Innerhalb von zehn Tagen hat der Supreme Court sechs Urteile gefällt, die wie ein Brennglas den Wandel seiner Rechtsprechung von libertär zu erzkonservativ aufzeigen. Benedikt Gremminger ordnet die Urteile ein und blickt nach vorn.
Ende Juni herrscht unter amerikanischen Verfassungsrechtlern noch einmal Höchstbetrieb: Traditionell verkündet der Supreme Court – gleichzeitig der oberste Bundesgerichtshof und das Verfassungsgericht der USA – dann noch einmal auf einen Schlag eine ganze Reihe an Entscheidungen, bevor sich die neun Richter in ihre mehrmonatige Sommerpause verabschieden.
Daher erfolgten vor zwei Wochen gleich eine Reihe von richtungsweisenden Entscheidungen des Supreme Court, meist geschrieben von den sechs als konservativ geltenden, da von den Republikanern bestimmten, Richtern. Zuletzt konnte Donald Trump in seiner Amtszeit drei Richter nominieren (Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett), wodurch sich die ideologische Zusammensetzung des Gerichts in nur wenigen Jahren massiv verändert hatte.
21. Juni: Religiöse Privatschulen müssen Staatsgelder erhalten
Den Auftakt dieser historischen zehn Tage machte die Entscheidung Carson v Makin am 21. Juni. Hintergrund des Falls war eine Regelung im Bundesstaat Maine, die Subventionen für säkulare Privatschulen in abgelegenen Regionen des Staates vorsah, die gleichen Subventionen aber konfessionellen Privatschulen verweigerte. Die Mehrheitsentscheidung von Chief Justice John Roberts erklärte diese Regel zu einem Verstoß gegen den 1. Zusatzartikel der Verfassung, der unter anderem auch die Religionsfreiheit garantiert. Damit setzt die konservative Mehrheit ihren seit einigen Jahren andauernden Kurs der Stärkung der Religionsfreiheit zu Lasten eines säkularen Staats fort, und erweitert dabei sukzessive auch den Zugang von Religionsgemeinschaften zu öffentlichen Mitteln.
Die als liberal geltenden Richter Stephen Breyer und Sonia Sotomayor gingen die Entscheidung in ihren Sondervoten dagegen scharf an und kritisierten sie als Zertrümmerung des wall of separation zwischen Kirche und Staat, der in der vorherigen Rechtsprechung des Gerichts eine relativ scharfe Trennung von religiösen Tätigkeiten und staatlichem Handeln vorsah. Liberale Gerichtsbeobachter der Entscheidung gingen zum Teil sogar weiter und kritisierten die Verpflichtung des Staates zur finanziellen Gleichbehandlung von nichtkonfessionellen und konfessionellen Privatschulen als grundsätzlichen Angriff auf eine säkulare Gesellschaftsordnung. Untermauert wurde diese Sorge durch eine zeitgleiche Enthüllung der New York Times, wonach die betroffenen Schulen, die die gleiche staatliche Förderung verlangten, aktiv gegen die LGBTQIA-Community und Nichtchristen diskriminierten.
23. Juni: Tragen von Waffen im öffentlichen Raum erlaubt
Nur zwei Tage nach Carson v Makin kam mit der Entscheidung New York State Rifle & Pistol Assn., Inc. v Bruen der nächste Paukenschlag. Mit der gleichen konservativen 6-3 Mehrheit erklärte das Gericht ein über 100 Jahre altes Waffengesetz im Bundesstaat New York für verfassungswidrig. Dieses hatte besagt, dass das Tragen von kleineren Schusswaffen in der Öffentlichkeit nur mit einer Lizenz und einer besonderen Begründung zulässig sei. In einer umstrittenen historischen Auslegung setzte Clarence Thomas, dienstältester Richter am Supreme Court, Einschränkungen des Rechts zum Tragen von Waffen (2. Zusatzartikel) enge neue Grenzen. Insbesondere müssten Beschränkungen dieses Rechts vergleichbar zu den Einschränkungen des Waffenrechts zur Zeit der Ratifizierung des 2. Zusatzartikels (1791) und des 14. Zusatzartikels (1868) sein. Hierzu führte Justice Thomas dann aus, dass zu diesen Zeiten das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit gerade nicht verboten war. Gleichzeitig waren auch Lizenzierungen zur Führung von kleineren Schusswaffen unüblich, sodass vergleichbare Einschränkungen auch heute nicht zulässig seien.
Der dissent von Stephen Breyer verweist hingen in seiner historischen Analyse auf die berechtigten Interessen von Bundesstaaten, dem Recht zum Tragen von Waffen bestimmte Grenzen zu ziehen, er bezieht sich zudem auch explizit auf die tragischen Schusswaffenmassaker in einem Supermarkt in Buffalo (New York) und einer Schule in Uvalde (Texas) in den letzten Wochen, die das Bedürfnis nach strengeren Waffengesetzen in eindringlicher Art und Weise unterstreichen würden.
23. Juni: "Sie haben das Recht zu schweigen" können Polizisten künftig weglassen
Am gleichen Tag entschied der Supreme Court auch Vega v Tekoh, einen wichtigen Bürgerrechtsfall, der sich um Angeklagtenrechte und den nemo tenetur – Grundsatz drehte.
Der Supreme Court hatte in seiner Miranda-Entscheidung aus dem Jahr 1966 erklärt, dass ein effektiver Schutz der Rechte von Angeklagten es erfordert, dass deren Aussagen bis zur Aufklärung über ihre Verfahrensrechte nicht zu ihren Lasten von Staatsanwälten verwendet werden dürfen. Aus dieser Entscheidung rührt auch der – aus zahllosen US-Detektivserien bekannte – Hinweis von Polizeibeamten vor einer Festnahme:
"You have the right to remain silent. Anything you can say can be used against you in a court. You have the right to an attorney. If you cannot afford an attorney, one will be provided for you…"
Die konservative Mehrheit schränkt diese Schutzvorschrift nun erheblich ein. Zwar soll der Schutz vor einer Selbstbelastung von Angeklagten weiterhin gelten. Allerdings soll allein die Nichtmitteilung der Beklagtenrechte an sich noch keine Verletzung von verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften darstellen, die vor Gericht gerügt werden kann. Kritische Stimmen halten dem entgegen, dass selbst die besten Verfahrensrechte Angeklagten nur wenig nützen, wenn sie ihnen nicht bekannt sind. Genauso sei die Einschränkung von diesen Verfahrensrechten in Zeiten von erschreckender Polizeigewalt gegenüber marginalisierten Gruppen ein gefährliches Zeichen.
24. Juni: Kein Recht auf Abtreibung
In der Entscheidung Dobbs v Jackson Women’s Health Organization. bezüglich eines Abtreibungsgesetzes in Mississippi änderte der Supreme Court seine Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Recht auf Abtreibung. Damit brachte er eine seit Jahrzehnten erbittert geführte rechtliche und politische Debatte zum Recht auf Abtreibung auf eine neue Eskalationsstufe.
Der Supreme Court hatte in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1973 (Roe v Wade) und 1992 (Planned Parenthood v Casey) ein verfassungsrechtliches Recht auf Abtreibung bis zur etwa 24. Schwangerschaftswoche anerkannt. Diese Entscheidung war der sogenannten "pro-life"-Bewegung in den Folgejahrzehnten ein Dorn im Auge gewesen. Daher hatte sie erheblichen Einfluss auf die republikanischen Präsidenten seit Ronald Reagan ausgeübt, um diese Entscheidung durch die Ernennung von konservativen Richtern zu revidieren. 30 Jahre später folgte nun ihr Erfolg. Der Supreme Court entschied am 24. Juni mit 5-4 Stimmen, dass es kein verfassungsrechtliches Recht auf Abtreibung gebe.
Der konservative Richter Samuel Alito erklärte in seinem Urteildie Entscheidungen in Roe und Casey für schlechthin falsch ("egregiously wrong"). Dies ist Voraussetzung für eine Änderung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. Das zentrale Argument von Alito besteht dabei darin, dass die 1787 geschriebene Verfassung kein Recht auf Abtreibung kenne und daher die Regulierung der Frage zur Zulässigkeit von Abtreibungen zurück an die Bundesstaaten verweise. Dort droht nun in fast der Hälfte der Bundesstaaten ein fast vollständiges und unmittelbares Abtreibungsverbot, vielerorts auch in Fällen einer Vergewaltigung, von Inzest oder bei Gefährdung des Lebens der Mutter.
Ebenso scharf wie die Ansicht von Alito ist auch das gemeinsame Votum der liberalen Richter formuliert. Nicht nur greifen sie das Ergebnis in der Sache an, sie kritisieren auch Alitos historische Analyse, die das fehlende Recht von Frauen auf körperliche Selbstbestimmung auf die Ansichten von Männern im 18. Jahrhundert stützt, die Frauen und ethnische Minderheiten nicht als gleichberechtigten Teil einer demokratischen Gesellschaft sahen. Zudem würde das Abtreibungsverbot die verfassungsrechtlich garantierte (14. Zusatzartikel) Gleichbehandlung von Frauen und Männern untergraben. In ihrem letzten Absatz formulieren die drei Richter daher ungewohnt deutlich:
"With sorrow – for this Court, but more, for the many millions of American women who have today lost a fundamental constitutional protection – we dissent."
27. Juni: Auch während des High-School-Sports darf gebetet werden
Eine Woche nach seiner Entscheidung pro Subvention für religiöse Privatschulen, entschied der Supreme Court in Kennedy v Bremerton School District, erneut für die Religionsfreiheit und gegen einen nicht durch Religionen beeinflusste Schulordnung. In diesem Urteil stärkten die sechs konservativen Richter das Recht des High School Football-Coach Joseph Kennedy aus dem Bundesstaat Washington, vor und nach Football-Spielen an seiner Schule gemeinsame Gebetsgruppen am Spielfeldrand anzuleiten. Die Vorinstanzen hatten dieses Verhalten noch als unzulässige religiöse Betätigung eines öffentlichen Bediensteten und eine unzulässige religiöse Beeinflussung von Schülern im säkularen Rahmen einer staatlichen Schule eingestuft. Der für die 6-3 Mehrheit schreibende Richter Neil Gorsuch erklärte, dass die Verfassung zwar Schulpersonal verbieten würde, Schüler zu religiösen Aktivitäten zu zwingen. Gleichzeitig habe aber das Schulpersonal das Recht, privat und auch mit Schülern zusammen, ihre Religion auszuüben, solange dies nicht dem säkularen Grundauftrag der Schule widerlaufe.
Anders sahen es hingegen die drei liberalen Richter am Supreme Court, die nicht nur die weitere Erosion der Trennung von Religion und Staat kritisierten, sondern auch ihren konservativen Kollegen vorwarfen, die Fakten des Falles falsch dargestellt zu haben (Kennedy v Bremerton School District, Justice Sotomayor dissenting).
30 Juni: Weniger Macht für Umweltbehörde im Kampf gegen die Klimakatastrophe
Die letzte wichtige Entscheidung des Gerichts vor der Sommerpause erfolgte dann letzten Donnerstag in West Virginia v Environmental Protection Agency. Konkret ging es um die Frage, wie viel eigenen Ermessensspielraum eine Behörde wie das amerikanische Umweltministerium (EPA) bei der Regulierung von CO2-Emissionen von Stromkraftwerken hat.
Mit der 6-3 Entscheidung in West Virginia v EPA verneinte der Supreme Court einen breiteren Ermessensspielraum und gab den Antragsstellern, vornehmlich republikanische Justizminister einiger Bundesstaaten sowie Vertreter der Kohleindustrie, daher recht. Chief Justice Roberts hielt in seinem Urteil fest, dass die von der EPA vorgeschlagenen Regulierungen eine wesentliche Angelegenheit sei (major questions doctrine), die daher dem parlamentarischen Gesetzgeber überlassen bleiben sollte. Roberts kritisierte, dass die EPA 2015 ohne parlamentarische Stützung eine grundlegende Richtungsentscheidung zugunsten einer schärferen Klimapolitik getroffen hatte. Dieser neue Kurs hatte erhebliche Auswirkungen auf die betroffenen Bürger und Unternehmen und hätte daher einer konkreteren gesetzlichen Grundlage bedurft. Nur der Gesetzgeber – so Roberts – dürfe solche Grundlagenentscheidungen treffen.
Kritiker des Urteils fürchten derweil, dass durch diese Entscheidung die Möglichkeiten von Verwaltungsbehörden zum Ergreifen von Klimaschutzmaßnahmen weiter eingeschränkt werden. In ihrem abweichenden Votum wies die liberale Richterin Elena Kagan darauf hin, dass die vom Supreme Court geforderte Kompetenzbeschneidung der Exekutive im Ergebnis gerade nicht die Regulierungsfreiheit des Kongresses stärke, sondern vielmehr in einem größeren Kontrollzugriff der Gerichte münde. Offenbar frustriert merkte Kagan hierzu am Ende ihres Votums an, dass dies in Fragen des Klimaschutzes besonders bedenklich sei, habe doch der Supreme Court gerade davon "keine Ahnung".
Nach diesen 10 Tagen: Was wird folgen?
Die konservative Mehrheit auf dem Gericht ist dabei noch nicht am Ende ihrer Pläne für eine Umstrukturierung der amerikanischen Gesellschaft angelangt: Der umstrittene konservative Richter Clarence Thomas – Teil der Mehrheit in allen sechs genannten Fällen – forderte das Gericht in seinem Sondervotum im Abtreibungsfall dazu auf, die schon lange garantierten verfassungsrechtlich Rechte auf Ehe für Alle, Verwendung von Verhütungsmitteln, sowie das Recht gleichgeschlechtliche Beziehungen erneut auf den Prüfstand zu stellen. Dies wurde vielfach als nicht allzu subtiler Wink mit dem Zaunpfahl an konservative Politiker und Antragssteller verstanden, entsprechende Fälle vor den Supreme Court zu bringen, um auch über diese Rechte neu zu entscheiden.
Für Aufsehen sorgte zudem die Entscheidung des Supreme Court am 30. Juni, im nächsten Gerichtsjahr die Rechtssache Moore v Harper anzuhören. In diesem Fall aus North Carolina geht es insbesondere um die Frage, ob die Parlamente der Bundesstaaten dazu befugt sind, in Rechtsstreitigkeiten über das Wahlrecht im Zweifel Entscheidungen ihrer Exekutive und Judikative zu überstimmen (die sogenannte independent state legislature theory). Trump-Anhänger hatten während der Präsidentschaftswahl 2020 ähnliche Überlegungen fruchtbar gemacht, um die Wahlergebnisse in bestimmten Bundesstaaten zu ihren Gunsten zu ändern. Zwar fand diese Theorie unter Verfassungsrechtlern bisher kaum Zuspruch und wurde auch 2015 in einer Supreme Court-Entscheidung abgelehnt. Dennoch befürchten manche Beobachter, dass der Supreme Court nun in diesem Sinne entscheiden könnte und der Republikanischen Partei um Trump damit die rechtliche Grundlage für eine Umstürzung bestimmter Wahlresultate bei der Präsidentschaftswahl 2024 bieten könnte.
Reform des Supreme Courts?
Derweil befindet sich der Supreme Court mittlerweile in einer schweren Legitimitätskrise. Nicht nur lehnt eine Mehrheit der Amerikaner viele dieser neueren Urteile im Ergebnis ab, sondern meint zudem, dass sich der Supreme Court als Institution auf dem falschen Weg befindet.
Daher werden jetzt im liberal-progressiven Lager in den USA weitere Stimmen laut, die eine Reform des Gerichts fordern: So haben Vorschläge zur Erweiterung des Verfassungsgerichts um weitere (liberale) Mitglieder, um die konservative Mehrheit auszutarieren, sowie Überlegungen, die Entscheidungskompetenzen des Gerichts zu beschneiden (restricting judicial review) in den letzten beiden Wochen massiv an Zulauf gewonnen. Diesen Plänen stehen aber weiterhin nicht nur die Opposition der Republikanischen Partei und vieler Demokraten, sondern auch verfassungs(rechtliche) Hürden entgegen.
Somit wird sich zumindest mittelfristig nichts an der ideologischen Ausrichtung des Gerichts ändern. Zwar trat am 30. Juni mit Ketanji Brown Jackson eine neue liberale Richterin hinzu. Dies ändert aber nichts an den aktuellen Mehrheitsverhältnissen am Gericht, wo sich dank der drei Trump-Nominierungen eine deutliche konservative Mehrheit etabliert hat. Für liberale Amerikaner besteht dennoch eine gewisse Hoffnung. Auch die beiden konservativen Richter Clarence Thomas und Samuel Alito sind bereits über 70 Jahre alt, sodass der Gewinner der Präsidentschaftswahlen 2024 bereits ihre Nachfolger und so auch die Balance am Gericht neu bestimmen könnte.
Benedikt Gremminger, Stud. iur. an der Universität Bonn, zwischenzeitlich auch an der Université de Fribourg (Schweiz). Er schreibt regelmäßig für The New Federalist und The Brussels Times.
Urteile zu Religion, Waffen, Umwelt, Abtreibung, Polizei: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48999 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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