Nach dem Attentat an Grundschule in Uvalde: Der schwie­rige Weg zu schär­feren Waf­fen­ge­setzen in den USA

Gastbeitrag von Rechtsanwalt Jürgen R. Ostertag

03.06.2022

Das Attentat, bei dem 21 Menschen, darunter 19 Kinder, erschossen wurden, hat in den USA erneut eine Debatte über das Waffenrecht in Gang gesetzt. Der in New York tätige deutsche Anwalt Jürgen Ostertag erläutert die komplexe Rechtslage.

Im Mittelpunkt steht der zweite Zusatzartikel, der 1791 in die US-Verfassung aufgenommen wurde, er lautet wörtlich: "A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed." Demnach darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht verletzt werden. Da die Verfassung unmittelbar nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten verfasst und der zweite Verfassungszusatz nur 15 Jahre später verabschiedet wurde, spiegeln die Bestimmungen das Ziel wider, die politische Macht gleichmäßig zwischen dem Volk, den Bundesstaaten und dem Bund zu verteilen und ihnen wechselseitige Kontrollmöglichkeiten einzuräumen.

Inzwischen dreht sich die Debatte insbesondere darum, ob der Text des Zusatzes ein individuelles verfassungsmäßiges Recht schafft, das Privatpersonen zum Besitz von Waffen berechtigt, oder ob das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, nur für die kollektive Selbstverteidigung gilt – und sich daher nur auf Kräfte erstreckt, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung handeln.

Nach der letztgenannten Lesart wäre es sowohl den Gesetzgebungsorganen der Bundesstaaten als auch des Bundes gestattet, den Besitz von Schusswaffen zu regulieren, ohne gegen ein Verfassungsrecht zu verstoßen. Versteht man ihn als individuelles Recht, ist eine Regulierung schwieriger.

Der Supreme Court entscheidet bald wieder über ein bundesstaatliches Gesetz zum Waffenbesitz

Während des gesamten 20. Jahrhunderts schien der Supreme Court als Oberstes Gericht eine Auslegung des Verfassungszusatzes im Sinne eines "kollektiven Rechtes" zu bevorzugen. Er vertrat die Auffassung, dass Privatpersonen, die Feuerwaffen besitzen, nachweisen müssen, dass ihr Besitz mit der "Erhaltung oder Effizienz einer gut regulierten Miliz" zusammenhängt.  Folglich verabschiedete der Kongress den Gun Control Act von 1968, der den Erhalt, den Besitz und den Transport von Schusswaffen, insbesondere durch verurteilte Straftäter, einschränkt.

Im Fall District of Columbia gegen Heller aus dem Jahr 2008 (District of Columbia v. Heller, 554 U.S. 570 (2008)) wandte sich der Supreme Court jedoch von der Auslegung des Grundrechts als "kollektiven Rechtes" ab und bevorzugte stattdessen die Auslegung des Grundrechts als ein individuelles Grundrecht. Er entschied, dass Privatpersonen ein verfassungsmäßiges Recht haben, Waffen, einschließlich Handfeuerwaffen, für rechtmäßige Zwecke wie zur Selbstverteidigung zu besitzen und zu tragen. Jedoch stellte die Mehrheitsmeinung klar, dass das Recht zum Waffenbesitz nicht unbegrenzt ist. So beinhaltet es nicht, eine beliebige Waffe auf irgendeine Weise und zu irgendeinem Zweck zu behalten und zu tragen. Der Supreme Court nannte Beispiele von traditionellen gesetzlichen Regelungen, die das Tragen und Besitzen von Waffen von Personen mit strafrechtlichen Verurteilungen und psychisch Kranken oder in sicherheitsrelevanten Lokalitäten wie öffentlichen Gebäuden sowie den Handel von Waffen regeln, welche mutmaßlich verfassungsgemäß sind. So gibt es auch eine Reihe von Bundesgesetzen die die Herstellung und den Verkauf von Waffen, den Handel und Transport von Waffen über Landesgrenzen, regeln, die Einholung von Führungszeugnisse beim Kauf von Waffen verlangen, und das unerlaubte Tragen von Waffen in Schulen verbieten.

2010 hat der Supreme Court das Grundrecht des zweiten Verfassungszusatzes mit seiner Entscheidung in McDonald gegen Chicago (McDonald v. City of Chicago, 561 U.S. 742 (2010)) weiter gestärkt. Er entschied, dass das Grundrecht, Waffen zu besitzen und zu tragen, gegenüber den Bundesstaaten von einzelnen Personen durchsetzbar sei. In der Praxis bedeutet die Entscheidung, dass Privatpersonen, Gesetze der einzelnen Bundesstaaten zur Regelung des Waffenbesitzes mit der Begründung gerichtlich anfechten können, dass sie ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzen.

Im Sommer 2022 wird die wichtigste Entscheidung des Gerichts zur Waffenkontrolle seit mehr als zehn Jahren erwartet: Im anhängigen Fall New York State Rifle & Pistol Association gegen Bruen wird der Supreme Court über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaates New York entscheiden, das von Einzelpersonen verlangt, einen triftigen Grund nachzuweisen, um eine unbeschränkte Lizenz zum Tragen einer Handfeuerwaffe zu erhalten.

Sollten die Richterinnen und Richter das New Yorker Gesetz kippen, würden die Möglichkeiten der Bundesstaaten, den Besitz und Gebrauch von Waffen zu regeln, weiter eingeschränkt.

Das Brady-Gesetz des Kongresses erfasst nur einen Teil von Waffenverkäufen

Angesichts der Haltung des Supreme Courts konnten die Bundesstaaten in den vergangenen Jahren Gesetze erlassen, die Einzelpersonen weitreichenden Zugang zu Schusswaffen gewähren – zugleich haben sich aber einige Bundesstaaten auch zu einer schärferen Regulierung entschlossen.

Die Gesetze in Texas gehören zu denen mit den wenigsten Beschränkungen. So gibt es kein Mindestalter für den Besitz von Schusswaffen. Straftäter können fünf Jahre nach ihrer Entlassung Waffen erwerben. Zudem gibt es in Texas keine Gesetze, die private Verkäufer verpflichten, bei der Übertragung einer Schusswaffe eine Zuverlässigkeitsüberprüfung durchzuführen, und keine Gesetze, die Sturmgewehre verbieten. Nach einem texanischen Gesetz aus dem Jahr 2021 ist es erlaubt, verdeckte oder im Halfter getragene Handfeuerwaffen an den meisten öffentlichen Orten ohne Waffenschein zu tragen, und Personen mit einem gültigen Waffenschein dürfen Waffen auf dem Universitätsgelände mit sich führen.

Im Vergleich dazu verbietet New York Angriffswaffen – das heißt automatische Waffen mit einem austauschbaren Munitionsmagazin – und verlangt Hintergrundüberprüfungen am Verkaufsort sowie Sondergenehmigungen für Personen, die eine Waffe in der Öffentlichkeit tragen wollen.  Kalifornien, das die strengsten Waffenkontrollgesetze der USA hat, verlangt von den Verkäufern, die Strafverfolgungsbehörden zu benachrichtigen, wenn eine Person versucht, Waffen zu kaufen, der der Kauf einer Waffe untersagt ist. Kalifornien schreibt auch vor, dass bestimmte Waffenkäufer vor dem Kauf einer Waffe eine Schulung absolvieren und eine bestimmte Zeit warten müssen, bevor sie einen Kauf abschließen können.

Der Kongress hat zwar Bundes-Waffenkontrollgesetze wie z.B. das Brady-Gesetz von 1994 erlassen, das beim Verkauf von Waffen durch von Bundesbehörden zugelassene Händler, eine Zuverlässigkeitsüberprüfung des Käufers vorschreibt. Jedoch weist doch die Bundes-Waffenkontrollgesetze Lücken auf. So schreibt das Bundesgesetz beispielsweise nicht vor, dass Händler eine Zuverlässigkeitsüberprüfung durchführen müssen, wenn ein Waffenkäufer eine staatliche Erlaubnis zum Erwerb oder Besitz von Schusswaffen vorlegt. Auch gilt das Bundesgesetz nicht für Privatverkäufer. Zudem gibt es verfassungsrechtliche Hindernisse: Nach dem zehnten Verfassungszusatz kann die Bundesregierung von den Bundesstaaten nicht verlangen, dass sie Bundesgesetze durchsetzen – daher sind die Beamten der Bundesstaaten nicht verpflichtet, die Einhaltungen der Bestimmungen des Brady-Gesetzes durchzusetzen.

Vorschläge zur Verfassungsänderung haben nie Fuß gefasst

Grundsätzlich könnte der Bund neue Gesetze zur Waffenkontrolle verabschieden. Gesetzesvorschläge werden in den Kongress eingebracht und dort im Repräsentantenhaus und im Senat debattiert. Anschließend stimmen beide Kammern des Kongresses über den Gesetzentwurf ab.

Um ein Gesetz zu verabschieden, muss es mit einfacher Mehrheit in beiden Kammern angenommen werden.  Ein einzelner Senator kann die Abstimmung über einen Gesetzesentwurf verzögern und damit gegebenenfalls die Verabschiedung des Gesetzes sogar verhindern. Dies kann nur überwunden werden, wenn 60 Senatoren für die Vorlage stimmen.

Wenn ein Entwurf beide Häuser des Kongresses passiert, wird er dem Präsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt. Der Präsident selbst hat nur begrenzte Möglichkeiten. Als Chef der Exekutive hat er keine Gesetzgebungsbefugnis und kann daher weder ein Verbot von Waffen erlassen noch strengere Kontrollen für den Erwerb von Waffen einführen. Ein Präsident kann Verwaltungsvorschriften zur Durchführung von Bundes-Waffenkontrollgesetzen erlassen, jedoch keine weiteren Maßnahmen ergreifen. Exekutivmaßnahmen können zudem von der nächsten Regierung wieder rückgängig gemacht werden.

Theoretisch könnte auch die Verfassung geändert werden. Das Verfahren zur Änderung der Verfassung ist aber kompliziert und langwierig. Seit der Ratifizierung im Jahr 1787 wurde die Verfassung nur 27-mal geändert. Eine Änderung kann durch eine Zweidrittelmehrheit der beiden Kammern des Kongresses oder, wenn zwei Drittel der Bundestaaten dies beantragen, durch eine zu diesem Zweck einberufene verfassungsgebende Versammlung vorgeschlagen werden. Die Änderung muss dann von drei Vierteln der Bundesstaaten befürwortet werden. Zwar haben einige Personen gelegentlich eine Aufhebung des zweiten Verfassungszusatzes gefordert. In Gesetzgebungskreisen hat dieser Vorschlag jedoch nie Fuß gefasst.

Jürgen R. Ostertag leitet die Praxisgruppe für deutschsprachige Mandanten bei Tarter Krinsky & Drogin LLP in New York. Er berät seit über 22 Jahren deutsche Unternehmen und Privatpersonen in US-Rechtsfragen. Er deutscher und amerikanischer Volljurist und sowohl in Deutschland als auch in den USA als Rechtsanwalt zugelassen.

Zitiervorschlag

Nach dem Attentat an Grundschule in Uvalde: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48648 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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