In München beginnt der Prozess gegen den früheren Wirecard-Chef Markus Braun. Es geht um einen Wirtschaftskrimi, der inzwischen auch bei Netflix und im Theater zu sehen ist. Katharina Reisch und Hendrik Uken wissen, was sich lohnt.
Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden der Wirecard AG, Markus Braun, sowie zwei weitere Manager des Konzerns vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts (LG) München I (Az. 4 KLs 402 Js 108194/22). Vor den Prozessbeteiligten liegen weitere 99 Verhandlungstage, 474 Seiten Anklage und noch viel mehr Fragen zu den fehlenden 1,9 Milliarden in der Bilanz des Unternehmens.
Absturz eines Überfliegers
Im Prozess geht es um "Deutschlands größten Finanzskandal"; es geht um schwere Wirtschaftskriminalität und ein einst aufstrebendes Vorzeigeunternehmen, die Wirecard AG. Die Unternehmensleitung soll unter anderem mit fingierten Erträgen in der Unternehmensbilanz gezielt die Illusion von einem erfolgreichen Technologiekonzern aufgebaut haben. Bis zu seiner Insolvenz im Juni 2020 war Wirecard ein börsennotierter deutscher Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister. Dann wurde bekannt, dass in seiner Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlten und das "Lügengebäude" von Wirecard krachte zusammen. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun trat zurück und befindet sich seit seiner wenig später erfolgten Festnahme in Untersuchungshaft. Der frühere Vertriebschef Jan Marsalek verschwand spurlos und wird derzeit in Russland vermutet. Nach ihm wird international gefahndet. Markus Braun und Jan Marsalek, sie sind die zwei zentralen Figuren im Wirecard-Skandal. Ihnen werden von der Staatsanwaltschaft unter anderem gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Bilanzfälschung, Untreue und Marktmanipulation vorgeworfen.
Filmreifer Wirtschaftskrimi
Dass die "Wirecard-Story" filmreifer ist, als die Anklageschrift zunächst vermuten lässt, offenbaren inzwischen verschiedene Netflix-Formate wie die Dokumentation "Skandal! Der Sturz von Wirecard" und die sechs Folgen der Serie "King of Stonks". Sie zeigen, dass es bei Wirecard nicht nur um organisierte Wirtschaftskriminalität geht, sondern auch um Licht und Schatten des "Phantoms" Jan Marsalek. Es geht um Investigativ-Journalist:innen, die eingeschüchtert und beschattet werden; um Marsaleks mysteriöse "Villa Alfons" in der Prinzregentenstraße 61; und es geht um konspirative Geheimdienst-Kontakte dieses Mannes mit acht Pässen. Beim Wirecard-Skandal geht es aber auch um vieles, was fast schon zu schräg ist, um wahr zu sein. Da überrascht es nicht, dass am Staatstheater in Mainz mit der "Villa Alfons" inzwischen eine Komödie zum herzhaften Lachen einlädt – über all die Wunderlichkeiten im Spannungsfeld von inszenierter Wirecard-Bank und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).
Wer sich zum Prozessauftakt über den Skandal informieren möchte, findet mittlerweile also ein breites mediales Angebot. Drei Produktionen lohnen sich dabei besonders.
Netlix-Doku: "Das war ein Deepfake"
Mitte September startete auf Netflix die Dokumentation "Skandal! Der Sturz von Wirecard". Sie basiert auf dem Buch "House of Wirecard" des Journalisten Dan McCrum, der sechs Jahre lang für die Financial Times all die Ungereimtheiten rund um Wirecard recherchierte. Er gilt als derjenige, der den entscheidenden Anstoß für den Untergang des scheinbar kometenhaft aufsteigenden Unternehmens gab. Neben ihm kommen aber auch diverse Shortseller und Insider wie etwa der ehemalige Wirecard-Manager Martin Osterloh zu Wort. Wie man es von Netflix-True-Crime Dokus wie dem "Tinder Schwindler" oder "Bad Vegan" bereits kennt, ist die Doku gemacht wie ein Videotagebuch, in dem die verschiedenen Perspektiven aller Beteiligten sich zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Hinzu kommen nachgestellte Szenen, die der Doku den Charakter eines ebenso packenden wie authentischen Wirtschafts-Thrillers verleihen. Einzige Ausnahme ist jedoch jener fragwürdige Moment, in dem mit beiden Händen in die Klischee-Kiste gegriffen und ein Nachbar Markus Brauns gefragt wird, ob dieser denn regelmäßig gegrüßt habe.
Die Doku verliert sich dankenswerter Weise nicht in den bisweilen äußerst unklaren Details des verworrenen Geschehens und bildet damit eine leicht zugängliche Grundlage für alle, die zum Prozessauftakt in Sachen Wirecard-Skandal mitreden wollen. Was bleibt, sind konzise Beschreibungen eines Skandals wie diese: "Das war ein Deepfake – Sie sahen aus wie eine Bank, waren aber Räuber". Am Ende stehen aber auch Fragen, die womöglich für immer offen bleiben werden: "Ich glaube, wir kennen von dem Fall bislang wirklich nur die Spitze des Eisbergs, es sei denn, Jan Marsalek taucht irgendwann irgendwo auf und bricht sein Schweigen."
Wirecard-Theater: "Makellosigkeit in der Wirtschaft ist eine Illusion"
Die Komödie "Villa Alfons" am Staatstheater Mainz ist das Werk des renommierten Dramatikers David Gieselmann. Sie führt durch dieselbe Geschichte, nur anders. Denn sie ist, seinen Worten zufolge, ein "Lehrstück ohne Lehre". Ein grandioses siebenköpfiges Darstellerensemble jongliert mit 37 (!) verschiedenen Rollen in einem minimalistisch gehaltenem Bühnenbild. Minimalistisch mit Ausnahme eines gigantischen Dachses und wilden Licht-Effekten. In der herrlich chaotischen Komödie um Markus Braun und Jan Marsalek – Verzeihung, natürlich um "Markus Schwartz" und "Jens Marlicek" sowie die "Instacard AG" – verspricht man sich gelegentlich gern, jauchzt vor Freude oder schreit sich gegenseitig vor Wut an.
Zwischen beeindruckenden Gesangs- und Tanzeinlagen wird die Story des bereits in seiner Jugend schlitzohrigen Jens Marlicek und des wachstumshungrigen Markus Schwartz bis zur Apokalypse des jüngsten DAX-Unternehmens weit heruntergebrochen, dadurch aber leicht verdau- sowie verständlich. Die Figuren besingen im farbenfrohen Stroboskoplicht die kognitionspsychologischen Verzerrungen des Halo-Effekts, kaufen eine Bank in einem "Fantasiestaat" und bieten auch unbequemen Wahrheiten eine spektakuläre Bühne: "Das ist das Produkt dieser Firma. Das Produkt ist, dass die Geschäfte gut laufen", um nicht zu sagen "Makellosigkeit in der Wirtschaft ist eine Illusion". Warum das alles trotzdem funktioniere, wird auf dem nur allzu oft schwindelerregend schmalen Grat von Schein und Sein mit Verweis auf Platon begründet: "Das zu sehen, was wirklich ist, ist schmerzhaft."
Überzeugend kann der energie(über-)geladene Marsalek, pardon... Marlicek immer wieder Weisheiten bieten, die ebenso wie seine Geschäfte auf den ersten Blick gut klingen, tatsächlich aber nur inhaltsloser Trug sind: Intern erklärt er, Kennzahlen seien "oft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Das geht natürlich nicht legal." während das alles selbstredend "im Grunde nicht allzu illegal" war.
Wer nun neugierig geworden ist auf das skurrile Wirecard-Theater, kann die besondere Exzentrik seiner kriminellen "innovation atmosphere" noch am 31. Dezember 2022 und am 28. Januar 2023 im Staatstheater Mainz erleben.
Netflix-Serie: "Rockstars der Start-Up-Szene"
Wer es nicht mehr nach Mainz schafft und auf eine komödiantische Wirecard-Geschichte aber nicht verzichten will, dem sei vorerst für kalte Abende auf der Couch die Netflix-Serie "King of Stonks" empfohlen. Die sechsteilige Comedy vergeudet ihre Zeit ebenfalls nicht mit Genauigkeiten. Vielmehr spielt sie lieber mit überzeichneten Figuren und jagt den Zuschauer rasant durch das explodierende Wachstum des Düsseldorfer FinTechs "CableCash AG". Das kurzweilige Spektakel der Produzenten aus der bildundtonfabrik (u.a. "Neo Magazin Royale", "How to Sell Drugs Online (Fast)") erzählt seine eigene Story und kann mit diversen Anspielungen begeistern.
Die Zuschauer:innen begleiten den rasanten Aufstieg und Fall der CableCash AG aus der Perspektive des jungen und windigen COO, der hier "Felix Armand" heißt. Überzeugt davon, dass die Geschäftsidee erfolgreich sein wird und voller Trotz gegen die Arroganz der Big Player (in Gestalt der Deutschen Bank als stetiger Antagonistin) arbeitet er mit dem ebenso schwach- wie wahnsinnigen "Magnus A. Cramer" als Frontmann zusammen und erfüllt jegliche Wachstumsgelüste – egal, welcher Mittel es dazu bedarf. Die beiden Akteure bewegen sich dabei im steten Zwiespalt zwischen "Rockstars der Start-Up-Szene" und "Masters of Bullshit".
Interne Machtkämpfe und intrigante Beziehungen führen bald dazu, dass das Konstrukt aus Lügen zusammenzubrechen droht – und von dort an nimmt der blanke Wahnsinn seinen Lauf. Die alternative Erzählung davon, was vermeintlich hinter den Kulissen ablief, ist in "King of Stonks" ebenso humorvoll wie abenteuerlich-chaotisch.
Katharina Reisch ist Doktorandin und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Katrin Höffler. Hendrik Uken studiert Rechtswissenschaften in Göttingen und ist studentische Hilfskraft bei Prof. Dr. Katrin Höffler sowie an der Juniorprofessur für Kriminologie, Criminal Compliance, Risk Management und Strafrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bei Jun.-Prof. Dr. Lucia Sommerer.
Netflix-Tipps zum Auftakt des Wirecard-Prozesses: . In: Legal Tribune Online, 07.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50401 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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