Staatstrojaner und Vorratsdatenspeicherung weitgehend stilllegen, mehr Evidenz bei der Kriminalpolitik – die "Ampel" plant nicht weniger als eine innenpolitische Generalrevision. Dabei braucht es auch einen Kulturwandel, meint Luca Manns.
"Mehr Fortschritt wagen" – unter dieser wohl nicht bloß zufällig an die erste Regierungserklärung Willy Brandts im Jahre 1969 erinnernden Überschrift steht der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Das Kabinett Scholz hat mutige Pläne, auch im Bereich der inneren Sicherheit. So sei es notwendig, die Menschenrechte in der Polizeianwärterausbildung "noch intensiver" zu vermitteln, zudem sollen ein Polizeibeauftragter beim Deutschen Bundestag und die Kennzeichnungspflicht für Einsatzkräfte der Bundespolizei kommen.
In digitalen Räumen will das Parteienbündnis die Vorratsdatenspeicherung in ihrer heutigen Form sowie den Ankauf von Erkenntnissen über Sicherheitslücken zur Nutzung für sog. Staatstrojaner jedoch beenden. Darüber hinaus soll der Innen- und Sicherheitsbereich stärker für externe Forschung geöffnet werden. Eine "unabhängige interdisziplinäre Bundesakademie" soll für eine "evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik" sorgen. All dies sind begrüßenswerte Projekte, die mitunter allerdings eher kleinteilig anmuten.
Gesamt- statt Einzelfallbetrachtung
Dass das Bündnis sein Aufbruchsversprechen einlösen will, zeigt sich im Koalitionsvertrag vor allem an anderer Stelle. "Gemeinsam mit den Ländern wollen wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland einer Gesamtbetrachtung unterziehen", heißt es dort. Und weiter: "Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren. Deshalb erstellen wir eine Überwachungsgesamtrechnung."
Die bis spätestens Ende 2023 erfolgende "Gesamtbetrachtung" soll von unabhängiger wissenschaftlicher Seite erfolgen. Zudem will die Bundesregierung ein autonom agierendes Expertengremium mit dem programmatischen Namen "Freiheitskommission" einrichten, das den Bund künftig beraten soll. FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann wird dazu mit den Worten zitiert, sein Haus stünde mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) zwecks Durchführung der "Gesamtbetrachtung" in engem Austausch. Dies wäre in der Geschichte langer Rivalitäten zwischen zwei konfligierenden Ressorts eine überfällige Entwicklung.
Bürgerrechtsfreundliche Parteien
Politisch ist die beabsichtigte Rundum-Überprüfung naheliegend. Mit Freien Demokraten und Bündnisgrünen haben zwei Gruppen politischer Vertreter am Kabinettstisch Platz genommen, deren Parteien aus verschiedenen Beweggründen gesellschaftspolitisch liberale Positionen teilen. Hinzu kommt, dass das Vorhaben die Chance bietet, Entscheidungen der alten Bundesregierung an die gemeinsamen Ziele anzupassen. Allerdings wird gerne vergessen, dass es oftmals Koalitionen mit sozialdemokratischer Beteiligung waren, die heute als besonders scharf empfundene Instrumente der Eingriffsverwaltung geschaffen haben. Noch im vergangenen Sommer gestattete die SPD in der Großen Koalition auch den Nachrichtendiensten trotz rechtlicher Zweifel die Nutzung des sog. Staatstrojaners, während sie dessen Anwendung mit der "Ampel" inzwischen faktisch erschweren will.
Die Vorstellung, eben erst Errungenes möglicherweise grundlegend überarbeiten oder sogar darauf verzichten zu müssen, dürfte zudem im konservativ geprägten BMI auf begrenzte Gegenliebe stoßen. Spätestens seit der Amtszeit Horst Seehofers (CSU) – dem herzlich wenig Interesse an den vielen Fachaufgaben des komplexen Geschäftsbereichs "Innen" nachgesagt wurde – liegt die administrative Steuerung wesentlich in der Hand einiger Spitzenbeamter, deren Karrieren mit einem zu beobachtenden Vertrauensverlust teils eng verwoben sind.
Robuste Sicherheitshandwerker
Darunter ist zum Beispiel Hans-Georg Engelke, bislang mächtiger "Sicherheitsstaatssekretär" und unter anderem für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zuständig. Mit Aufdeckung der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" ("NSU") im Jahr 2011 war das jahrelange Versagen von Polizeien wie Nachrichtendiensten publik geworden. Erstere hatten Hinterbliebene schlecht behandelt und rassistische Tatmuster verkannt, Letztere aus gescheiterten strategischen Erwägungen heraus das Entstehen rechter Strukturen gar gefördert. Als dann noch systematische Aktenvernichtungen im BfV öffentlich wurden, entsandte das BMI zur Aufklärung ausgerechnet Engelke, der früher selbst langjähriger Beamter des Inlandsdienstes war. Sein Urteil lautete, zugespitzt formuliert: alles halb so wild.
Es sind solche Begebenheiten, die vielen Menschen Anlass dazu geben, den Innenbehörden mangelnde Transparenz und "Blindheit auf dem rechten Auge" vorzuwerfen. Der damit einhergehende Vertrauensverlust manifestierte sich zuletzt dadurch, dass auf die Enttarnung rechter Chatgruppen und die "NSU 2.0"-Drohschreiben allzu schnell wieder grundsätzliche Debatten um die Frage eines strukturellen Rechtsextremismus innerhalb der Sicherheitsorgane folgten. Damit ist zugleich ein Thema angesprochen, dem sich die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser als bürgerrechtsfreundliche, obgleich polizeiaffine Sozialdemokratin glaubhaft verschrieben hat.
Die personellen Beispiele lassen sich ohne Weiteres fortsetzen. Auf polizeilicher Seite etwa steht Dieter Romann für überaus robustes Staatshandeln. Der Bundespolizeipräsident wetterte 2015 offen gegen die Flüchtlingspolitik und holte einen Mordverdächtigen, dessen man mangels Auslieferungsabkommens im Irak nicht habhaft geworden war, kurzerhand per GSG9-Eskorte "freiwillig" zurück nach Wiesbaden. Ein bis heute guter Draht in das BMI wird auch einem Duzfreund Romanns nachgesagt, dem wegen rechter Äußerungen bekannten Hans-Georg Maaßen. Noch kurz nach seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, aufgrund der Debatte um ein Video, in dem der damalige BfV-Präsident "braune" Hetzszenen in Chemnitz bestritt, sprang ihm ein Vertreter des Innenministeriums zur Seite. Es war Maaßens Namensvetter Hans-Georg Engelke, der 2018 ein mediales "Zerrbild" beklagte.
Verschärfte Sicherheitslage
Um an dieser Stelle keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Die Ministerin scheint den Handlungsbedarf in ihren eigenen Reihen schnell erkannt zu haben. Berichten zufolge plant Faeser, Hans-Georg Engelke die Verantwortung für den Sicherheitsbereich zu entziehen, künftig soll er stattdessen im BMI die Heimatpolitik koordinieren. Noch härter könnte es Romann treffen, dem die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand droht. So wichtig und richtig diese Personalwechsel sind – der Blick auf einzelne Köpfe lenkt leicht ab von strukturellen Gegebenheiten.
Auch ohne Führung durch die bereits ausgewechselten oder nun vor der Ablösung stehenden Akteure dürfen viele der an zentralen Stellen verbleibenden Abteilungs-, Unterabteilungs- und Referatsleiter dem Maß an bürgerrechtsfreundlichen Ambitionen einer "Ampel"-Koalition wenig Sympathien entgegenbringen. Dies gilt insbesondere für die Abteilung Öffentliche Sicherheit des BMI. Hier machten Maaßen und Romann Karriere, hier konnte Engelke weitgehend durchregieren. Kein Zufall dürfte sein, dass weder der allseits geschätzte BKA-Präsident Holger Münch noch der amtierende Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang – ganz entgegen des Gebarens seines Vorgängers ein selbstkritischer Geist, der in seinem Amt einen Kurswechsel eingeleitet hat – auf einer Ehemaligenliste der Abteilung "ÖS" zu finden ist.
Kulturwandel schafft Vertrauen
Ein konsequenter Kulturwandel tut überdies deshalb Not, weil die anstehenden Aufgaben für die Sicherheitsbehörden alles andere als gering sind. Lagebewertungen zeigen, dass der islamistische Terror längst zur Dauerbedrohung geworden ist, in der linken Szene vermehrt Straftaten gegen Leib und Leben zu beobachten sind, ausländische Dienste mittlerweile offensiv Attentate auf deutschem Boden verüben und zuvörderst die Gefahren des Rechtsextremismus drohen. Klar ist daher: Deutschland braucht weiterhin wirksame Mittel im Kampf gegen Extremismus und Terrorismus. Fest steht aber auch: Manche Grenze sollte der demokratische Rechtsstaat enger ziehen und insbesondere mit Fehlern deutlich offener umgehen.
Nach den Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz (1 BvR 966/09) im Jahre 2016 und, vier Jahre später, zur nachrichtendienstlichen Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (1 BvR 2835/17) dürften die Verfassungsschutzbehörden bald noch stärker in den Fokus geraten. Die bayerischen Regelungen für den Inlandsdienst des Freistaats stehen in Karlsruhe bereits jetzt auf dem Prüfstand (1 BvR 1619/17). Hinzu kommt, dass Gruppierungen wie die Gesellschaft für Freiheitsrechte oder FragDenStaat mit ihrem offensiven Auftreten Veränderungen im Verhältnis zwischen Regierung und Bürger erzwingen wollen.
Abzuwarten bleibt, ob es der "Ampel" unter diesen Vorzeichen möglich sein wird, im Rahmen der angekündigten Neujustierung von Freiheit und Sicherheit einen konsequenten Kulturwandel durchzusetzen und die Sicherheitsverwaltung nach außen hin glaubhaft bürgerrechtsfreundlicher zu gestalten. Nicht zuletzt die progressiven Köpfe in Polizei und Nachrichtendiensten sollten dabei ein echtes Interesse haben, ihre Ministerin zu unterstützen. Gelänge neben einer Aufbruch versprechenden Durchführung der geplanten "Gesamtbetrachtung" auch ein Wandel in Ton und Stil, ließen sich nach den Plänen auch die Taten der neuen Bundesregierung mit Fug und Recht als mutig bezeichnen.
Luca Manns ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln (Prof. Dr. Markus Ogorek).
Ampel-Pläne zum Sicherheitsrecht: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47198 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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