Cânân Arın hat ihr Leben dem Widerstand gegen die Unterdrückung von Frauen verschrieben, in der Türkei das erste Frauenhaus gegründet und sich für die Istanbul-Konvention engagiert – nun wird sie ausgezeichnet.
Sie selbst sei nie ungerecht behandelt worden, nur weil sie eine Frau ist. Cânân Arın schüttelt den Kopf. "Nein, Ungerechtigkeiten habe ich deswegen nie erfahren", erzählt die 79-jährige Rechtsanwältin aus der Türkei. Aber sie kämpft für diejenigen, die sie täglich erfahren. Als Anwälten streitet sie seit knapp 50 Jahren vor Gericht für Frauen, denen Gewalt angetan wurde. Und sie ist Mitgründerin des ersten unabhängigen türkischen Frauenhauses in Istanbul.
Für ihre Arbeit wird Arın am Freitagabend der Anne-Klein-Frauenpreis 2021 der Heinrich-Böll-Stiftung verliehen, unmittelbar vor dem Weltfrauentag am 8. März.
"Der Anne-Klein-Frauenpreis wird zum 10. Mal vergeben und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die kämpferische Berliner Juristin Anne Klein und unsere diesjährige Preisträgerin Schwestern im Geiste hätten sein können", heißt es von der Jury. Anne Klein, geboren im Jahr 1950, war Juristin und die erste Frauensenatorin des Landes Berlin. Die offen lesbisch lebende Frauenrechtlerin zählt als feministische Pionierin. Sie gehört zum Beispiel zu den Mitgründerinnen des ersten Frauenhauses in Berlin und setzte sich massiv für die Rechte von Frauen und gleichgeschlechtliche Lebensweisen ein.
Aufgewachsen in einer anderen Türkei
Auch Arın hat ihr Leben dem Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft verschrieben. Sie lacht: "Ich bin ein Mensch, der es nicht ausstehen kann, wenn jemand Druck auf mich ausübt."
Schon als Kind, so erzählt sie, hat sie sich nichts gefallen lassen. Als Tochter eines Beamten und einer Bankangestellten wuchs sie mit zwei Brüdern und einer Schwester in der türkischen Hauptstadt Ankara der 1940-er Jahre auf. Es war die Zeit des wirtschaftlichen Aufbaus und der Westannäherung der Türkei. Die noch junge Republik übte sich in ihrer neuen nationalen Identität und in Werten wie Demokratie und Laizismus, also der Trennung von Staat und Religion.
Vor allem in den städtischen Regionen des Landes übernahm damals eine Riege hochqualifizierter Frauen Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und sogar teilweise in der Politik. Die Stärkung der Position von Frauen in der Gesellschaft wird der Politik von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zugeschrieben. Unter ihm erlangten sie 1934 das vollständige Wahlrecht. Atatürks Politik sorgte dafür, dass sich auch das Bildungssystem den Frauen öffnete. Über eine Aufwertung der Rolle von Frauen wollte er die gesamte Nation voranbringen.
Der Geist Atatürks habe auch im Hause ihrer Eltern geweht, erzählt Arın. Gleichberechtigung und Bildung waren fester Bestandteil der Erziehung. "Nicht ein einziges Mal habe ich einen meiner Brüder bedienen müssen", erzählt Arın stolz und lächelt. Das war damals – und ist auch heute noch in zahlreichen Gegenden in der Türkei – nicht selbstverständlich.
Überhaupt wuchs Canan Arın in einer für die damalige Zeit eher unkonventionellen Familie auf. "Meine Mutter ließ sich von ihrem Ehemann scheiden als ich neun Jahre alt war", erzählt sie und fügt sofort hinzu: "Sie ist später die Filial-Managerin einer wichtigen Bank geworden." Selbstständigkeit und Freiheit: Auch das habe sie von ihrer Mutter gelernt, ihrem großen Vorbild.
Kindheit und Jugend in einer Blase
Nach der Schule entschied Arın sich – ebenso wie ihre zwei Brüder – für ein Jurastudium. Die Motivation überrascht nicht: "Ich wollte etwas gegen Ungerechtigkeit machen." Auch aus ganz praktischen Gründen war das Studium der Rechtswissenschaften für Arın die perfekte Wahl: "Ich habe mich schon immer auch für die türkische Sprache interessiert, für Soziologie und Psychologie und Philosophie. Und Jura deckt all das ab. Jura berührt jeden einzelnen Aspekt eines jeden einzelnen Menschen – selbst nach dem Tod noch."
Nach ihrem Studium an der Istanbul Universität ging sie 1970 nach England. An der London School of Economics and Political Science promovierte Arın im Verfassungsrecht und kehrte im Jahr 1976 zurück in die Türkei, wo sie eine Anwaltskanzlei gründete. Ihre Mandantschaft waren von Anfang an fast nur Frauen oder Mädchen, die von ihren Ehemännern, Vätern oder Brüdern unterdrückt oder physischer Gewalt ausgesetzt wurden.
Erst in der praktischen Arbeit wurde Arın bewusst, dass sie selbst in einer Blase groß geworden war: "Für mich war es ganz natürlich, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, doch dann fiel mir auf, dass das nicht so ist und dass es nie so gewesen ist."
Auch damals geltenden Gesetze hätten viele Frauenrechte verletzt, betont Arın. Zum Beispiel wurde der Mann familienrechtlich als Oberhaupt der Familie definiert. Und wenn eine Frau vergewaltigt wurde, dann war das nach damaligem türkischen Recht keine Verletzung der körperlichen Integrität und der Würde der Frau – sondern ein Verbrechen gegen die Familie oder gleich der ganzen Gesellschaft.
Die damals Mitte 30-Jährige fasste einen Entschluss: "Ich wollte diese juristischen Ungerechtigkeiten bekämpfen." Sie suchte und fand Mitstreiterinnen. Gemeinsam arbeiteten die Frauen an Reformvorschlägen für das Familien- und Strafrecht. "Wir wollten die Gesetze ändern und haben es geschafft."
Im Jahr 2002 gab es eine große Familienrechtsreform und drei Jahre später wurde das Strafrecht teilweise nach Arıns Vorschlägen überarbeitet. Die Besserstellung der Frau in den türkischen Gesetzbüchern nutzte die Türkei damals sogar für Werbung bei der Europäischen Union um eine Mitgliedschaft.
Engagement für die Istanbul-Konvention
Arıns Engagement trug auch dazu bei, dass die Türkei 2012 die Istanbul-Konvention des Europarats "zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ ratifizierte. Und zwar als erstes Land überhaupt. Auch damit rühmte sich die türkische Regierung gegenüber anderen EU-Staaten. Aber: Der Erfolg der Istanbul-Konvention in der Türkei ist mittlerweile akut bedroht. Die türkische Regierung erwägt seit Sommer 2020 einen Ausstieg.
Arın meint: Wenn es rein nach geschriebenem Recht ginge, stünde die Türkei in Sachen Frauenrechte ganz gut da. "Aber seit etwa zwei Jahrzehnten wird das Land von einer Regierung geführt, die sich nicht an Gesetze hält." So wie die Türkei aber bis heute nicht zur EU gehört, werden Frauenrechte bis heute nicht ausreichend umgesetzt.
Die schönen Worte auf Papier verblassen angesichts der für Frauen zum Teil brutalen Realität in der Türkei. Pro Tag wird im Schnitt ein Mord an einer Frau durch einen ihr nahestehenden Mann registriert. Häusliche Gewalt und Kinderehen würden weitestgehend toleriert, verharmlost und in gewisser Weise auch gefördert, überlegt Arın. "Die aktuelle Regierung und damit meine ich Staatspräsident Erdogan, will de facto islamisches Recht, die Scharia einführen."
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Arin zutiefst kritisch über den amtierenden Staatschef der Türkei und den Islam äußert. Vor acht Jahren drohte ihr dafür eine mehrjährige Haftstrafe. Arın hatte die Ehefrau des Propheten Mohammed und die des damaligen Präsidenten Abdullah Gül als Beispiele für die Verheiratung minderjähriger Mädchen genannt. Internationale Frauenproteste konnten Arin schließlich vor dem Gefängnis bewahren.
Das erste Frauenhaus
Die Anwältin gibt sich nach wie vor als Kämpferin. Ihr fortgeschrittenes Alter spielt dabei für sie keine große Rolle. Sie habe gelernt, dass sie sich bei ihrem Kampf für Frauenrechte nicht auf den Staat oder die Regierung verlassen könne, sondern selbst aktiv werden müsse. Auch deswegen gründete sie Anfang der 1990er Jahre mit Mor Cati – zu Deutsch "Lila Dach" – die erste Frauenhausstiftung in der Türkei. Die aktuelle Regierung habe versucht, ihre Frauenhäuser zu schließen oder obsolet zu machen. Arın ließ sich davon nicht entmutigen. "Am Ende haben sie es nicht geschafft. Mor Cati gibt es weiterhin und Mor Cati ist besser als die staatlichen Einrichtungen, in denen Frauen zum Teil gefangen gehalten werden", meint Arın. Mor Cati gibt es allerdings nur in Istanbul. Arın und ihr Team stehe natürlich in Kontakt mit Frauenorganisationen in anderen Städten und Gebieten des Landes. Enge Kooperationen gebe es aber kaum, sagt sie. "Die können ja ihre eigenen Frauenhäuser bauen. Mor Cati kann es aber nur in Istanbul geben!"
Für politisch Ämter oder Positionen engagierte sie sich nie direkt, gründete mit anderen Frauen aber die Organisation Kader – eine Art Schmiede für Frauen, die in die Politik wollen. Zudem schuf sie das Zentrum für Frauenförderung der Istanbuler Anwaltskammer.
Es gibt auch Kritik an Arıns Arbeit. Zum Beispiel, weil sie selbst privilegiert aufgewachsen sei. Manche halten ihr sogar vor, dass sie nicht verheiratet ist, womit sie entgegen einer in der Türkei immer noch weitverbreiteten Geschlechtervorstellung lebt.
Arın ist das egal. Allzu persönlichen Fragen weicht Arin aus und antwortet gleich wortreich mit allgemeinen Forderungen, Ideen und Idealvorstellungen.
Ihre Augen leuchten, wenn sie über Frauenrechte spricht – mal vor Wut, mal vor Tatkraft und Stolz. Arın verkörpert den Kampf für Frauenrechte in der Türkei – mitsamt allen Erfolgen, Niederlagen und auch Widersprüchen. "Ich habe noch nicht alles geschafft, was ich wollte", gibt sie zu. Aber: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, dann würde ich alles genauso machen", sagt Arın.
Marion Sendker, Türkische Rechtsanwältin erhält Frauenpreis: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44433 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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