheidung des BAG vom 22.11.2012 (Az. 2 AZR 371/11), mit der § 17 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2, 3 KSchG als Verbotsnormen im Sinne des § 134 BGB anerkannt wurden.

Zur Begründung führten die Richterinnen und Richter – übrigens: ohne Einbindung des EuGH – unter anderem Art. 6 der MERL an. Diese Vorschrift enthält die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Arbeitnehmern und Arbeitnehmervertretern ein Verfahren zur Durchsetzung der Vorgaben der Richtlinie zur Verfügung zu stellen. Dies müsse dahingehend ausgelegt werden, dass eine Kündigung nicht ausgesprochen werden dürfe, ohne dass das Massenentlassungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.

Wie können Interessenausgleich und Konsultation nebeneinander umgesetzt werden?

Ist im Unternehmen ein Betriebsrat vorhanden, so ist der Massenentlassungsanzeige zwingend ein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG vorzuziehen. Dieses Konsultationsverfahren ist Wirksamkeitsvoraussetzung für ein ordnungsgemäßes Massenentlassungsverfahren.

Man muss sicherlich kritisieren, dass dieses von der MERL vorgesehene Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern gänzlich entkoppelt von dem in Deutschland vorhandenen Interessenausgleich- und Sozialplanverfahren ins KSchG eingebettet wurde. In der Praxis kommt es daher häufig zu Fragestellungen, wie die unterschiedlichen Verfahren – Interessenausgleichsverfahren einerseits, Konsultationsverfahren andererseits – nebeneinander umgesetzt werden können. Aus rein formalen Aspekten müssen es zwei Verfahren sein, die aber im Kern auf das gleiche hinauslaufen: Beratung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über die Maßnahme – und in der Konsequenz auch über die betroffenen Beschäftigten.

Das Konsultationsverfahren ist in § 17 Abs. 2 KSchG geregelt. Die Ergänzung in § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG beinhaltet, dass die Agentur für Arbeit über die Aufnahme des Konsultationsverfahrens zu unterrichten ist. Genau dies war im entschiedenen Fall unstrittig nicht erfolgt.

Unterrichtung der Agentur für Arbeit als echte Regelung zum Arbeitnehmerschutz?

Das BAG will zunächst Klarheit über die Auslegung von Art. 2 Abs. UAbs. 3 der MERL zur Information der zuständigen Behörde im Rahmen des Konsultationsverfahrens durch den EuGH herbeiführen. Zwei unterschiedliche Möglichkeiten stehen im Raum: Entweder geht es sich um reine Information der Agentur für Arbeit als zuständige Behörde und diese basiert auf arbeitsmarktpolitischen Erwägungen. Es könnte sich aber auch um eine echte Regelung zum Arbeitnehmerschutz handeln. Das BAG deutet in der Pressemitteilung auch an, dass im letzteren Falle die Norm des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB ist.

Bis zur Entscheidung des EuGH müssen alle Arbeitgeber penibel auf die formalen Vorgaben des Massenentlassungsverfahrens achten. Außerdem gibt es weitere gesetzliche Unterrichtungspflichten, die zukünftig auf dem Prüfstand stehen.

So sieht vor allem § 2 Abs. 3 Nr. 4 SGB III eine frühzeitige Unterrichtung der Agentur für Arbeit bei geplanten Betriebseinschränkungen oder Betriebsverlagerungen vor. Wenn der EuGH die Unterrichtung dem Arbeitnehmerschutz zuordnet, wird das BAG mit der Entscheidung zu § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG wohl konsequent diese weitgehend unbekannte Norm des SGB III als Verbotsgesetz ansehen.

Der Autor Jörn Kuhn ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Oppenhoff & Partner, deren Fachbereich Arbeitsrecht er leitet. Er ist spezialisiert auf betriebliche Altersversorgung, betriebliche Mitbestimmung und Fremdpersonaleinsatz.

Zitiervorschlag

BAG zur Information der Arbeitsagentur: . In: Legal Tribune Online, 28.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47365 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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