Interview mit DAV-Präsidentin Edith Kindermann zum DAT 2020: "Auch ohne Corona-App in den Gerichts­saal"

Interview von Hasso Suliak

15.06.2020

An diesem Montag startet der erste rein virtuelle Deutsche Anwaltstag. Schwerpunkt ist "Die Kanzlei als Unternehmen" – doch auch der Umgang mit Corona, die Rechtsanwaltsvergütung und Strafrechtsverschärfungen beschäftigen die Anwälte.

LTO: Frau Kindermann, als Schwerpunktthema des Anwaltstages (DAT) hat sich der DAV dieses Jahr "Die Kanzlei als Unternehmen" ausgesucht. Im letzten Jahr ging es noch um den Rechtsstaat. Warum diese Hinwendung zu rein betriebswirtschaftlichen Aspekten?

Kindermann: Die Kanzlei ist zwar kein Unternehmen wie jedes andere und es geht auch um mehr als nur um Gewinn. Aber selbstverständlich müssen auch die Anwälte den unternehmerischen Aspekt mitdenken. Gerade die Coronakrise belegt, wie wichtig es ist, dass in Kanzleien Strukturen geschaffen werden, um derartige Stresszeiten zu bestehen.

Edith KindermannEs hat sich gezeigt, wie wichtig auch die digitale Vernetzung und ein reibungsloses Kanzleimanagement sind. Wie selbstverständlich haben sich beispielsweise Videokonferenzen und Online-Meetings etabliert, um auch ohne persönlichen Kontakt wichtige Termine wahrzunehmen. Ich bin froh, dass wir uns trotz Corona auf dem DAT in Webinaren und mit interaktiven Möglichkeiten intensiv austauschen können. Und beileibe nicht nur über Themen, die etwas mit Corona zu tun haben.

Das DAT-Programm ist an vielen Stellen geprägt von der Corona-Thematik. Es geht um virtuelle Gerichtsverhandlungen, mangelnden Einfluss der Parlamente und auch um die Corona-App. Diese wird nun parallel zum DAT von der Bundesregierung vorgestellt. Braucht es dafür eine gesetzliche Grundlage?

Die App kann ein Mittel sein, um Infektionsketten zu durchbrechen. Aber: Die Vorgaben und Rahmenbedingungen der App sollten gesetzlich geregelt sein. Nur so könnten diese nicht einfach durch eine neue Verordnung geändert werden.

Klar muss sein: Es darf keine Verpflichtung zur Nutzung der App geben, sie muss auf Freiwilligkeit beruhen und es darf nicht zu Nachteilen führen, wenn man die App nicht nutzt. Es muss klargestellt werden, dass man auch ohne App Zutritt zum Arbeitsplatz, zu öffentlichen Einrichtungen oder zum Gerichtssaal hat.

Außerdem muss es absolute Verwertungsverbote für alle mit der App erhobenen Daten geben.

In einem Corona-App-Gesetz müsste auch festgelegt werden, dass die App nur für den aktuellen Zweck der Pandemiebekämpfung genutzt werden darf. Ebenso sollte das Merkmal der "Freiwilligkeit" rechtssicher definiert werden.

"Digitale Zivilprozesse bieten Chancen"

Wie bewerten Sie etwa die Forderung des Richterbundes, in Zukunft vermehrt auf digitale Zivilprozesse zu setzen. Ich frage Sie auch als Familienrechtlerin: Gibt es nicht Verfahren, in denen die persönliche Präsenz der Beteiligten sehr wichtig ist?

Selbstverständlich. In Kindschaftssachen ist es kaum vorstellbar, ein Kind per Videoschalte zu befragen. Aber grundsätzlich können Videoverhandlungen durchaus Sinn machen und auch zur besseren Rechtsdurchsetzung beitragen.

In Bundesländern etwa, in denen das nächste Gericht vielleicht 60 km oder mehr entfernt liegt, verzichten Menschen auf ihren Rechtsschutz. Digitale Verhandlungen bieten hier große Chancen. Und mit den §§ 128, 128a der Zivilprozessordnung existieren ja bereits Vorschriften, die so offen formuliert sind, dass sie als gute Grundlage für online geführte Verfahren herhalten können. Aber natürlich gilt auch hier: Es kommt auf die konkrete Ausgestaltung an. Zum Beispiel muss der Grundsatz der Öffentlichkeit weiterhin gewährleistet sein.

Auf dem DAT wird es natürlich auch um ihr Leib und Magen-Thema, die Rechtsanwaltsvergütung gehen. Das BMJV hat uns am Donnerstag mitgeteilt, dass die Arbeiten  im Hinblick auf einen Referentenentwurf einer RVG-Reform noch nicht abgeschlossen sind. Wie traurig sind Sie, dass auf dem DAT noch keine konkreten Vorschläge diskutiert werden können?

Traurigkeit würde Energie bremsen. Aber zunächst mal muss ich ein großes Lob an das BMJV aussprechen. Ich weiß, dass an der überfälligen Gebührenanpassung für Anwälte im Haus von Frau Lambrecht intensiv gearbeitet wird und dieses Projekt nicht etwa wegen wichtiger gesetzgeberischer Corona-Maßnahmen auf Eis gelegt wurde. Ich bin insofern zuversichtlich, dass wir bald mit einem Entwurf rechnen können.

Anwaltsgebühren: "Angleichung an Tariflohn-Entwicklung überfällig"

Wenn der Entwurf dann da ist: Auf die Schlagzeilen, dass die Rechtsdurchsetzung dann für die Bürger teurer wird, haben Sie sich schon eingestellt?

Nun, es gibt inzwischen einen Grundkonsens zwischen den Vertretern der Anwaltschaft und den Bundesländern über Art und Umfang einer Gebührenanpassung zu beraten. Im Wege des Kompromisses mussten wir eine Anhebung der Gerichtsgebühren akzeptieren. Daran führt leider kein Weg vorbei. 

Bei der Gebührenanpassung für Anwälte geht es um eine längst überfällige Angleichung an die Tariflohn-Entwicklung der gewerblichen Arbeitnehmer. Es hat über Jahre keine Anpassung gegeben, deshalb wird sie vielleicht in der Öffentlichkeit dann, wenn sie kommt, stärker wahrgenommen, als die regelmäßigen Tarifanpassungen in anderen Branchen, an die man sich schon gewöhnt hat. Aber es bestehen auch keine Zweifel: Sie ist unvermeidbar.

Ein weiteres Thema, das auf diversen Veranstaltungen des DAT erörtert wird, ist Legal Tech. Wolters Kluwer hat gerade eine internationale Studie veröffentlicht, wonach Legal Tech-Anwendungen bei vielen Kanzleien noch nicht angekommen sind. Haben Sie Sorge, dass die Anwaltschaft in Deutschland die Entwicklung verschläft?

Nein, wir sind in Deutschland hier gut unterwegs und die Entwicklung wird sich auch noch beschleunigen. Und bei Vergleichen zur vermeintlichen Legal-Tech Errungenschaften im Ausland, darf man auch die Besonderheiten unserer Rechtskultur nicht ausblenden. Law Clinics wie in England, in denen vielfach Legal Tech-Anwendungen zum Einsatz kommen, sind für Menschen dort mitunter der einzige bezahlbare Weg, um an ihr Recht zu kommen. Bei uns machen sie keinen Sinn, da wir über ein System der Prozess- und Beratungshilfe verfügen, in dem Rechtsdurchsetzung bezahlbar bleibt.

Debatte um Kindesmissbrauch: "Strafverschärfungen nicht vordringlich"

Um Waffengleichheit mit Legal-Tech Anbietern herzustellen, fordern Berufsrechtler Veränderungsbedarf beim geltenden Verbot von Kapitalbeteiligungen an Anwaltskanzleien durch externe Investoren. Im November letzten Jahres hieß es aus dem DAV, es werde geprüft, "ob es Wege gibt, Investitionen in Kanzleien zuzulassen, die die Unabhängigkeit der Anwaltschaft nicht gefährden". Wie weit ist die Prüfung fortgeschritten?

Ich kann es an dieser Stelle sehr kurz machen: Wir lehnen nach wie vor Fremdkapital in Anwaltskanzleien ab.

Abschließend eine Frage, die jedenfalls den Strafrechtsausschuss im DAV wohl bald beschäftigen wird. Thema Strafverschärfung bei der Kinderpornografie und Kindesmissbrauch. Die Bundesjustizministerin vollführte vergangene Woche unglaubliche Pirouetten: Erst war sie gegen eine Strafverschärfung, nun soll sie sogar im Eiltempo kommen. Wie stehen Sie dazu?

Strafrecht ist immer ultima ratio, so auch bei dieser Thematik. Ich habe hier allerdings noch die große Sorge, dass bei der Diskussion um eine Erhöhung von Strafrahmen die Aspekte, die bei der Bekämpfung dieser schlimmen Taten viel wichtiger sind, unter den Tisch fallen. Unser Hauptaugenmerk sollte auf der Prävention liegen. Wie können wir die Jugendämter stärken? Und wie die Schulen und Kitas? Ich vermisse eine differenzierte Debatte. Strafverschärfungen jedenfalls sind nicht vordringlich.

Zitiervorschlag

Interview mit DAV-Präsidentin Edith Kindermann zum DAT 2020: . In: Legal Tribune Online, 15.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41892 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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