BVerfG-Star Susanne Baer hält einen Vortrag auf dem Heidelberger Symposium – und kommt vom Völkerrecht zum Straßenverkehr, von Fridays for Future zur Corona-Pandemie und zur Lage der Justiz in Polen, ohne je den Faden zu verlieren.
Vor dem Vortrag von Dr. Susanne Baer, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, gab es eine Metal-Yoga-Session und eine Diskussion zu militärischen Interventionen, danach standen neben Polyamorie und Science Slam ein Zauberkünstler und die Geschäftsführerin von Amnesty International auf dem Programm: Das ist das Heidelberger Symposium, eine jährliche mehrtätige Veranstaltung des Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur, einer Studierendeninitiative, die von zahlreichen namhaften Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft unterstützt wird.
Schirmherr in diesem Jahr ist ein Jurist: Dr. Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Co-Host des Podcasts Lage der Nation. Das Thema der Veranstaltung, unter das sich ein derartig breit gefächertes Programm subsumieren ließ: Unruhe bewahren.
Baer sagte gleich zu Beginn ihres Vortrags, genau dieses Konzept habe sie beeindruckt und sie habe gehofft, in "ein interdisziplinäres und übergreifendes, auch assoziatives und exploratives Gespräch" zu kommen. Das musste nun, wie so vieles, online stattfinden. Trotzdem zeigte sich, auch im digitalen Format: Genau in diesen Rahmen gehört eine Verfassungsrichterin, jedenfalls ein Star des Verfassungsrechts wie Baer.
Denn wie hier unter dem Titel "Unruhe im Recht" – immer verständlich für Nicht-Jurist:innen, aber immer auf hohem Niveau – der Zustand des Verfassungsrechts in Deutschland und der Welt im Allgemeinen, das Design des Karlsruher Gerichts im Besonderen, das Grundgesetz, die Frauenbewegung und die Pandemie diskutiert wurde, wie Baer vom Völkerrecht zum Straßenverkehrsrecht, von der Anarchie zur Multinormativität, von der Lage der Justiz in Polen zu Fridays for Future kam, ohne je den Faden zu verlieren, das war nicht nur hochinteressant, das war auch cool und hatte Charme.
Recht als Garant für Ruhe?
Baer beschäftigte sich in ihrem Vortrag zuerst mit der grundsätzlichen Funktion von Recht, naheliegend mit dem Recht als "Garant für Ruhe" – und, das ergänzte Baer in einem Halbsatz: "Wenn man sich das Jurastudium anschaut, auch ein Garant für Langeweile". Dennoch sei es eine durchaus "revolutionäre" Idee, dass das Recht einer Unruhe in der Form von Gewalt entgegenstehe. Es gehe darum, "Gewalt zu monopolisieren", so Baer, und sie fügte hinzu: Die Gewalt des Rechts bleibe dabei eine Form der Gewalt, "aber eine zivilisierte, prozeduralisierte, in Institutionen gebändigte und demokratisch über gewaltenteilende Systeme rückgebundene Gewalt."
Das Recht also als "Garant für Ruhe", das sei etwa im Völkerrecht wichtig, aber gerade hier auch mit Blick auf kriegerische Auseinandersetzungen weltweit "unter Druck". Aber auch im Polizei- und Ordnungsrecht, als wortspielerisches Beispiel im Straßenverkehrsrecht, sorge das Recht dafür, "dass das Leben ruhig aneinander vorbeifließt". Dabei allerdings sei – anders als bei der Unruhe in Form von kriegerischer Gewalt – die Unruhe in Form von Lebendigkeit und Spontaneität, also von Freiheit, etwas Positives.
Recht habe also nicht nur die Funktion, Unruhe zu verhindern, sondern auch "Unruhe zu ermöglichen". Das Grundgesetz ermögliche Kontroversen, auch solche, die in "scharfer" Form geführt werden, so Baer, die damit eine vom Bundesverfassungsgericht gern verwendete Formulierung aufgriff. Die Idee von Recht als Ermöglichung der Unruhe dadurch, dass bestimmte Grenzen für die Ausübung von Freiheit gesetzt werden, lasse sich in vielen philosophischen Schulen wiederfinden, sei es der Kant'sche Kategorische Imperativ, das US-amerikanische "Harm Principle" oder der Ansatz bei Michel Foucault, Recht nicht nur repressiv, sondern auch kreativ (bzw. produktiv) zu verstehen, so Baer. "Ein spannendes Fußballspiel wird erst durch Regeln ermöglicht. Und eine spannende Debatte gibt es auch nur, wenn wir uns an Regeln halten, die eine Diskussion ermöglichen."
Recht und Unrecht
Angesichts dieser beiden Funktionen des Rechts als "Garant von Ruhe" und als "Ermöglichung von Unruhe" warnte Baer jedoch auch vor "autokratischem Legalismus" (mit diesem Konzept befasst sich etwa die Princeton-Professorin Kim Lane Scheppele). Staaten könnten Regeln nicht nur dazu nutzen, Räume zu eröffnen, sondern auch dazu, im Gewand von Recht Unrecht durchzusetzen, so Baer: "Es wird die Form des Rechts verwendet, um aus einem Rechtsstaat einen Unrechtsstaat zu machen".
Nahegelegen hätte angesichts des rechtsförmigen Unrechtsstaates bei einem juristischen Publikum wahrscheinlich eine Diskussion über Recht und Unrecht, Radbruch'sche Formel und Kelsens Positivismus – stattdessen kam die Frage, ob Anarchie ein rechtsfreier Zustand sei, und Baer stieg ohne zu zögern in die Rolle der Rechtssoziologin und antwortete, Anarchie sei möglicherweise ein "staatsrechtsfreier Raum", nicht aber notwendigerweise ein Raum, der frei von Recht im weiteren Sinne, also von jeglicher Normativität sei. "Wir leben doch auch heute alle in einem Zustand der Multinormativität, in jedem Leben gibt es Regeln, die in keinem Gesetz stehen – sei es der Putzplan in der Wohngemeinschaft oder sei es das, was der oder die Einzelne als ‘normal’ empfindet".
Chatfragen aus dem Publikum gab es aber auch ganz konkret zum Rückbau von Rechtsstaatlichkeit, etwa in Ungarn und Polen. Als Beispiel für unscheinbare, ja plausible prozessrechtliche Regelungen nannte Baer den Vorschlag, ein Verfassungsgericht dazu zu verpflichten, Verfahren in der Reihenfolge des Eingangs zu bearbeiten – um diese Frage hatte es etwa in Polen eine heftige Auseinandersetzung gegeben. "Das klingt plausibel und das klingt gerecht – aber es beschneidet das Verfassungsgericht in seiner Unabhängigkeit, wichtige Fälle zu priorisieren, und legt es faktisch lahm."
Karlsruher Institutional Design
Baer nutzte diese Stelle, um vehement eine Karlsruher Position zu vertreten: Auch die – immer mal wieder erhobene – Forderung, das Bundesverfassungsgericht müsse dazu verpflichtet werden, sämtliche Entscheidungen zu begründen, sei so eine "plausible" Regelung, aber unbedingt zu vermeiden: "Dann können wir nicht mehr arbeiten!"
Überhaupt: Wenn es um ihre Arbeit als Verfassungsrichterin ging, war Baer staatstragend, aber glaubwürdig begeistert – und winkte mit einer Mini-Ausgabe des Grundgesetzes in die Kamera. Sie schilderte die Entscheidungsfindung in Karlsruhe, die Aufgaben einer Berichterstatterin, die intensiven Beratungen im Senat und die Diskussionskultur unter Kollegen, "mit denen man es sich ja nicht ausgesucht hat, zu arbeiten, und die auch ganz anders drauf sind als man selbst".
"Ich bin immer noch begeistert von dem institutional Design unseres Verfassungsgerichts", sagte Baer und zeichnete in groben Zügen Verfassungsgeschichte von den Erfolgen der Frauenbewegung, der Schwulenbewegung und der Transsexuellenbewegung bis zu Fridays for Future und der kürzlich ergangenen Klimaschutzentscheidung nach. "Bewegungen bringen Themen vor das Verfassungsgericht, sie ermöglichen es, dass wir uns mit bestimmten Fragen auseinandersetzen. Aber unsere Aufgabe ist es, dann das Grundgesetz zu interpretieren."
"Wenn in der Bundesrepublik irgendeine Kontroverse die Menschen aufregt, dann können wir ziemlich sicher sein, dass ein Teil dieser Kontroverse uns erreicht", so Baer. Das gilt natürlich auch in der Corona-Pandemie und nachdem am Donnerstag vier Kammerentscheidungen aus Baers Erstem Senat zur sogenannten Bundesnotbremse ergingen, hatte sie Gelegenheit, erneut zu betonen, dass damit gerade noch nicht abschließend über die Verfassungsmäßigkeit der Corona-Maßnahmen des Bundes entschieden sei. "Ich hoffe aber, dass wir darüber noch in diesem Jahr entscheiden werden."
Annelie Kaufmann, Verfassungsrichterin Susanne Baer hält Vortrag in Heidelberg: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45034 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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