Für die Einen Vorsorge für den Krisenfall, für die Anderen der Untergang der Demokratie: Am 28. Juni 1968 traten die Notstandsgesetze in Kraft. Der frühere RAF-Anwalt, Hans-Christian Ströbele, erinnert sich an einen übereifrigen Gesetzgeber.
LTO: Herr Ströbele, vor 50 Jahren holte die damalige GroKo zum Rundumschlag im Grundgesetz aus: Mehr als 20 Artikel wurden geändert, Grundrechte eingeschränkt. Im Fall des inneren Notstandes, Verteidigungs- oder Spannungsfalls sollte die Exekutive handlungsfähig sein. Ein breites Protest-Bündnis aus Gewerkschaften, Oppositionellen, Kulturschaffenden und Studenten sah darin ein zweites "Ermächtigungsgesetz". War das nicht alles überzogen? Schließlich wurden die Gesetze bis heute nie angewandt.
Hans-Christian Ströbele: Es mag sein, dass im Nachhinein so manche Befürchtung übertrieben war; aber aus damaliger Sicht waren die Notstandsgesetze für die Außerparlamentarische Opposition (APO) zu Recht ein wichtiges Mobilisierungsthema. Wir hatten damals den Eindruck, dass die Notstandsgesetze genutzt werden sollten, um gegen die APO vorzugehen und Proteste, wie zum Beispiel gegen den Vietnam-Krieg, zu unterbinden.
Die Notstandsgesetze sollten ja außerdem die parlamentarische Kontrolle durch den Bundestag in bestimmten Notlagen außer Kraft setzen. Aus unserer Sicht war die Sache klar: Man wollte den Weg ebnen für mehr Repression und eine Entmachtung des Parlamentes. Und obwohl die Vorschriften in der Tat nie zur Anwendung kamen: Die Verabschiedung hat damals zur Eskalation der Lage beigetragen.
LTO: Jedenfalls führte ihr Inkrafttreten dann ja zu einer gehörigen Ernüchterung in der Bewegung.
Ströbele: Nun ja, die ersten Entwürfe der Notstandsgesetze waren ja bereits Ende der 50er Jahre vorgelegt worden, danach folgten etliche Jahre der Auseinandersetzung darüber. Die Proteste waren zunächst getragen von der SPD in der Opposition und den Gewerkschaften, an der Spitze die IG Metall. Sogar ein Generalstreik stand im Raum, da die Notstandsgesetze ja auch für bestimmte Notsituationen Arbeitspflichten vorsehen.
Als die SPD dann jedoch 1966 Teil der damaligen Großen Koalition wurde, vollzog sie die Kehrtwende: Plötzlich stand sie an der Spitze der Bewegung für eine Ausweitung der Macht der Exekutive. Die Gewerkschaften machte man sich gefügig, indem man ihnen das Streikrecht garantierte und in Artikel 20 Abs. 4 GG ein ziemlich belangloses Widerstandsrecht verankerte. Bei aller Wertschätzung für das, was Willy Brandt außenpolitisch geleistet hat: Er hat die Notstandsgesetzgebung – und damit eine Entmachtung des Parlamentes – damals hoffähig gemacht. Die Lichtgestalt, die er heute für viele ist, war er für uns jedenfalls 1968 nicht.
LTO: Läuteten die Notstandsgesetze gewissermaßen auch das Ende der APO ein?
Ströbele: Als die Notstandsgesetze dann verabschiedet waren, hatte das natürlich Folgen für die APO: Für uns war die Verabschiedung der Gesetze der Beleg dafür, dass wir mit unserer Auffassung, dass sich der Staat zu einem autoritären, diktatorischen Regime entwickelt, richtig lagen. Alle Hoffnungen, die sich auch auf die SPD damals als langjährige Opposition gerichtet hatten, hatten sich zerschlagen. Und auch die Gewerkschaften kamen als Bündnispartner nicht in Betracht. Ich erinnere mich sogar an eine große Gewerkschaftsdemonstration in Westberlin, aus der heraus Teilnehmer versuchten jemanden zu lynchen, den sie für Rudi Dutschke hielten.
Aber für die APO in Westberlin war weniger das Inkrafttreten der Notstandsgesetze, sondern eher ein paar Monate später im November 1968 die sogenannte Schlacht am Tegeler Weg ein einschneidendes Datum. Anlass war ein Ehrengerichtsverfahren mit drohendem Berufsverbot gegen den damaligen APO-Anwalt Horst Mahler. Als von Seiten einiger Demonstranten massiv Steine gegen Polizisten geworfen wurden und die Polizei zum ersten Mal in die Defensive geriet, förderte dies innerhalb der Bewegung die Gewaltdebatte. Diese hat Teile der APO stark verändert.
LTO: Aber sicher sehen sie doch die Notstandsgesetze in der Rückschau weniger einschneidend als so manche Änderungen, die im Zuge des deutschen Herbstes Einzug in die Strafprozessordnung hielten.
Ströbele: Das ist richtig. In der Zeit der RAF-Verfahren wurden im Eiltempo Gesetze gegen Verteidiger beschlossen, die noch bis heute gelten, zum Beispiel das Verbot der Mehrfachverteidigung. Auch die Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist nicht mehr zwingend erforderlich. Den RAF-Gefangenen wurde damals unterstellt, sie hätten sich die Verhandlungsunfähigkeit "herbeigehungert" – also änderte man kurzerhand das Gesetz.
Und dass die Notstandsgesetze nie angewandt wurden – auch nicht zu Hochzeiten der Anschläge der RAF - ist zwar richtig; gleichwohl belegt dies etwas, was mir auch bis zum Ende als Rechtspolitiker im Deutschen Bundestag immer wieder aufgefallen ist: Man beschließt Gesetzesverschärfungen, die es nicht braucht, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. In keinem Ausschuss, in dem ich war – sei es etwa zum NSU oder zum Fall Amri –, hat sich jemals herausgestellt, dass terroristische Taten aufgrund fehlender Gesetze möglich wurden. Oft lag es eher am Versagen der Sicherheitsbehörden und an mangelnder Koordination, z.B. daran, dass der Verfassungsschutz gegen die Polizei gearbeitet hat oder umgekehrt.
LTO: Auch die aktuelle GroKo will an die StPO heran: Mit dem Ziel der Prozessbeschleunigung drohen Verteidigern Einschränkungen beim Stellen von Beweis- und Befangenheitsanträgen. Vor allem die Union drückt aufs Tempo, weiß aber auch den Deutschen Richterbund an ihrer Seite.
Ströbele: Ich kann nur davor warnen, die Anwälte zum Sündenbock für all das zu machen, was ein Strafverfahren vielleicht manchmal unnötig in die Länge zieht. Auch die Richter selbst sollten vielleicht einmal ihre Prozessführung hinterfragen. Verteidigern vorzuwerfen, sie würden systematisch Prozesse durch das Stellen exzessiver Anträge verschleppen, ist nicht akzeptabel: Ich kann mich an kein einziges Verfahren erinnern, in dem ein Verteidiger einen Prozess tatsächlich platzen ließ.
LTO: Herr Ströbele, wenn Sie zumindest sinngemäß durchklingen lassen, dass die SPD seinerzeit ein Stück weit die 68er-Bewegung verraten hat: Warum sind sie dann Ende der 60er Jahre in die SPD eingetreten, aus der sie 1975 dann herausgeschmissen wurden?
Ströbele: Ach, das darf man jetzt auch nicht so hoch hängen. Uns ging es damals darum, den Gang durch die Institutionen anzutreten. Wir wollten unsere richtigen Ideen nicht nur am Werkstor in Form von Flugblättern verbreiten, sondern rein in die Betriebe, um auch dort dafür zu werben. Einige von uns sind ja dann sogar z.B Betriebsräte oder Betriebsratsvorsitzende geworden. Und zu den Institutionen gehörten eben nicht nur die Betriebe, sondern auch die etablierten Parteien, wie die SPD, in die ich eingetreten bin.
Ich war in der SPD in Wilmersdorf einige Jahre ein richtiger Mensch der Basis und sogar ein respektierter Kreisdelegierter - obwohl die Leute ja wussten, dass ich der schreckliche „RAF-Verteidiger“ war. Das wurde mir allerdings 1975 doch irgendwie zum Verhängnis: Es tauchte ein von mir verfasstes Schreiben auf, in dem ich die damaligen Beschuldigten, die ich als Anwalt vertrat, in Briefen ins Gefängnis mit "Genossinnen und Genossen" anredete. Das brachte für die damalige SPD das Fass zum Überlaufen.
LTO: Als einziger Jurist in ihrer Familie verwalten sie auch die Rechte der legendären Radio-Reportage des WM-Endspiels 1954. Die Stimme ihres Onkels und Sportreporters, Herbert Zimmermann, mit dem Ausruf "[...] Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen [...] Toooor, Toooor, Toooor [...] " kennt jeder. Kommt es auch im Zusammenhang mit dieser WM zu einigen Tantiemen für die Familie?
Ströbele: Also reich geworden sind wir damit nicht. Im Übrigen spendeten wir die Gelder für gemeinnützige Projekte. Heute läuft da eh nichts mehr. Klar war auch, dass wir für bestimmte Anfragen auch gar kein Geld verlangten: Letztens kam z.B noch die Anfrage eines Schulbuch–Verlages, der einen Auszug der Reportage mit pädagogischer Zielsetzung abdrucken wollte. Das ist überhaupt kein Problem und kostet natürlich nichts. Mein Veto legte ich ein, wenn mit der Stimme meines Onkels für Alkohol geworben werden sollte. Dann half auch nichts, mich umzustimmen.
LTO: Eine letzte Frage: Was treibt der ausgeschiedene MdB Ströbele jetzt?
Ströbele: Ich bin noch als Anwalt aktiv, hätte gerne im Bundestag weitergemacht; mit der Direktwahl in Friedrichshain/Kreuzberg hätte das wohl auch wieder geklappt. Nur war mir das zu stressig. Denn wenn schon Abgeordneter, dann richtig - und den Stress eines 12-Stundentages wollte ich mir nicht mehr antun.
Außerdem will ich meine Erinnerungen über die RAF-Zeit und das danach bis heute – auch das als Abgeordneter – politisch Erlebte aufschreiben. Angesichts dessen, was ich darüber so lese von Leuten, die nicht dabei waren, steht der Titel auch schon fest: "Wie es wirklich war".
Hasso Suliak, 50 Jahre Notstandsgesetze im Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29425 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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