So viel steht fest: Der Mindestlohn wird kommen. Im Detail sind jedoch noch viele Fragen offen, vor allem beim Ausschluss bestimmter Personengruppen. André Siedenberg skizziert die aktuelle Rechtslage mit ihren zahlreichen Einzelbestimmungen für verschiedene Branchen – und warnt davor, den flächendeckenden Mindestlohn durch zu viele Ausnahmen in einen Flickenteppich zu verwandeln.
Kaum hat sich die große Koalition vermeintlich auf einen Mindestlohn geeinigt, steht er auch schon in der Kritik. "Zu niedrig", klagt die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), "zu umfangreich", hört man etwa von der Parteispitze der CSU, die Ausnahmen unter anderem für Praktikanten, Ehrenamtliche und Saisonarbeiter durchsetzen möchte.
Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung könnten solche Ausnahmeregelungen bis zu ein Drittel aller Niedriglöhner betreffen. Dabei tun sich auch rechtliche Schwierigkeiten auf: Nach einem Gutachten, welches der wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Auftrag der grünen Politikerin Brigitte Pothmer erstellt hat, ist die Verfassungsmäßigkeit von Ausnahmeregelungen, insbesondere mit Blick auf Rentner und Studenten, zweifelhaft.
Die aktuelle Lage: Ziemlich zerfasert
Auch fernab verfassungsrechtlicher Erwägungen spricht viel dafür, den flächendeckenden Mindestlohn nicht zu sehr zerfasern zu lassen. Das wird schnell klar, wenn man sich die aktuelle Lage vor Augen führt. Bisher kennt das deutsche Rechtssystem eine erschreckend große Anzahl verschiedener Ansätze, um Mindestlöhne zu verankern, die im Wesentlichen durch das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) abgesteckt werden.
Dieses sieht bereits in seinem § 2 Nr. 1 Regelungen für einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn vor, wie ihn die Große Koalition anpeilt. Derzeit werden Mindestlöhne jedoch zum einen über die durch das AEntG für allgemeingültig erklärten tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen nach § 4 AentG und zum anderen über eine Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums nach § 11 AEntG festgesetzt. Ebenfalls mit Sonderregelungen wird die Pflegebranche in §§ 10 bis 13 AEntG einbezogen. Auf diese Weise werden für verschiedene Branchen einzelne (Lohn-)Bestandteile von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich erklärt.
Zudem existiert noch das Tarifvertragsgesetz (TVG), welches es ermöglicht, Tarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen, dass sie nicht allein die Festsetzung von Mindestlöhnen bezwecken, sondern vielmehr die Geltung von Teilen ausgehandelter Tarifverträge, samt ihrer Lohnbestandteile, für eine gesamte Branche anordnen.
Dinosaurier-Gesetze und reaktives Vorgehen der Politik
Neben diesen branchenbezogenen Mindestlöhnen unterliegt der gesamte Bereich der Zeitarbeit durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) eigenen Mindestlohnregelungen, die zunächst nach der Komplexität der Aufgaben des Zeitarbeitnehmers gestaffelt sind und zudem verschiedenen Branchenzuschlägen unterliegen. Dieser Mindestlohn stellt insoweit eine Besonderheit dar, als er nur sekundär von der Branche abhängig und in seiner Grundregelung tatsächlich für alle Zeitarbeitnehmer "allgemein" verbindlich ist.
Ein echter Dinosaurier ist daneben das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) von 1952 aus dem Kabinett Adenauer I, welches etwaige Lücken des TVG schließen sollte und - trotz Novellierung im Jahr 2009 - bis heute keine Anwendung gefunden hat. Schließlich ergänzt auch die Rechtsprechung das bestehende Gebilde der Mindestlöhne mit ihren Entscheidungen zur Sittenwidrigkeit nach § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).
All diese aktuell geltenden, zivilrechtlichen Möglichkeiten zur Anordnung eines Mindestlohns folgen weitestgehend einem Ansatz, welcher auf bestehende Missstände reagiert: In Branchen, in denen Löhne gezahlt werden, die hart an der Grenze zu Hartz IV rangieren (zum Beispiel Gebäudereinigung, Postdienstleistungen, Zeitarbeit), werden Tarifverträge mit "angemessenen" Lohnbestandteilen für allgemeinverbindlich erklärt, bzw. Bezahlungen unter gewissen Grenzen als sittenwidrig verboten.
2/2: Noch nicht kompliziert genug? Im öffentlichen Sektor gelten eigene Regeln
Zu diesen bundesweit gültigen, eher reaktiven Ansätzen gesellen sich in der letzten Zeit vermehrt Sonderregeln für öffentliche Aufträge, die präventiv ausgerichtet sind. Diese Regeln folgen aus der partiellen Gesetzgebungskompetenz der einzelnen Bundesländer für das Vergaberecht, die es ihnen erlaubt, Sozialkriterien im eigenen Land festzulegen.
Auf diese Weise wurden in den vergangenen Jahren Mindeststundenlöhne für öffentliche Aufträge festgelegt, die zwischen 8,50 Euro in Brandenburg und 9,18 Euro in Schleswig-Holstein rangieren. Dabei ist es unerheblich, welcher Branche der Auftrag zuzurechnen ist. Eine solche Regel existiert derzeit in zehn Bundesländern, was dazu führt, dass sich zu dem bereits vorhandenen System ein (inner-)deutscher Flickenteppich für öffentliche Aufträge gesellt, der durch einzelne, durch die Länder für verbindlich erklärte Tarifverträge im Bereich des ÖPNV, noch weiter ergänzt wird.
Diese Konstruktion ist vor dem Hintergrund der europarechtlichen Dienstleistungsfreiheit allerdings alles andere als unumstritten. Schon im Jahr 2008 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine ähnliche Regelung des niedersächsischen Vergabegesetzes, die noch direkt auf Tarifverträge abstellte, als unvereinbar mit den Grundfreiheiten abgelehnt (Urt. v. 03.04.2008, Az. C-346/06). Und auch das neuere Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalens (TVgG - NRW) liegt dem EuGH bereits zur Vorabentscheidung vor (Vorabentscheidungsersuchen der Vergabekammer Arnsberg v. 22.10.2013, Az. VK 18/13).
Flächendeckender Mindestlohn als Chance, das Chaos zu beseitigen
Diese föderalen Unterschiede machen nicht nur eine grenzüberschreitende Auftragsvergabe aufwändig und kompliziert. Sie verhindern auch die bundesweite Einführung einer vorwettbewerblichen Eignungsprüfung, die im Dschungel der vergaberechtlichen Vorschriften oft als Allheilmittel angesehen wird.
Die Zersplitterung der Mindestlohnlandschaft ist offensichtlich. Es gibt eine große Bandbreite von Branchen, Wirtschaftszweigen, Bundesländern und Sektoren, in denen teilweise Mindestlöhne gelten. Diese Masse an Vorschriften birgt für alle Teilnehmer am Wirtschaftsleben erhebliche Rechtsunsicherheit.
Ein flächendeckender Mindestlohn hat daher nicht nur das Potential, die wirtschaftliche Situation vieler Arbeitnehmer zu verbessern, sondern ist vor allem geeignet, die Widersprüche zwischen verschiedenen Bereichen des geltenden Mindestlohnsystems zu beseitigen. Dies gilt aber nur dann, wenn er wirklich flächendeckend und allgemeinverbindlich ist und nicht mit zahlreichen Ausnahmeregelungen das bestehende Flickwerk noch vergrößert.
Der Autor André Siedenberg ist Referent im Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen. Er ist vor allem mit dem allgemeine Vergaberecht und dem Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalens befasst.
André Siedenberg, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns: Dem Chaos ein Ende setzen . In: Legal Tribune Online, 31.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10851/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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