Zig Millionen Dollar für zu heiß servierten Kaffee? Die schlecht geschnittene Frisur verhilft zu unverhofftem Reichtum? Die deutsche Wahrnehmung amerikanischer Justiz ist wohl durch nichts so stark geprägt, wie durch vermeintlich exorbitante Schadensersatzsummen aus den USA. Anhand des bekannten McDonald’s Urteils sucht dieser Artikel, einige gängige Fehlvorstellungen gerade zu rücken.
Eines mal vorneweg: Es gab niemals eine alte Frau, die ihre Katze zum Trocknen in die Mikrowelle gesteckt und nach dem Ableben des Tieres die Herstellerfirma verklagt hat. Genauso wenig gab es einen Mann, der den Geschwindigkeitsregler seines Wohnmobils auf 70 Meilen pro Stunde stellte, die Fahrerkabine verließ, um sich in der Küche einen Kaffee zu brauen, und den unweigerlich darauf folgenden Unfall zur Grundlage einer Schadensersatzklage gegen die Fabrikanten des Fahrzeugs machte. Beide Geschichten, und unzählige andere mit ähnlicher Stoßrichtung, sind frei erfunden – "urban legends", wenn man so will. Wie auch bei der Aufzählung vermeintlicher Gesetze wird die Verbreitung solcher angeblicher Entgleisungen der amerikanischen Justiz durch ihren Schockwert perpetuiert und vom juristisch oft unerfahrenen Publikum nur selten kritisch hinterfragt.
"Augenblick mal!" höre ich den Leser einwenden. "Es gibt doch zweifellos authentische, unglaubliche Schadensersatzurteile aus Übersee – zum Beispiel diese Frau, die sich an McDonald’s Kaffee verbrannt und dafür mehrere Millionen bekommen hat." Diese Frau, Stella Liebeck mit Namen, gibt es in der Tat. Und ja, ihr wurden wirklich 2,86 Millionen Dollar wegen zu heißen Kaffees zugesprochen. Aber nein, der Fall taugt keineswegs als das Aushängeschild überzogener Schadensersatzklagen, als welches er vielfach zitiert wird. Zunächst einmal wurden die 2,86 Millionen von einer Jury gewährt und vom zuständigen Richter auf 640.000 Dollar gekürzt - noch immer ein stattliches Sümmchen, aber schon deutlich weniger. Diese 640.000$ setzten sich aus 160.000 Dollar "compensatory damages" und 480.000 Dollar "punitive damages" zusammen; 2 unbekannte Begrifflichkeiten, die Anlass zu einem kleinen Exkurs ins amerikanische Schadensersatzrecht liefern:
"Compensatory damages" entsprechen dem in Deutschland üblichen Schadensersatz; das heißt, sie erfassen sowohl den wirtschaftlichen (Behandlungskosten, Verdienstausfall, etc.), als auch den immateriellen Schaden (das so genannte Schmerzensgeld) des Opfers. Was die Bezifferung des Schmerzensgeldes angeht, denken die Amerikaner gemeinhin in etwas großzügigeren Dimensionen als in Europa üblich und tragen dadurch maßgeblich zum Ruf Amerikas als Land der überzogenen Forderungen bei. Ob diese Wahrnehmung im Falle von Stella Liebeck allerdings gerechtfertigt ist, darf man bezweifeln: Immerhin hatte die Frau sich den Kaffee zwischen die Beine geschüttet, wo er von der Kleidung aufgesogen und am Körper gehalten wurde. Sie erlitt Verbrennungen dritten Grades, verbrachte 8 Tage im Krankenhaus, und es dauerte 2 Jahre, während derer mehrere Hauttransplantationen durchgeführt wurden, bis die Verletzung vollständig kuriert war. Allein die Kosten der Heilbehandlung betrugen 11.000 Dollar, so dass ihr eigentliches Schmerzensgeld "nur" bei gut 100.000 Dollar lag. Das ist immer noch mehr, als sie vor einem deutschen Gericht erhalten hätte, aber doch keine völlig astronomische Summe.
Mehr Strafzahlung als Schadensersatz
Was hat es nun mit den übrigen 480.000 Dollar auf sich? Wie gesagt, handelt es sich dabei um "punitive damages" – ein Institut, welches im deutschen Recht nicht existiert und üblicherweise als "Strafschadensersatz" übersetzt wird, mit Betonung auf der ersten Silbe. Der Beklagte soll davon abgehalten werden, sich in Zukunft schädigend zu verhalten; er soll über das Maß des im konkreten Einzelfalles verursachten Schadens hinaus bestraft werden, damit das Urteil ihm wirklich eine Lehre ist. Der Kläger ist bloß glücklicher Nutznießer dieser Strafzahlung, sie kompensiert ihm gegenüber keine weiteren Nachteile. Als besonders harsche Rechtsfolge unterliegen punitive damages gewissen Bedingungen: Sie kommen nur bei grob fahrlässigem oder vorsätzlichem Handeln in Betracht, und ihre Höhe ist in der Regel auf das Dreifache der compensatory damages gedeckelt. Die ursprünglich bewilligten 2,86 Millionen setzten sich übrigens aus 160.000 Dollar compensatory und weiteren 2.700.000 punitive damages zusammen; den Schaden von Frau Liebeck hatten also auch die Jury-Mitglieder nicht höher bewertet, lediglich McDonald's wollten sie umfänglicher zur Kasse bitten - eine Entscheidung, die womöglich auch von dem Gedanken getragen wurde, dass für einen so gigantischen Konzern 640.000 Dollar eine kaum spürbare Summe sind.
Unabhängig von der Schadenshöhe stellt sich freilich die Frage, wieso McDonald's überhaupt in die Verantwortung genommen wurde; schließlich ist die Klägerin doch selbst schuld, wenn sie sich ihren Kaffee überschüttet, oder etwa nicht? Der Grund für die Inanspruchnahme der Fastfoodkette war imWesentlichen der, dass sie ihren Kaffee bewusst ca. 33 Prozent wärmer servierte als die Konkurrenz, nämlich auf rund 85° Celsius und damit einer Temperatur, die zum Trinken zu heiß ist und bereits ab einer Kontaktzeit von 2 Sekunden schwere Verbrennungen hervorrufen kann. Natürlich schrieb niemand McDonald's die Verantwortung dafür zu, dass Stella Liebeck sich ihren Kaffee übergeschüttet hatte, aber, so die Argumentation der Kläger, es sei ja vorauszusehen, dass bei hunderten Millionen verkaufter Kaffees pro Jahr der eine oder andere verschüttet werden würde. McDonald's treffe also die Pflicht, den dadurch entstehenden Schaden durch entsprechende Temperierung präventiv zu mildern. Tatsächlich hatte der Fastfoodriese in den Jahren 1982 bis 1992 bereits gut 700 Fälle von (überwiegend leichten), durch ihren Kaffee verursachten Verbrennungen außergerichtlich geregelt – und das lässt die vermutlich sehr viel höhere Dunkelziffer von Personen außen vor, die sich an dem Kaffee verbrannt, aber nie rechtliche Schritte eingeleitet haben. Zieht man all dies in Betracht, so erscheint das Urteil in Liebeck vs. McDonald's, wenn auch nicht zwingend, so doch immerhin gut vertretbar – als Paradebeispiel überzogener Schadensersatzurteile dürfte es sich jedenfalls kaum eignen.
Die Realität: Besser als gedacht, schlechter als gewünscht
Nachdem in diesem Artikel bisher der Versuch unternommen wurde, die Vorstellungen hinsichtlich amerikanischer Rechtsprechung ein wenig gerade zu rücken, soll auf der anderen Seite kein rosigeres Bild gezeichnet werden, als die Realität es zulässt. Denn wenn auch die aberwitzigsten Klagen von vornherein abgeschmettert und überzogene Urteile vom Berufungsgericht kassiert werden, so liegt der wahre Kern des Problems wohl eine Kategorie unterhalb der absolut haarsträubenden und öffentlichkeitswirksamen Fälle. Gemeint sind nicht diejenigen Kläger, die im Schwimmbad ausrutschen und den Betreiber auf 50 Millionen verklagen, weil er nicht darauf hingewiesen habe, dass der Beckenrand nass ist. Dies würde übrigens auch nicht vorkommen; Schwimmbäder sind in den USA aus genau diesem Grund mit mehr Warnschildern versehen als hierzulande militärische Sperrgebiete. Nein, gemeint sind vielmehr jene, die im Kiosk ausrutschen, weil der Boden frisch gewischt war, und den Betreiber auf 500.000 Dollar verklagen. Der Großteil erhobener und vor allem erfolgreicher Schadensersatzklagen spielt sich in diesem Bereich moderater Maßlosigkeit ab, wo das Begehren der Kläger nicht mehr himmelschreiend wahnwitzig ist, aber nach - jedenfalls europäischem - Rechtsempfinden noch immer deutlich übertrieben.
Diesen Trend begünstigen mehrere Umstände: Zunächst einmal ist da das Kompensationssystem amerikanischer Anwälte, welches häufig ein geringes oder gar nicht vorhandenes Grundhonorar vorsieht, dafür aber die zulässige Obergrenze von 33 Prozent Gewinnbeteiligung im Falle des Obsiegens voll ausschöpft. Ersichtlich verleitet dieser Modus der Vergütung die Anwälte dazu, die Anspruchshaltung ihrer Klienten in die Höhe zu schrauben. Hinzu kommt die regelmäßig durch neue Urteile aufgefrischte mediale Präsenz erfolgreicher Schadensersatzkläger, die auf Basis irgendeiner Kleinigkeit ein erfolgreiches Urteil erstritten und nun für den Rest ihrer Tage ausgesorgt haben. So entsteht in den Augen mancher ein neues Bild des American Dream im Zeitalter der Kompensationskultur: Der durch (gewissenlose Multimilliardendollarkonzerne / seine eigene Unachtsamkeit) geschädigte Kläger, der (denen da oben mal zeigt, dass man mit uns auch nicht alles machen kann / seine eigene Verantwortung wie eine Schlange ihre Haut abwirft) und wie ein (Robin Hood / Raubritter) der Moderne vor das Richterpult schreitet.
Einen weiteren Stein im Puzzle bildet schließlich die Art und Weise, wie US-Gerichte zu ihrer Entscheidung gelangen: Die amerikanische Verfassung garantiert - von einigen, hier belanglosen Ausnahmen abgesehen - das Recht auf ein Verfahren vor einer Jury. Nun ist eine Jury eine mehr oder weniger zufällig zusammengestellte Gruppe von Menschen, deren Wert- und Moralvorstellungen somit auch rein zufällig eher auf Eigenverantwortung und moderate Kompensation, oder strenge Unternehmenshaftung und fürstliche Ausgleichszahlungen gerichtet sein können. Daher lässt sich zwar nicht sagen, dass ein Juryverfahren prinzipiell das Zustandekommen hoher Schadensersatzurteile begünstigen würde - viele Amerikaner sehen diese Urteile schließlich selbst als lächerlich an -, aber es schafft doch immerhin die Möglichkeit solcher Urteile: die gewinnspielartige Chance auf den Jackpot aus fremder Tasche, wenn der Kläger nur bei der Juryzusammensetzung sechs Richtige zieht und in einem ihm ebenfalls gewogenen Richter die Zusatzzahl erwischt. Wer es nur oft genug versucht - so denken sich notorische Schadensersatzkläger und erst recht die Anwälte dieses Klientels -, der wird schon einmal die richtige Konstellation erwischen und endlich "zu seinem Recht kommen". Natürlich verstopft die resultierende Verfahrensflut die richterlichen Terminpläne, generiert gewaltige Verdienste auf Anwaltsseite und trägt erheblich zur bürokratischen Schwerfälligkeit des amerikanischen Justizapparates bei.
Und selbst wenn die Beklagten letzten Endes gewinnen, so muss das kein Happy End bedeuten. Da in den USA der Verlierer nicht die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, kann auch eine begründete Klage zur erheblichen finanziellen Belastung werden. Es gibt also durchaus genügend gute Gründe, auf das amerikanische Rechtssystem zu schimpfen – allerdings mit fundierten Argumenten, und nicht mit einer Geschichte über zu heißen Kaffee, die ohnehin längst kalter Kaffee ist.
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Recht verstanden: Von Fruchtpasteten und toten Schotten
Constantin Baron van Lijnden, US-Schadensersatzklagen: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4684 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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