Die SE ist attraktiv, weil ihr Mitbestimmungsstatus grundsätzlich vereinbart werden kann. Bei SAP aber wollen die Gewerkschaften ihre Sitze behalten und bekommen Unterstützung vom BAG. Patrick Mückl und Mareike Götte mit den Einzelheiten.
Ein wesentliches Attraktivitätsmerkmal der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea - SE) sind die Möglichkeiten, ihren Mitbestimmungsstatus in einer Beteiligungsvereinbarung zwischen Management und Mitarbeitern zu vereinbaren. Ob und welche Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsrat sitzen, ist trotz gesetzlicher Rahmenregeln in erster Linie Verhandlungssache.
Das gilt im Grunde auch für die Beteiligung von Gewerkschaften. Sie pochen allerdings häufig auf einen Sonderstatus in Form garantierter Aufsichts- bzw. Verwaltungsratssitze. Kein Störgefühl besteht offenbar selbst dann, wenn die Mitarbeiter des Unternehmens (mehrheitlich) nicht von ihnen überzeugt sind und in der Beteiligungsvereinbarung keinen Sonderstatus vorsehen wollen. Der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat zur Frage, wie weit die Vereinbarungsautonomie bei der Unternehmensmitbestimmung in der SE reicht, jetzt bei dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) nachgefragt (BAG, Beschl. v. 18.08.2020, Az. 1 ABR 43/18 (A)).
Vereinbarung: Keine Sitzgarantie für Gewerkschaften
Im entschiedenen Fall war die Arbeitgeberin (SAP) im Jahr 2014 von einer AG in eine SE umgewandelt worden. Da SAP bereits damals mehr als 10.000 Arbeitnehmer beschäftigte, galt für die Besetzung des Aufsichtsrats vor der Umwandlung das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG). Deshalb gab es einen 16-köpfigen Aufsichtsrat, paritätisch mit Vertretern der Anteilseigener und der Arbeitnehmer besetzt. Zwei Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer waren von Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt worden.
Seit der Umwandlung in eine SE gilt für die Aufsichtsratsbesetzung nicht mehr das MitbestG, sondern ausschließlich das SE-Beteiligungsgesetz (SEBG). Auf Basis des SEBG haben die von einem sog. besonderen Verhandlungsgremium vertretenen Mitarbeiter mit dem Vorstand eine Beteiligungsvereinbarung abgeschlossen. Danach verfügt SAP zunächst über einen 18köpfigen - paritätisch besetzten - Aufsichtsrat, bei dem ein Teil der auf die Arbeitnehmer entfallenden Sitze für von Gewerkschaften vorgeschlagene und von den Arbeitnehmern zu wählende Personen reserviert ist. Die Beteiligungsvereinbarung sieht aber die Möglichkeit einer Verkleinerung des Aufsichtsrats auf zwölf Mitglieder auf Vorschlag des Vorstands vor. In diesem Fall können die Gewerkschaften zwar Wahlvorschläge für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten; ein getrennter Wahlgang findet aber nicht statt. Es gibt also keine mittelbare Sitzgarantie mehr.
Hiergegen wandten sich die beteiligten Gewerkschaften: Die Regelungen über die Bildung des verkleinerten Aufsichtsrats seien unwirksam; sie verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG. Dort ist geregelt, dass unbeschadet sonstiger Vereinbarungen das nach der Umwandlung bestehende Ausmaß der Mitbestimmung dem vor selbiger „in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ zumindest zu entsprechen hat. Den Gewerkschaften müsse also weiterhin ein ausschließliches Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Sitzen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zustehen.
BAG will besonderes Wahlverfahren für gewerkschaftlich Vorgeschlagene
Die Vorinstanz hat das Begehren abgewiesen (Landesarbeitsgericht/LAG Baden-Württemberg, Beschl. v. 09.10.2018, Az. 19 TaBV 1/18). Der 1. Senat des BAG scheint dies nun anders zu sehen: Bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft müsse in der Beteiligungsvereinbarung ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer gewährleisten sein, so der Senat. Ob dieses Verständnis des SEBG mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zur SE-Arbeitnehmerbeteiligung 2001/86/EG (SE-RL) vereinbar ist, möchte das BAG durch den EuGH klären lassen. Diese Richtlinie enthält in Art. 4 Abs. 4 eine § 21 Abs. 6 SEBG entsprechende Regelung. Das BAG will vom EuGH wissen, ob sie dahin auszulegen ist, dass auch deutsche Besonderheiten der Unternehmensmitbestimmung wie garantierte Sitze für Gewerkschaftsmitglieder erfasst sind.
Wie das BAG seine Annahme einer aus § 21 Abs. 6 SEBG folgenden mittelbaren Sitzgarantie begründet, bleibt abzuwarten. Ausgehend vom derzeitigen Diskussionsstand sprechen die besseren Gründe gegen diese Bewertung.
Das LAG Baden-Württemberg hat sie als Vorinstanz sehr sorgfältig aufbereitet und lag damit auf der Linie der überzeugenden herrschenden Lehre. Dass das BAG nun Gewerkschaftsrechte auch in einem Fall sichern will, in dem die Mitarbeiter sie nicht wollen, erfordert gute Argumente. In Sicht sind sie bislang nicht.
BAG anders als Wortlaut und Teleologie
Nicht nur der Wortlaut des SEBG und seine Systematik sprechen dagegen, sondern klar auch teleologische Überlegungen: Der Schutzzweck der Richtlinie 2001/86/EG liegt nicht darin, die ("Macht-")Position von bestimmten Arbeitnehmergruppen zu stärken, erst recht nicht den Einfluss externer Gewerkschaften. Gesichert werden sollen die Beteiligungsrechte der unternehmensangehörigen Arbeitnehmer. Dies gilt umso mehr, als die Gewerkschaften bereits über die mögliche Beteiligung im besonderen Verhandlungsgremium ausreichend abgesichert sind (vgl. §§ 5 ff. SEBG).
Vor diesem Hintergrund wäre es bedenklich, wenn die Begründung im Wesentlichen auf eine in § 21 Abs. 6 SEBG "hineingelesene" ordnungspolitische Funktion des § 7 Abs. 2 MitbestG, in dem die Zusammensetzung des Aufsichtsrates geregelt ist, gestützt würde. Denn das nivelliert - letztlich innenpolitisch motiviert (Stärkung der inländischen Gewerkschaften) - die Verhandlungsfreiheit, die doch gerade durch die SE-RL und das SEBG geschaffene wurden. Gleichzeitig würde diese Sichtweise die wichtige außenpolitische Komponente der SE als supranationaler Gesellschaftsform, die nicht zwangsläufig nationale Besonderheiten beibehält, zurückdrängen.
Im vorliegenden Fall hätte diese Auslegung zudem das kuriose Ergebnis, dass den Mitarbeitern des betroffenen Unternehmens SAP eine Gewerkschaftsbeteiligung aufgedrängt wird, die sie - wie die Beteiligungsvereinbarung zeigt - nicht wollen.
Ausweichen auf andere Gründungsformen?
Die Attraktivität der SE unter deutscher Beteiligung wird international nicht steigen, sollte der EuGH dem BAG den von ihm vorgezeichneten Weg freimachen. Eine Folge der Bewertung des BAG kann zudem sein, dass Unternehmensleitungen mit der gewerkschaftsfernen Belegschaftsmehrheit - die es immer häufiger gibt - vermehrt andere, aufwändigere Gründungsformen als eine Umwandlung wählen, um eine aufgedrängte mittelbare Sitzgarantie für Gewerkschaften zu vermeiden. Für die Wahl des Wegs in die SE wird diese Überlegung jedenfalls eine Rolle spielen. Denn § 21 Abs. 6 SEBG betrifft nur die Gründung der SE durch Umwandlung (Formwechsel). Andere Gründungsformen sind nicht erfasst. Auch eine Analogie scheidet aus.
Unabhängig davon erwartet die Praxis mit Spannung, wie sich das BAG zu den Folgen unwirksamer Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung positionieren wird. Dazu existiert nämlich - soweit ersichtlich - noch keine Rechtsprechung. Inhaltliche Mängel führen zwar nach wohl h.M. in der Regel "nur" zur Unwirksamkeit der betreffenden Bestimmungen und damit nur zur Teilnichtigkeit der Beteiligungsvereinbarung. Die Regelung über die Teilnichtigkeit nach § 139 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wonach das gesamte Geschäft nichtig ist, falls es ohne den nichtigen Teil nicht geschlossen worden wäre, findet keine Anwendung, sodass die Parteien regeln können, was an die Stelle unwirksamer Bestimmungen treten soll. Fehlt es hieran, ist die Lücke nach allg. Grundsätzen zu füllen. Bestehende Beteiligungsvereinbarungen einer durch Umwandlung gegründeten SE sollten vorsorglich geprüft und ggf. eine Anpassung vorbereitet werden.
Für Unternehmen spannend wird ferner, wie die Rechtsprechung Handlungen eines ggf. gesetzeswidrig besetzten Aufsichtsrats einordnet. Naheliegend ist, die für deutsche Gesellschaftsformen entwickelten Grundsätze anzuwenden (vgl. Art. 10 SE-Verordnung). Geklärt ist das aber noch nicht.
Dr. Patrick Mückl ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Mareike Götte ist Rechtsanwältin im Fachbereich Employment & Pensions der Kanzlei Noerr LLP. Sie beraten und vertreten vom Standort Düsseldorf aus nationale und internationale Investoren und Unternehmen insbesondere bei (strategischen) arbeitsrechtlichen Re- und Umstrukturierungen.
BAG zur Sitzgarantie für Gewerkschaften in der SE: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42544 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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