Spätestens seit dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz haben Forderungen zur Inneren Sicherheit Konjunktur. Der heikle Begriff "Sicherheit" unter juristischen und philosophischen Aspekten betrachtet. Von Martin Rath.
Wenn Begriffe aus der Rechtssprache ins alltägliche Deutsch wechseln, machen sie sich gerne unsichtbar. Dass Juristen beispielsweise einst den "Schwachsinn" als rechtswissenschaftlichen Ausdruck für intellektuell herausgeforderte Menschen festlegten, ergibt sich heute nicht mehr ohne Nachdenken.
Dem Begriff des "Obdachlosen" mag man den bürokratischen Zungenschlag noch anmerken, die "Landstreicherei" war immerhin bis 1973 ein Rechtsbegriff. Die neuere Rechtsprache veranlasst den Volksmund gelegentlich ihren Innovationen gleich eine ironische Note beizugeben – wenn aus dem Auszubildenden etwa der Azubi wird. Immerhin bleibt in solchen Fällen die Herkunft aus einer akademischen Vornehmtuerei dauerhaft markiert.
Andere Begriffe und Metaphern von auch juristischer Qualität wandern zwischen Fach- und Allgemeinsprache hin und her, bis schließlich niemand mehr weiß, auf wessen Mist sie ursprünglich gewachsen sind.
Sicherheit – eigentlich ein Rechtsbegriff
Für den Begriff der "Sicherheit", den vor allem Politiker und Polizeifunktionäre im Munde führen, deren Geschäftszweig unter anderem von unaufhörlichen Forderungen nach erweiterten polizeirechtlichen Ermächtigungsnormen profitiert, gibt es jedenfalls den Anfangsverdacht: "Sicherheit" könnte ein juristischer Begriff sein, der ins Alltags-, Polizisten- und Innenpolitikerdeutsch gerutscht ist.
Der Blick ins Gesetz erhöht die Sprachkenntnis: Eine Sicherheit, das ist im juristischen Sprachgebrauch zunächst etwas, das eine Person aufgrund einer rechtlichen Pflicht zu leisten hat – und kein diffuser, von Gefühlen und Gerüchten gebeutelter Zustand einer Gesellschaft. So heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch in § 232 Abs. 1 (a.F.)
"Wer Sicherheit zu leisten hat, kann dies bewirken
– durch Hinterlegung von Geld oder Werthpapieren,
– durch Verpfändung von Forderungen, die in das Reichsschuldbuch oder in das Staatsschuldbuch eines Bundesstaats eingetragen sind,
– durch Verpfändung beweglicher Sachen,
– durch Bestellung von Hypotheken an inländischen Grundstücken […]."
Zivilrechtliche Semantik hat die ältere Würde
Nun verpflichtet eine juristische Semantik natürlich niemanden auf ihren Gehalt, schon gar nicht, wenn er sich nicht gerade im Rechtsverkehr äußert.
Bemerkenswert ist aber doch, dass jenes ältere Verständnis von Sicherheit – jenes Verständnis, von dem auch § 232 BGB spricht –, die tiefer wurzelnden Rechte zu haben scheint.
Das ehrwürdige "Deutsche Wörterbuch", an dem die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Jahr 1838 zu arbeiten begannen und dessen letzter Band 1961 erschien, vermerkt als ersten Gesichtspunkt zur "Sicherheit":
"zumal als rechtswort in festen wendungen und mancherlei wandlung des begriffs, in der älteren sprache häufiger als das adjectiv, in ausläufern bis auf heute gebraucht"
Sicherheit ist in seinem älteren rechtlichen Gebrauch etwas, das geleistet, nicht etwas, das irgendwie hergestellt wird. Das Grimm'sche Wörterbuch gibt unter anderem das Beispiel aus Wolfram von Eschenbachs "Parzifal"-Roman (um 1200/1210 entstanden). Eine Sicherheit ist hier ein Gelöbnis oder eine Bürgschaft, die unter Kontrahenten erstritten wird:
"solt ich nu drumbe ersterben,
sô muoʒ ich leisten sicherheit
die sîn hant an mir erstreit"
Bei dieser rechtlichen Bedeutung, der Sicherheit als Oberbegriff für Pfandrechte oder Bürgschaftserklärungen, blieb es historisch, bis das gern etwas gefühlsbetonte Bürgertum des 18. Jahrhunderts die Sicherheit als Zustand "von innerer beruhigung, freiheit vor sorge, sorglosigkeit" (Grimm) entdeckte.
2/2: Kritik an der Idee umfassender Sicherheit
Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren zwar studierte Juristen – und schufen als Abfallprodukt der Juristerei die Sprachwissenschaft der Germanisten –, doch mag der Rückblick auf einen älteren und engeren Bedeutungsgehalt von "Sicherheit" allein vermutlich kaum dazu animieren, das Wort wieder restriktiv im (zivil-) rechtlichen Sinn zu verwenden.
Stellt sich da nicht die Frage, ob das heutige, so ubiquitäre, aus der individuellen Angst oder Besorgnis – oder eben der politischen Geschäftemacherei – gespeiste Verständnis von Sicherheit sonderlich viel taugt?
Einen sprachlich wie intellektuell anregenden Essay hat zu dieser Frage der oft mit seinem Namensvetter Herbert verwechselte Philosoph Ludwig Marcuse (1894-1971) hinterlassen: "Das Märchen von der Sicherheit. Oder: Die unverschämte Vernunft" (Zürich, 1981).
1933 aus Deutschland geflohen, erzählt Marcuse von den Weinbauern im südfranzösischen Sanary-sur-Mer: "Als sie hörten, daß ich ein deutscher Schriftsteller bin, entschlossen sie, durch mich ans deutsche Volk heranzutreten – das gerade Hitler zu seinem Führer erkoren hatte. Man bot mir französischen Kolonial-Besitz an, soviel ich wollte – und eventuell noch Elsaß-Lothringen dazu. Als Gegengabe forderte man nichts als 'Sicherheit'."
Den Menschen des 20. Jahrhunderts attestierte Marcuse eine "Besessenheit" von jener halb abstrakt bleibenden Sicherheit: "Man braucht einen historischen Vergleich, um diese Besessenheit in ihrer ganzen Armut zu erfassen. Die berühmteste Parole zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg hieß: 'Liberty and the Pursuit of Happiness.' Man verwandte diese Worte gewiß auch zur Herstellung der unfreiesten und unglücklichsten Zustände. Aber jene Freiheit ist einmal eine Verzückung gewesen." Dabei bleibe das neuere Streben nach Sicherheit ohne Erfolg, denn: "Der Mensch ist eine Häufungs-Stelle von Unsicherheiten."
Scheinen die äußeren Gefahren wider Erwarten gebannt, heißt es bei Marcuse: Die "Unsicherheit ist mikroskopisch geworden. Die gefährlichen Bestien, die bis zum Fünfzigsten Stock kommen, um Menschen zu attackieren und aufzufressen, werden Mikroben genannt. Die Unsicherheit, in die sie den Menschen versetzen, ist nur insofern geringer: als die kleinen stummen Dinger weder den Rachen aufreißen noch brüllen. Sie drängen sich der Phantasie nicht so auf."
Ausdehnung von empfundener Unsicherheit
"Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals", schrieb der gerne etwas garstige Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg schon im 18. Jahrhundert – als sich der enge juristische Begriff der "Sicherheit" eben erst zum allgemeinen bürgerlichen Gemütsbedürfnis entwickelte.
Das war seinerzeit gegen einen von vielen Vorgängern des stets besorgten Wolfgang Bosbach, MdB, gerichtet: den bekannten Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Der geriet nämlich als Reaktion auf die damals einsetzende Globalisierung der Medien durch Postkutsche, optischen Telegraphen sowie eine äußerst fruchtbare und beunruhigende Flugschriften-Öffentlichkeit in Paris sogar körperlich in Seelenaufruhr: "Jeder dehnt sich, sozusagen, über den ganzen Erdteil aus und wird über diese ganze große Fläche empfindlich." Heute müsste der arme Rousseau noch Facebook & Co. als erweitertes Nervenkostüm aushalten - jedes Posting ein virtuelles Nerven-Ende.
Rückkehr zum juristischen Begriff von Sicherheit
Wer sich im Drachenblut zweier juristischer Staatsexamina gestählt hat, sollte – so die hoffentlich nicht zu naive Vorstellung – in der Lage sein, auf einem engen, also einen juristischen Begriff von "Sicherheit" zu beharren. Und sei es nur als argumentativer Testfall.
Statt der politischen Feldherren-Rhetorik von der Sicherheitslage zu lauschen, wäre dann konkret zu fragen, welchen Beitrag die Änderung der Norm x gegenüber einer Novelle der Norm y im "Pursuit of Happiness" bringt. Warum nicht über Zolltarife für afrikanische Textil- oder Agrarprodukte sprechen, statt immer nur über – meist vornehmer bezeichnete – Konzentrationslager für potenzielle Mittelmeer-Flüchtlinge? Wie tief sind wir zu sinken bereit, nur um uns Sicherheit versprechen lassen?
Denjenigen, die von innerer Sicherheit sprechen, könnte – was ja die Freude des Besserswissens bereitet – entgegengehalten werden: Wenn Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie zum Arzt – es sei denn, Sie können konkret eine Sicherheit nach § 232 BGB verlangen. Aber, bitte, ersparen Sie uns das politische Gefühlsgerede von Sicherheit.
Warum auch nicht? Immerhin hat doch Helmut Schmidt auf diese Weise die Sprache der deutschen Politik von "Visionen" kuriert. Daran lässt sich weiter arbeiten.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Autor in Ohligs.
Martin Rath, Kleine Wortkunde: Für innere Sicherheit lieber zum Internisten . In: Legal Tribune Online, 08.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21690/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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