Über 50.000 Strafurteile gegen homosexuelle Männer wurden nach Ende des zweiten Weltkriegs bis zur Abschaffung des § 175 StGB im Jahr 1996 gesprochen. Nicht nur die Politik hat jahrzehntelang versagt.
Am 11. Mai stellte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Gutachten des Staatsrechtlers Prof. Dr. Martin Burgi vor, demzufolge der Staat in der Pflicht sei, die gegen homosexuelle Männer ergangenen Strafurteile aufzuheben und ggf. einen individuellen oder kollektiven Entschädigungsanspruch zu schaffen. Wenige Stunden später erklärte Justizminister Heiko Maas, die Regierung werde beiden Forderungen nachkommen. Hätte er damit noch eine knappe Woche länger gewartet, wäre seine Ankündigung auf den internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie gefallen, der in Anspielung auf den früheren § 175 StGB jeweils am 17.5. stattfindet.
Zeit hat man sich mit der Entschärfung, Abschaffung und Aufarbeitung jener Vorschrift, die männliche homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, allerdings schon reichlich gelassen. Der Anwendungsbereich des im Jahr 1872 erlassenen Paragraphen (und des ihn flankierenden § 175a, der besonders schwere Fälle regelte) wurde insbesondere in der Nazizeit erheblich ausgeweitet. Danach behielt Westdeutschland ihn bis zu einer ersten Entschärfung 1969 unverändert bei. Eine zweite Abschwächung folgte 1973, die Aufhebung schließlich im Jahr 1994.
Weitere acht Jahre später beschloss der Bundestag (gegen die Stimmen der Union und der FDP), Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen aufzuheben, die während der Nazizeit ergangen waren – nicht aber jene aus den folgenden Jahrzehnten, obwohl sie auf einer weitgehend identischen Rechtsgrundlage beruhten. Dagegen wurde schon seinerzeit heftig protestiert, und in den Folgejahren forderten die Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken, aber auch der Bundesrat wiederholt,die nach 1945 verurteilten Homosexuellen ebenfalls zu rehabilitieren. Die letzte Initiative dieser Art scheiterte 2012 ebenso wie ihre Vorgänger an der mangelnden Unterstützung der Regierung.
Justiz legte die Vorschrift sehr weit aus
Doch nicht nur die Politik, sondern auch die Justiz hat maßgeblich dazu beigetragen, dass zwischen 1946 und 1994 noch weit mehr als 50.000 Strafurteile auf Grundlage des § 175 StGB ergingen. Wie weit die Justiz den Paragraphen ohne Not auslegte, zeigt etwa ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1953. Entscheidungserheblich war dabei die Frage, ob gemeinsames (nicht: gegenseitiges) Onanieren bereits eine sexuelle Handlung im Sinne der §§ 175, 175a darstelle. Die Antwort lag für das Gericht auf der Hand, indem es Grundsätze der Pädophilenstrafbarkeit 1:1 auf die Strafbarkeit Homosexueller übertrug:
Zur Vornahme unzüchtiger Handlungen mit einem Kinde genügt es nach der Rechtsprechung, dass der Täter dessen Körper als Mittel benutzt, Wollust zu erregen oder zu befriedigen. Dazu gehört nicht, dass er den Körper berührt. Vorausgesetzt wird nur, dass er ihn sonstwie in Mitleidenschaft zieht.
[…]
Danach setzen die §§ 175, 175 a StGB nicht voraus, dass der Täter den Körper des anderen Mannes bei seinem unzüchtigen Treiben berührt. Es genügt, dass der Täter eine Beziehung zwischen dem eigenen unzüchtigen Treiben und dem Körper des anderen Mannes schafft, dessen Körper auf diese Weise an dem gesamten unzüchtigen Vorgang teilhaben lässt und so in Mitleidenschaft zieht.
Wenige Monate später erklärte der BGH hierauf aufbauend auch das bloße Zuschauen beim Geschlechtsverkehr zweier anderer Männer zur Straftat:
Umsomehr ist beim Triolenverkehr unter Männern, wie es hier festgestellt ist, ein Unzuchttreiben des sog. Triolisten, d. h. des lediglich zuschauenden Mannes, jedenfalls dann anzunehmen, wenn er die beiden anderen Männer oder auch nur einen von ihnen zum Mitmachen bestimmt hat.
Angst vor "Verführung" zur Homosexualität
Neben dem allgemeinen Sittlichkeitsgefühl sollte insbesondere durch den § 175a Nr. 3 auch die "gesunde" Entwicklung Minderjähriger (was bis 1973 unter 21-Jährige meinte) geschützt werden. Dieser Strafgedanke bestand auch noch fort, nachdem 1969 die Strafbarkeit homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen bis auf Ausnahmekonstellationen abgeschafft worden war. Die Entscheidungen zum § 175a Nr. 3 sind von der Vorstellung getragen, dass Homosexualität nicht etwa eine angeborene Neigung sei, sondern eine erlernte Perversion, zu der ein Mann einen anderen "verführen" könne:
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. RGSt 70, 199; 71, 111) zu § 175a Nr. 3 StGB ist das Merkmal des »Verführens« dann erfüllt, wenn der Täter den jungen, zum Unzuchttreiben nicht schon vorher bereiten Mann dazu »geneigt gemacht« hat und dieser aus der nunmehr vorhandenen Bereitschaft heraus mit dem Täter Unzucht treibt oder sich dazu von ihm mißbrauchen läßt.
Constantin Baron van Lijnden, Rechtsprechung zu § 175 StGB: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19372 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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