Am zweiten Prozesstag geht es nicht um die Mandantin, die es nie gab. Es geht um einen angeblichen Deal mit dem Strafverteidiger Mustafa Kaplan. Von diesem Vorwurf bleibt nicht viel übrig. Und es könnte weiter gut laufen für Ralph W.
Am zweiten Prozesstag gegen den Anwalt Ralph W. aus Eschweiler stand nicht der Aspekt im Mittelpunkt, dass W. den Staat um mehr als 216.000 Euro betrogen haben soll, indem er ein NSU-Opfer vertrat, das nie existiert hat. Die 9. Große Strafkammer am Landgericht (LG) Aachen beschäftigt sich zunächst mit dem "Komplex Loveparade-Verfahren".
Rund um das Großverfahren im Nachgang zur Loveparade-Katastrophe legt die Staatsanwaltschaft W. zwei Vorgänge zur Last. Verglichen mit der angeschuldigten Erfindung eines kompletten Opfers im NSU-Verfahren muten diese jedoch beinahe an wie Kleinigkeiten. Doch auch ein kleiner Vorwurf, der sich zu Beginn eines Strafverfahrens nicht halten lässt, kann die Stimmung zugunsten des Angeklagten für den weiteren Verlauf des Prozesses verändern. Der zeigt zudem tätige Reue, indem er mitteilen ließ, bereits hohe Rückzahlungen auf die vom Staat gezahlte Summe geleistet zu haben. Und die Beweislage gegen ihn wird auch zum Hauptvorwurf, dem angeblich erfundenen NSU-Opfer, dünner.
Beihilfe zu einer Haupttat, die nicht mehr verfolgt wird
Am Mittwoch ging es in Aachen darum, ob W. einem anderen Anwalt eine Geschädigte der Loveparade-Katastrophe "zuschob". Er soll, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, eine im November 2014 auf ihn ausgestellte Vollmacht von Jennifer F. auf den Kölner Strafverteidiger Mustafa Kaplan übertragen haben, der sich dann im Januar 2015 für sie bestellte. Am 12. Oktober 2015 legte Kaplan sein Mandat nieder. Laut Anklageschrift soll die Frau, Jennifer F., davon nichts gewusst haben. W. dagegen behauptet, er habe sie von Anfang an darüber informiert.
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat W. Beihilfe zum versuchten Betrug und zur Urkundenfälschung begangen, weil Kaplan versucht habe, ohne Mandat vom Staat eine Vergütung für seine Beiordnung zu beziehen. Indes: Diese Haupttaten von Mustafa Kaplan werden bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Köln nicht mehr verfolgt, das Landgericht (LG) Köln hat die Hauptverhandlung auch auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht eröffnet.
Rechtlich bleibt es trotzdem möglich, dass das LG Aachen zur Überzeugung kommt, dass es eine versuchte Haupttat gab, zu der Ralph W. Beihilfe haben leisten wollen. Faktisch aber bräuchte es für diese Überzeugung Tatsachen, auf die die Kammer unter der Leitung von Richterin Melanie Theiner ihr Urteil stützen könnte. Die einzigen Zeugen, die zu dem Komplex existieren, brachten solche Tatsachen am Mittwoch eher nicht. Aus Sicht von Verteidiger Peter Nickel hat die Vernehmung sowohl der Mandantin Jennifer F. als auch von Mustafa Kaplan ergeben, dass kein Strafvorwurf mehr im Raum stehe. "Es kann sich im besten Sinne um ein Missverständnis handeln", so Nickel.
Mandantin: "Vielleicht auch nicht zugehört"
Tatsächlich konnte die heute 28-jährige Erzieherin, die bei der Loveparade-Katastrophe dabei war, nicht ausschließen, dass Ralph W., ihr gesagt hat, dass er das Mandat an einen Kollegen übergeben werde. Das sei schon möglich, sagte F., vielleicht habe sie "da auch nicht zugehört".
Jennifer F., die sich nach LTO-Informationen schon in zwei polizeilichen Vernehmungen 2015 und 2016 unterschiedlich geäußert hatte, erinnerte sich heute nicht mehr daran, zweimal bei der Polizei gewesen zu sein. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie bei W. eine Vollmacht oder einen Antrag auf Prozesskostenhilfe ausgefüllt und unterzeichnet hatte. An einen zweiten Termin bei Ralph W., den sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung noch bestätigt hatte, hatte sie am Mittwoch ebenso wenig Erinnerung wie daran, wie sie danach eigentlich an einen weiteren, dann dritten Anwalt gekommen ist, der sie anschließend im Loveparade-Verfahren dann auch tatsächlich vertrat.
Auch die Vernehmung von Rechtsanwalt Mustafa Kaplan führte nicht zu mehr belastendem Material gegen Ralph W.. Der Kölner Strafverteidiger sagte vollumfänglich aus, obwohl ihm nach der Nichteröffnung der Hauptverhandlung in eigener Sache auch nach Ansicht von Gericht und Staatsanwaltschaft ein Auskunftsverweigerungsrecht zustand.
Anwalt: "Völlig gängige Praxis"
Rechtsanwalt W., den er aus dem NSU-Prozess kannte, habe ihn gefragt, ob man ein Anwaltsteam auch im Loveparade-Verfahren bilden wolle. Das sei unter Verteidigern und auch Nebenklagevertretern in Umfangsverfahren, die erwartbar viel Aufwand bringen, "gang und gäbe, eine völlig gängige Praxis", stellte Kaplan gleich mehrfach klar. W. habe ihm dann eine unterschriebene Vollmacht von Jennifer F. sowie andere Unterlagen mitgebracht und wohl auch erzählt, was dieser bei der Loveparade-Katastrophe passiert sei. W. habe ihm gesagt, mit Frau F. sei alles geklärt, alle drei würden zusammenkommen, wenn das Hauptverfahren eröffnet worden sei. Kaplan habe sich daraufhin bestellt und die Zulassung der Nebenklage beantragt.
Nachdem Anfang Oktober 2015 herauskam, dass es das von Ralph W. angebliche vertretene Opfer Meral Keskin im NSU-Prozess gar nicht gab, habe er mit W. telefoniert, um ihn zu fragen, wie es ihm gehe. "Ich hatte nie das Gefühl, dass Herr W. mich belügt", erklärte Kaplan auch noch, als Oberstaatsanwalt Witte insistierte, ob sich dieses Gefühl geändert habe, nachdem er erfahren habe, dass es das NSU-Opfer nie gab. Das Mandat für Jennifer F. im Loveparade-Prozess habe er wenige Tage später, Mitte Oktober 2015, vielmehr deshalb niedergelegt, weil F. sich weiterhin nicht auf seine Schreiben gemeldet habe, so Kaplan. Geklärt ist schon, dass es Probleme gab mit der postalischen Zustellung diverser Schreiben an Jennifer F., weil diese irgendwann im Laufe des Loveparade-Verfahrens umgezogen ist, ohne dass "ihrem" Anwalt, dem Angeklagten W., mitzuteilen. Nicht geklärt ist, wann das war.
So konnten die wohl einzigen Zeugen am Mittwoch keinen Vorsatz W.s belegen, durch Verschiebung eines Mandats bei einem Betrug zu Lasten des Staates behilflich zu sein. Ebenso wenig liegt bislang irgendein Motiv dafür auf dem Tisch, warum W. ein Mandat hätte verschieben sollen. Als Oberstaatsanwalt Burchard Witte gegenüber Mustafa Kaplan zumindest in den Raum stellte, ob nicht einmal darüber gesprochen worden sei, dass W. für die Vermittlung eines Mandats im Loveparade-Prozess vielleicht später mal eine Gegenleistung erhalten würde, fiel Kaplans Antwort deutlich aus: "Sorry, aber das ist wirklich Quatsch." Er wiederholte, dass die Bildung von Anwaltsteams "völlig gängige Praxis" sei.
Weitere wichtige Zeugin im NSU-Komplex verstorben
Am Mittwoch präzisierte W.s Verteidiger zudem, von den offenen rund 211.000 Euro, die W. als Honorar für die Vertretung der nicht existenten Meral Keskin im NSU-Prozess erhalten hat, seien, Stand Ende Juli, nur noch rund 145.000 Euro offen. Den Rest habe W., der im Verfahren schweigt, seit dem Jahr 2018 abgezahlt, zunächst in Raten von 5.000, danach in Raten von monatlich 1.500 Euro.
Für W. geht der Prozess bestmöglich los. Der Anwalt aus Eschweiler darf hoffen, dass es für ihn nicht nur in dem angeklagten Tatkomplex so gut läuft, der erwartbar derjenige ist, der am leichtesten in sich zusammenfällt, wenn man ihm keinen Vorsatz nachweisen kann. Im Ermittlungsverfahren hat er auch bezüglich des Hauptvorwurfs beteuert, selbst erst Anfang Oktober 2015 erfahren zu haben, dass es seine angebliche Mandantin nie gab. Auch dann hätte er nicht vorsätzlich gehandelt, also keinen Betrug begehen können.
Atilla Ö., der Mann, den W. für den Betrug verantwortlich macht, ist schon 2017 verstorben. Am Mittwoch teilte das Gericht nun mit, dass auch die türkischstämmige Frau, die Ö. dem Anwalt W. nach seinen Angaben als seine Mandantin Meral Keskin vorgestellt worden sei, vor wenigen Monaten verstorben ist. Die Beweismittel werden weniger. Und das Gericht müsste von seiner Schuld überzeugt sein. Es ist nicht an W., seine Unschuld zu beweisen.
Prozess gegen Anwalt, der NSU-Opfer erfunden haben soll: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42480 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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