Manche Anwohner träumten von einem Kiez ohne Durchgangsverkehr. Die zuständige Behörde teilte die Vision und stellte Poller auf – die das VG Berlin nun aber einkassierte. LTO liegen die Gründe vor, die ein praktisches Problem verdeutlichen.
Es ist eine Entscheidung, die angesichts der geltenden Rechtslage nicht überraschen kann: Das Berliner Verwaltungsgericht (VG) hielt die Aufstellung von Pollern in einer Durchgangsstraße im Eilverfahren für rechtswidrig (Beschl. v. 14.12.2023, Az. VG 11 L 316/23). Die Poller müssen daher abgebaut und der Nesselweg im Berliner Bezirk Pankow wieder für den Durchgangsverkehr freigegeben werden.
Das VG gab damit dem Eilantrag eines in Berlin wohnhaften Mannes statt, der laut Beschlussbegründung angab, den Nesselweg "in der Vergangenheit schon mehrfach befahren zu haben". Das reicht nach der Rechtsprechung, um gegen bauliche Maßnahmen in einer Straße vorgehen zu können, wie etwa gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen neben einer Schule oder eben gegen die Umsetzung des "Kiezblocks" im Pankower Nesselweg.
Der Traum vom Kiez ohne Durchgangsverkehr
Bei "Kiezblocks" handelt es sich um ein Projekt des Berliner Vereins Changing Cities, eine zivilgesellschaftliche Organisation, die sich für Radverkehr und nachhaltige Mobilitätskonzepte einsetzt. Ein Kiezblock beschreibt laut Aussage der Initiatoren ein "Wohngebiet ohne Kfz-Durchgangsverkehr". Diese Idee griff die zuständige Planungsbehörde, das Bezirksamt Pankow, auch für den Nesselweg auf. Die enge Straße, die zwei Hauptverkehrsstraßen miteinander verbindet und mitten durch ein Wohngebiet verläuft, könne den zunehmenden Durchgangsverkehr nicht mehr stemmen.
Um den Durchgangsverkehr zu verhindern, ließ das Bezirksamt etwa in der Mitte zwischen den beiden Hauptstraßen Poller aufstellen, die den Nesselweg für Autofahrer in zwei Teile splittete – eine Sackgasse und eine U-förmige Fast-Sackgasse. Für Radfahrer und Fußgänger blieb der Nesselweg eine ununterbrochene Achse.
Zur Begründung führte das Bezirksamt zum einen an, die Anwohner hätten mehrheitlich für das Projekt gestimmt. Zum anderen sei die Maßnahme aus Gründen der Sicherheit notwendig. Die durchfahrenden Autos seien häufig schneller unterwegs als die vorgeschriebenen 30 Stundenkilometer. Wegen der geringen Straßenbreite und der vielen parkenden Autos würden Durchfahrer oft auf die Gehwege ausweichen, die sich "in einem beklagenswerten Zustand" befänden. Das wiederum gefährde Kinder auf dem Weg zur Schule oder in die Kita. Weiterhin begründete die Behörde die Maßnahme damit, den Straßenuntergrund vor (weiteren) Schäden zu schützen sowie mit dem Schutz der Anwohner vor Lärm und Abgasen.
VG: "Bloße Behauptungen" rechtfertigen keine Verkehrsregelungen
Das überzeugte das VG Berlin nicht. Das Pankower Bezirksamt habe keinen der in Betracht kommenden Ermächtigungstatbestände des § 45 Straßenverkehrsordnung (StVO) hinreichend dargelegt. Das gilt zunächst für die speziellen Ermächtigungsnormen des Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 3 (Maßnahmen zur Verhütung außerordentlicher Schäden an der Straße bzw. zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen).
Das Bezirksamt habe "nicht substantiiert dargelegt und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass im Nesselweg bereits erhebliche Straßenschäden bestünden, die über gewöhnliche Verschleißerscheinungen hinausgingen", so das VG. Nicht belegt sei die Diagnose der Bezirksverordnetenversammlung, die Straße sei in "beklagenswertem Zustand". Auch die übrigen vom Bezirksamt vorgetragenen Umstände, wie etwa eine etwaige Nutzung des Nesselwegs durch Lkw, "erschöpfen sich" laut VG "in bloßen Behauptungen".
Die gleiche Strenge legte das Gericht beim Lärm- und Abgasschutz an: Dass die einschlägigen Immissionsgrenzwerte im Nesselweg überschritten werden, habe das Amt nicht dargelegt. "Örtliche Messungen haben offenbar nicht stattgefunden."
Auch auf die allgemeine Ermächtigungsgrundlage des § 45 Abs. 1 S. 1 StVO stütze die Aufstellung der Poller nicht. Demnach sind Beschränkungen und Umleitungen des Verkehrs "aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung" zulässig. Diese Rechtsgüter müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts konkret und nachweislich gefährdet sein. Die materielle Darlegungs- und Beweislast liegt beim Staat, stellte das VG klar. Die Behörde müsse "die zugrundeliegenden Umstände ermitteln, dokumentieren und aktenkundig machen".
Wünsche der Anwohner sind irrelevant
Insofern hat sich das Bezirksamt nach Auffassung des Gerichts nicht mehr Mühe gemacht als bei den vorherigen Erwägungen. Dass die Splittung des Nesselwegs in zwei Teilstücke zur Sicherung des Schulwegs erforderlich sei, kritisierte das VG als eine "pauschale Erwägung". Sie sei "zum Beleg einer konkreten Gefahr ungeeignet". Auch dass die Autos hier überdurchschnittlich oft zu schnell führen, ergebe sich aus den Verkehrsstatistiken nicht, worauf die Polizei im vorliegenden Fall auch hingewiesen habe.
Dass die Anwohner für eine verkehrsberuhigende Maßnahme votieren, spielt nach der Rechtsprechung für die Zulässigkeit der Maßnahme keine Rolle. Denn das "reicht für die Annahme einer zwingenden Gebotenheit i.S.d. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO [...] nicht aus", so das VG unter Verweis auf einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.
Im Pankower Nesselweg müssen die Poller nach dem Berliner VG-Beschluss nun innerhalb von zwei Wochen nach Rechtskraft zurückgebaut werden. Rechtskräftig ist die Entscheidung noch nicht, wie das Gericht auf LTO-Anfrage mitteilte. Noch kann das Land Berlin Beschwerde einlegen, über die dann das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschiede. Angesichts der dünnen Begründung dürften die Erfolgsaussichten aber gering sein.
"Die Poller am Nesselweg sind eine Einzelaktion und verwaltungstechnisch unsauber umgesetzt", räumte auch die "Kiezblock"-Initiative am Mittwoch ein. Die Initiatoren betonten aber zugleich, dass man einen Kiezblock nicht nur mit Durchgangssperren in Gestalt von Pollern erreichen könne. Sie sehen in der Entscheidung daher keine Auswirkungen auf andere Projekte.
§ 45 StVO seit Jahren in der Kritik
Der strenge Maßstab, den das VG Berlin vorliegend angelegt hat, ergibt sich nicht allein aus § 45 Abs. 1 StVO, sondern auch aus Abs. 9. Dieser stellt für alle Verkehrsschilder zusätzliche Anforderungen auf: Regelnde Anordnungen sind nur dort zulässig, "wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist". Noch eins obendrauf setzt der dortige Satz 3, welcher für "Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs" eine besondere Gefahrenlage fordert – eine, "die das allgemeine Risiko […] erheblich übersteigt".
Aus diesen drei Normen zusammen ergeben sich die strengen Darlegungsanforderungen. Für die Praxis der Straßenverkehrsbehörden stellen sie eine erhebliche Hürde dar: Zebrastreifen, Tempolimits sowie Radwege und verkehrsberuhigte Bereiche dürfen Kommunen nur anordnen, wenn sie eine konkrete Gefahr an der jeweiligen Stelle nachweisen. Weder dürfen sie den fließenden (Auto-)Verkehr allein aus Gründen des Umwelt- oder Gesundheitsschutzes oder der städtebaulichen Entwicklung beschränken. Noch genügt es – wie der Fall Nesselweg deutlich zeigt –, Lärmbelästigungen oder Sicherheitsrisiken zu behaupten, ohne dies durch Verkehrszählungen, Feinstaubmessungen oder Unfallstatistiken zu belegen.
Diese Rechtslage kritisieren Mobilitäts-, Umwelt- und Fahrradverbände seit Jahren. Denn sie bewirkt, dass an vielen Straßen und Kreuzungen gar nichts passiert, weil die Behörden unsicher sind. Oder dass innovationsfreudigere Behörden – wie hier – die ergriffenen Maßnahmen kostspielig zurückbauen müssen.
Nach Scheitern im Bundesrat: vorerst keine Reform der StVO
Dabei hatte die Bundesregierung im Koalitionsvertrag versprochen, die Verkehrswende anzugehen. Einen ersten Schritt machte sie im Juni: Das Kabinett beschloss eine Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). In dessen § 6, der Verordnungsermächtigung für die StVO, sollten die Ziele der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs um die Ziele Klima-, Umwelt-, Gesundheitsschutz und städtebauliche Entwicklung erweitert werden. Im Oktober einigte sich die Ampel dann auch auf Änderungen im für die Behördenpraxis maßgeblichen § 45 StVO.
Obwohl diese nach einer LTO-Analyse weit von einer großen Reform entfernt waren, scheiterte die Novelle im November überraschend im Bundesrat: Auf Hinwirken der CDU/CSU stoppten die von der Union (mit-)regierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie der rot-grüne Hamburger Senat das Vorhaben. Die bayerische Staatsregierung begründete ihr Nein laut einem Bericht der SZ – inhaltlich durchaus zutreffend – mit Ungenauigkeiten in den vorgeschlagenen Gesetzes- und Verordnungstexten.
Allerdings hatte der Bund die geplante Reform, wie üblich, vor der Bundesratsabstimmung mit den Ländern koordiniert. Das betonte auch das Bundesverkehrsministerium (BMDV) auf LTO-Anfrage. Den Vermittlungsausschuss anzurufen, sei daher nicht sinnvoll, solange die blockierenden Landesregierungen nicht kommunizierten, was sie konkret einfordern. Bis dahin herrscht Stillstand.
In § 45 StVO bleibt also in absehbarer Zukunft alles, wie es war – ebenso auf vielen Straßen und Kreuzungen.
Mit Material der dpa
Red. Hinweis: Stellungnahme des BMDV wurde nachträglich (17:28 Uhr) hinzugefügt.
"Kiezblock"-Beschluss des VG Berlin: . In: Legal Tribune Online, 05.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53565 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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