Die Verwaltungsgerichte platzen wegen der Asylverfahren aus allen Nähten. Nun kursieren Änderungsvorschläge zum AsylG. Sie sind in weiten Teilen ganz im Sinne der Verwaltungsrichter, erklärt der Präsident des BDVR, Dr. Robert Seegmüller.
LTO: Herr Dr. Seegmüller, die Fraktion der Bündnis90/Die Grünen hat kürzlich im Bundestag einen Entwurf zur Änderung des Asylgesetzes (AsylG) vorlegt. Zudem existiert ein zweiter Entwurf auf Initiative einiger Länder, der allerdings zuletzt kurzfristig von der Tagesordnung des Bundesrates abgesetzt worden war. Was sind die wesentlichen Elemente der Entwürfe und worin unterschieden sie sich?
Dr. Robert Seegmüller: Beide Entwürfe sind von der Zielsetzung getragen, schneller einheitliche Rechtsprechung in der Fläche sicherzustellen und dadurch vor allem die erste Instanz zu entlasten. Dazu sollen schon die Verwaltungsgerichte die Berufung und in vorläufigen Rechtschutzverfahren die Beschwerde zulassen können, wenn in dem Verfahren eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung entscheidungserheblich ist. Das haben beide Entwürfe gemein.
Der Entwurf im Bundestag geht noch einen Schritt weiter und will das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu einer Revisionsinstanz umbauen, in der entgegen aller Strukturen in unserem Rechtssystem die Richter am BVerwG fallübergreifende allgemeine Tatsachen klären können. Vorgesehen ist aber, dass diese Verfahrensregelung befristet ist.
LTO: Wie bewerten Sie als Präsident des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) diese Entwürfe?
Seegmüller: Der Entwurf des Bundestags betritt revisionsrechtliches Neuland. Er strebt aber keine Revolution, sondern nur eine sehr begrenzte, unseres Erachtens sinnvolle Fortentwicklung des Revisionsrechts an.
Bisher dienen Revisionsverfahren ausschließlich der Klärung von Rechtsfragen auf Grundlage eines von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalts. Die Parteien können zwar neben Verstößen gegen materielles Bundesrecht auch fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz rügen. Trifft dieser Vorwurf zu, führt dies aber regelmäßig nicht dazu, dass das BVerwG selbst den richtigen Sachverhalt ermittelt. Es schickt die Sache dann vielmehr an die Vorinstanz zurück.
Dieses Verfahren hat Schwächen, wenn ein und derselbe Sachverhalt – etwa die tatsächliche Situation in einem Staat – in vielen gleichgelagerten Fällen Ausgangspunkt für die Rechtsanwendung ist, wie etwa bei die Entscheidung über subsidiärem Schutz bei syrischen Flüchtlingen. Die Tatsacheninstanzen Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht ermitteln dann die tatsächliche Situation und leiten daraus eine Gefährlichkeitsprognose für den Kläger bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ab.
Sowohl die Feststellung der Tatsachen über die Situation im Herkunftsland, als auch die Ableitung der Gefährlichkeitsprognose ist Tatsachen- und nicht Rechtsfrage. Es kann daher auch bei ordnungsgemäßem Durchlaufen des Instanzenzuges vorkommen, dass zwei Obergerichte auf Grundlage desselben Tatsachenmaterials über einen Staat zu unterschiedlichen Einschätzungen der Gefährlichkeit der Situation im Herkunftsland kommen.
Schutzstatus derzeit vom Zufall abhängig
LTO: Welche praktischen Auswirkungen hat diese derzeitige Rechtslage?
Seegmüller: Diese Divergenz bei der Tatsachenbewertung kann das BVerwG mit seinem revisionsrechtlichen Instrumentenkasten derzeit nicht auflösen. Das führt dann beispielsweise dazu, dass in einigen Bundesländern nach der Rechtsprechung der dortigen Oberverwaltungsgerichte für die einfache Wehrdienstentziehung in Syrien Flüchtlingsschutz gewährt werden muss, in anderen nur subsidiärer Schutz gewährt werden darf. Der in ein und derselben Fallkonstellation zu gewährende Schutzstatus hängt damit auf einmal von der Zufälligkeit der Zuweisung des Klägers in das eine oder andere Bundesland ab.
Das ist aus unserer Sicht eine rechtsstaatlich auf Dauer unhaltbare Situation. Wir sehen wohl, dass damit die geltenden Prinzipien des Revisionsrechts, für die es gute Gründe gibt, in begrenztem Umfang fortentwickelt werden. Wir halten dies in dem begrenzten Umfang, den der Bundestagsentwurf vorsieht, für vertretbar.
LTO: Wird denn diese Änderung im System des Revisionsrechts tatsächlich zu weniger Verfahren bei den Verwaltungsgerichten führen?
Seegmüller: Davon gehen wir aus, denn uneinheitliche Rechtsprechung ist geradezu ein Magnet für neue Verfahren. Ist ein Prozess hingegen durch bundeseinheitliche Rechtsprechung und entsprechendes Verhalten durch die Behörden völlig aussichtlos, wird ein kaum ein Rechtsanwalt zu einem Prozess raten.
Angesichts unserer Belastung mit Asylverfahren brauchen wir dringend Maßnahmen des Gesetzgebers. Die Aufgabe, vor der wir derzeit stehen, ist wirklich riesig. Selbst wenn ab heute überhaupt keine neuen Verfahren mehr bei den Verwaltungsgerichten eingehen, könnten wir noch zwei bis drei Jahre unvermindert weiterarbeiten, ohne dass uns die Arbeit ausginge. Wir freuen uns daher über jeden Schritt des Gesetzgebers, der uns hilft.
Das Problem mit der Berufungsbegründung
LTO: Im Asylrecht gibt es weniger Rechtsmittel als in sonstigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren und zudem wird die Berufung oft nicht zugelassen. Woran liegt das?
Seegmüller: Im Asylrechtsmittelrecht fehlen zwei der fünf Zulassungsgründe: Möglich ist sie nur bei der Rüge eines Verfahrensfehlers, Abweichung von der Rechtsprechung eines oberen oder obersten Gerichts oder grundsätzlicher Bedeutung. Anders als im normalen verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann die Berufung dagegen nicht wegen besonderer Schwierigkeit des Falles oder wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel zugelassen werden.
Hinzu kommen die formalen Hürden für eine Berufungszulassung. Das Vorliegen der Zulassungsgründe muss vom Rechtsmittelführer dargelegt werden, d.h. erläutert bzw. erklärt. An dieser Verpflichtung zur Darlegung der Zulassungsgründe scheitern in der Praxis viele Anträge.
Für diese Begrenzung der Rechtsmittel gibt es aber gute Gründe. Sie verhindert, dass aussichtslose Rechtsmittelverfahren alleine mit dem Ziel betrieben werden, einen unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu verlängern und für die Dauer des Gerichtsverfahrens noch diejenigen Sozialleistungen zu beziehen, auf die eigentlich kein Anspruch besteht. Jede Überlegung zur Ausweitung von Rechtsmitteln im Asylprozessrecht muss diesen Punkt im Blick haben.
Uneinheitlichkeit ist Teil der Verfassung
LTO: Nach beiden Gesetzentwürfen soll der Verwaltungsrichter selbst die Berufung zulassen können, wenn er die Zulassungsgründe für gegeben sieht. Wie soll man sich das in der Praxis vorstellen? Wird der Flickenteppich der Rechtsprechung nicht zwangsläufig bleiben?
Seegmüller: Rechtsprechung ist wegen der von der Verfassung garantierten Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich. Mit einer gewissen Bandbreite von Rechtsprechungsergebnissen in vergleichbaren Fällen werden wir daher immer leben müssen. Das heißt aber nicht, dass wir uns mit dem derzeitigen Grad abfinden müssen. Die vorliegenden Gesetzentwürfe weisen insoweit in die richtige Richtung. Und ich denke, dass man Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung recht gut und schnell erkennen kann. Dafür wird häufig schon der Blick auf die im eigenen Dezernat anhängigen Fälle ausreichen.
Die Zulassung von Rechtsmitteln ist aber nur ein Schritt auf dem Weg zu besserer und einheitlicherer Rechtsprechung. Dazu kommen muss immer auch eine Partei, die das Rechtsmittel tatsächlich betreibt. Die Parteien denken in der Praxis aber nur daran, ob sie sich selbst von dem Rechtsmittel einen Vorteil versprechen. Es kann also geschehen, dass ein Fall, der aus gesamtgesellschaftlicher Sicht dringend höchstrichterlich entschieden werden müsste, mangels Interesse der Prozessparteien nicht zum Oberverwaltungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht gelangt.
Soweit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) betroffen ist, kommt es außerdem darauf an, ob dieses seine Fähigkeit verbessert, selbst bei einer Zulassung durch die erste Instanz überhaupt Rechtsmittel einzulegen. Das BAMF zeigt leider noch immer große Probleme bei der Prozessführung.
Im Zweifel weiter denken
LTO: Mit dem Gesetz zur besseren Durchsetzbarkeit der Ausreisepflicht von Juli 2017 wurde bereits die Sprungrevision nach § 78 Abs. 6 AsylG eingeführt. Eine einzige wurde gerade vom BVerwG entschieden. Warum sollten die nächsten Pläne mehr Effekte haben?
Seegmüller: Ich sehe den Effekt der Sprungrevision nicht so pessimistisch. Zum einen liegen nach meiner Kenntnis bei dem für Asylrecht zuständigen 1. Senat des BVerwG durchaus noch weitere Sprungrevisionen. Zum anderen gilt: Auch viele kleine Entlastungsbausteine zusammen können durchaus etwas an der Überlastung der Verwaltungsgerichte ändern.
Aber, das gebe ich gerne zu, es kann auch sein, dass wir irgendwann feststellen, dass die bis dahin ins Werk gesetzten prozessualen Maßnahmen noch nicht ausreichen. Dann müssen wir eben weiter denken und noch weitere prozessuale Schritte gehen. Denkbar wäre, beispielsweise die Institution des "Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten" wiederzubeleben, damit Rechtsmittel unabhängig von den Prozessparteien eingelegt werden können.
LTO: In den aktuellen Entwürfen ist so eine Funktion nicht vorgesehen. Glauben Sie, Sie haben genug Zeit, dieser Idee noch Nachdruck zu verleihen?
Seegmüller: Weitere Operationen am offenen Herzen des Prozessrechts müssen immer gut überlegt sein; insbesondere in einer Zeit, in der die Verwaltungsgerichte alle Hände voll damit zu tun haben, der Verfahren bei ihnen Herr zu werden. Denn jede Änderung des Prozessrechts löst erst einmal Umstellungsaufwand aus.
Was das Inkrafttreten der Entwürfe angeht, bin ich im Übrigen eher pessimistisch. Man muss zunächst einmal sehen, dass es sich um Entwürfe aus der Opposition des Bundestages heraus und von Ländern handelt, deren Regierungsparteien von den Regierungsparteien im Bund verschieden sind. Eine Mehrheit für die Gesetzentwürfe halte ich daher schon deswegen derzeit keineswegs für gesichert. Hinzu kommt, dass der Koalitionsvertrag im Bund im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts eigene Handlungsziele enthält. Auch dieser Umstand könnte dafür sprechen, dass die vorliegenden Gesetzentwürfe zunächst nicht beschlossen werden, sondern bestenfalls abgewartet wird, bis Gesetzesentwürfe der Koalition vorliegen, die die Handlungsziele des Koalitionsvertrags umsetzen. Am Wahrscheinlichsten ist also, dass erst einmal überhaupt nichts passiert.
Dr. Robert Seegmüller ist Vorsitzender des Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) und seit Oktober 2015 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Zuvor war er u.a. 15 Jahre als Richter am Verwaltungsgericht Berlin tätig, seine Kammer war für unter anderem für Ausländer- und Asylrecht zuständig.
Tanja Podolski, Interview mit dem BDVR-Präsidenten zu den AsylG-E: . In: Legal Tribune Online, 07.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28481 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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