Die Geschichte Südafrikas hat den Apartheidbegriff geprägt. Mittlerweile wird Apartheid nahezu inflationär verwendet, um extreme Ungleichheit zu beschreiben. Eine Abgrenzung zum tatsächlichen Rechtsgehalt ist erforderlich, meint Lisa Wiese.
Apartheid ist ein aufgeladener Begriff, durchtränkt von Geschichte, Politik und Emotionen. Er weckt Bilder und Erinnerungen an Diskriminierung, Unterdrückung und Brutalität. Von Ungerechtigkeit, Privilegien, Rassismus, Widerstand und schließlich Befreiung. Überwiegend geprägt sind diese hervorgerufenen Assoziationen von der Geschichte Südafrikas.
Mittlerweile ist Apartheid aber nicht nur ein politisches Konzept, sondern auch ein Rechtsbegriff. Mit Verabschiedung der Anti-Apartheidkonvention 1976 wurde Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert und der völkerstrafrechtlichen Verfolgung (sofern innerstaatlich umgesetzt) unterstellt. Mit der Annahme des Rom-Statuts 1998 erlangte auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) die Gerichtsbarkeit über dieses Verbrechen. Bisher wurde allerdings noch kein Mensch (weder national noch international) wegen Apartheid strafrechtlich verurteilt. Einer der Hauptgründe ist die Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs.
Der Begriff ist vielschichtig und um zu ermitteln, wann der Apartheidvorwurf zu Recht erhoben wird, muss man die Definition abgrenzen und konturieren. Denn mittlerweile verwenden verschiedene Menschenrechtsbewegungen und die internationale Presse den Apartheidbegriff losgelöst vom südafrikanischen Kontext nahezu inflationär, was auch zu seiner populistischen Verformung geführt hat.
"Apartheid" beschreibt extreme Ungleichheit
In diesem Kontext soll Apartheid einen Zustand von extrem ungleicher oder ausgrenzender Behandlung in der Gesellschaft aufzeigen. Global Apartheid wurde beispielsweise verwendet, um das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und die soziale und wirtschaftliche Kluft sowie die Einkommensunterschiede innerhalb der Gesellschaften zu beschreiben.
In Lateinamerika bezeichnet man die Ausgrenzung von Frauen aus dem öffentlichen Leben als social Apartheid, während im Iran und Afghanistan von gender Apartheid die Rede ist. Die Europäische Flüchtlingspolitik wird neuerdings nicht nur in den Medien, sondern auch in der Rechtswissenschaft als Europe's Passport Apartheid bezeichnet, aufgrund der unterschiedlichen Behandlung der Geflüchteten je nach Herkunftsland. Saudi-Arabien und Katar fallen auf durch ihren diskriminierenden Umgang mit Gastarbeitenden, was medial sehr plakativ als arabic Apartheid benannt wird.
Apartheid als Rechtsbegriff
Abgesehen von der moralischen Beschreibung von extremer Ungleichheit, lässt sich Apartheid mit Hilfe bestehender Rechtsinstrumente (ICERD, Apartheid Convention, Rom-Statut) aber genauer definieren und ein konkreter Unrechtsgehalt abgrenzen. Die herrschende Meinung fordert hierfür auch keinen detaillierten Vergleich mit dem ehemaligen Apartheidregime Südafrikas. Der Begriff umfasst eine Politik und Praxis der Rassentrennung sowie die Begehung von unmenschlichen Handlungen mit dem Ziel, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten oder aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu beherrschen und zu unterdrücken.
Essenziell ist, und das unterscheidet Apartheid von anderen Formen der rassischen Diskriminierung, dass es die offizielle Politik eines Staates ist. Die Rassendiskriminierung muss gesetzlich sein, durch einen Legislativakt erlassen und durch Institutionen umgesetzt bzw. abgesichert werden. Ob auch die de facto-Etablierung eines rassistischen Regimes vom Apartheid-Tatbestand umfasst ist, ist umstritten. Schließlich soll sich ein Staat diesem Vorwurf nicht durch mangelnde Gesetzlichkeit entziehen können, wenn seine staatlichen Organe de facto rassische Unterdrückung und Diskriminierung ausüben, ohne gesetzlich dazu legitimiert zu sein.
Nach der Implosion des südafrikanischen Apartheidregimes 1992 nahmen die internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Form des staatlichen Unrechts jedoch rapide ab, weil man davon ausgegangen ist, dass Apartheid nirgendwo anders als im südlichen Afrika existiere und eine Überwachung insofern nicht mehr notwendig sei. Das führte dazu, dass die Anti-Apartheidkonvention bisher in ihrer Anwendung und Wirkung nahezu bedeutungslos blieb und "einer, der am meisten übersehenen und am wenigsten erforschten Menschenrechtsverträge" ist.
Wiederbelebung des Kampfes gegen Apartheid?
Institutionen, Menschenrechtsorganisationen und Ausschüsse beginnen zunehmend wieder, sich mit möglicherweise begangenem Apartheidunrecht auseinanderzusetzen und scheuen auch nicht vor rechtlichen Analysen zurück. Durch Diskussionen zum Inhalt des Apartheid-Tatbestands könnte in dieser Hinsicht mehr Klarheit geschaffen werden. Dies ist insofern zu begrüßen, als dass dadurch eine Art der Wiederbelebung des Kampfes gegen Apartheid angeregt wird. Denn – entgegen der oben geschilderten Annahme – kehrte mit dem Ende der Apartheidpolitik in Südafrika kein Zustand einer Apartheid-freien Welt ein.
Anlass zur Prüfung geben die Kastensysteme in Indien und Nordkorea (Songbun), die ihre Bevölkerung je nach Herkunft in verschiedene soziale Klassen bzw. Kasten einteilen und den Menschen je nach Klassenrang verschiedene Rechte und Privilegien zukommen lassen. Wer in Indien der untersten Kaste angehört (Mahar), einer Kaste der Unberührbaren, der Dalits, kommt nicht einmal in den Genuss – weder vor dem Gesetz noch in der Gesellschaft – als vollwertiger Mensch angesehen zu werden.
Dem UN-Vertragsüberwachungsorgan zum Anti-Rassendiskriminierungsabkommen (CERD) wurde neben Indiens eigenem Staatenbericht zur Umsetzung der Konvention, ein sogenannter "Schattenbericht" verschiedener Organisationen vorgelegt, der die mangelnde Umsetzung der Rechtspflichten aus der Konvention offenlegt.
Mittlerweile bekannt ist auch der Vorwurf, dass die Militär-Junta im Rakhine-Bundesstaat von Myanmar durch diskriminierende Gesetze, politische Maßnahmen und repressive Gewalt gegen die muslimische Volksgruppe der Rohingyia vorgeht – und zwar aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Religion. Dies komme dem Verbrechen der Apartheid gleich und verstoße gegen Völkerrecht.
Israelische Siedlungspolitik und Apartheid
Derzeit geht zudem der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Gutachtenverfahren der Frage nach, ob Israels seit fast 60 Jahren andauernde Besatzung palästinensischer Gebiete rechtmäßig ist. Dabei könnte es auch um den Vorwurf der Apartheid gehen, wie er von 20 Staaten (darunter Südafrika und Namibia) und drei internationalen Organisationen, die Stellungnahmen zum Verfahren abgegeben haben, erhoben wird. Für die israelischen Siedler und die Palästinenser in der Westbank gelten nämlich auf demselben Stück Land zwei verschiedenen Rechtsordnungen. Für Palästinenser gilt strenges Militär- und Besatzungsrecht mit starken Einschränkungen, während jüdische Siedler die staatsbürgerlichen Rechte des Staates Israels genießen.
Neben dem IGH beschäftigt sich auch der UN-Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination) mit dem Apartheidsvorwurf gegenüber Israel. Im Mai 2021 entschied er positiv über die Zulässigkeit einer Beschwerde Palästinas wegen Verstößen gegen das Anti-Rassendiskriminierungsabkommen (ICERD) u.a. gegen das Apartheidverbot in Art. 3. Der Ausschuss, der zwischen beiden Staaten vermittelt und eine gütliche Einigung erzielen soll, sah den Anscheinsbeweis (prima facie evidence) für das Bestehen einer allgemeinen Politik und Praxis der Rassendiskriminierung ("generalized policy and practice of racial discrimination") als gegeben an.
Bedeutung der Apartheid für Entwicklung der Menschenrechte
Wenn sich die genannten Staaten mit diesen Vorwürfen konfrontiert sehen, begegnen sie ihnen genauso, wie Südafrika das jahrelang getan hat. Sie machen geltend, es handle sich um die eigenen inneren Angelegenheiten des Staates und berufen sich auf ihre staatliche Souveränität. Damit ist auch der eigentliche Hemmschuh offenbart, der jahrzehntelang die Entwicklung von Menschenrechtsaktivitäten in den Vereinten Nationen behinderte: Die Klausel zur innerstaatlichen Zuständigkeit zum Schutz der staatlichen Souveränität, Artikel 2 Absatz 7 der UN-Charta.
Damals, im Kampf gegen die Apartheid Südafrikas, waren es die Länder des Globalen Südens, die diese Klausel gegen den Widerstand nicht nur Südafrikas, sondern auch seiner europäischen Unterstützer durchbrachen. Sie konfrontierten die Generalversammlung erstmals mit der Bedeutung von obligatorischen Sanktionen und Maßnahmen, die den Sport, die Kultur und Wissenschaft betrafen.
William Schabas beschreibt diese Auseinandersetzungen innerhalb der Vereinten Nationen anschaulich in seinem 2023 erschienen Buch "The International Legal Order´s Colour Line". Er schlussfolgert, dass die Geschichte der internationalen Menschenrechte oftmals die Bedeutung des Kampfes gegen die Apartheid übersehe. Häufig werde der fortschrittliche Beitrag der europäischen und anderen westlichen Staaten übertrieben. In Wirklichkeit seien es die westlichen Staaten gewesen, die die Menschenrechte aus wirtschaftlichen Interessen und imperialistischen Vorstellungen in den Vereinten Nationen lange Zeit stark behinderten.
Staatliches Systemunrecht aufarbeiten
Angesichts der auch heute noch bestehenden apartheidähnlichen oder tatsächlichen Praktiken in verschiedenen Regionen der Welt sollte – wenn sich der Vorwurf als begründet erweist – auf alle im Kampf gegen Apartheid bereits geschaffenen Rechtsinstrumente und Maßnahmen zurückgegriffen werden. Hierzu gehört beispielsweise ein Handelsboykott, der Abbruch diplomatischer Beziehungen, ein Waffenembargo und letztlich auch zivilgesellschaftlicher Widerstand.
Es sollte geprüft werden, ob das Überwachungsorgan der Anti-Apartheidkonvention, dem die Vertragsstaaten regelmäßig zur Einhaltung der Konvention berichten müssen, angesichts der jüngsten Entwicklungen wiederbelebt werden sollte. Außerdem sollte untersucht werden, ob obligatorische Sanktionen die effektive Durchsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen bestärken könnten.
Eine Gerichtsentscheidung, insbesondere zur individuellen strafrechtlichen Verantwortung, wäre ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung von staatlichem Systemunrecht. Sie würde auch die Geltung der Nürnberger Prinzipien bestärken, die für ein Ende der Straflosigkeit und von Verantwortungsdefiziten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen.
Lisa Wiese ist Volljuristin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht der Universität Leipzig.
Systemunrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54382 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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