Die Justiz im Mittelalter war finster, sie stellte sogar Tiere vor Gericht. Seit langem sind Geschichten um "Tierprozesse" virulent: Fiel ein Kind einem Schwein zum Opfer, soll dem Vieh ein ordentlicher Mordprozess gemacht worden sein. Heuschrecken und Maikäfer kamen vor die Kirchengerichtsbarkeit. Zweifel an diesen "Rechtsgeschichten" sind angebracht, meint Martin Rath.
Deutsche Strafrichter des Jahres 2011 trugen bei Gericht hässliche rote Perücken. Zeuginnen und Angeklagten war es von Amts wegen aufgegeben, in aufreizender oder anderweitig monströser Kleidung aufzutreten. Möglichst so, wie man sich Prostituierte und Zuhälter vorstellt. Entscheidende Aussagen waren nach deutschem Recht stets in letzter Minute telefonisch herbeizurufen. Aussagen erhielten Gültigkeit nur, wenn sie keifend vorgetragen wurden. Anwälte trugen alberne Schnurbärte. So oder so ähnlich müsste wohl ein Historiker des Jahres 2600 die deutsche Strafjustiz der Gegenwart beurteilen, sollten ihm die Archive kein anderes Material zugänglich machen als einige Folgen der berüchtigten TV-Produktion "Richterin Barbara Salesch". Das Bild des zukünftigen Historikers von der Rechtsgeschichte des frühen 21. Jahrhunderts wäre, freundlich formuliert: ein bisschen schief.
Unter dem Vorwurf, einen Menschen getötet oder verletzt zu haben, ließen Richter in Frankreich einst schon einmal eine ganze Schweineherde in Untersuchungshaft nehmen. Der französische König habe dann Gnade vor Recht ergehen lassen. Nur das schlimmste Schwein war hinzurichten, die Mitangeklagten überließ man ihrem Halter. Bischöfe in Frankreich und der Schweiz erließen kirchenrechtliche Bescheide gegen schädliche Tiere: Mäuse und Ratten, Heuschrecken und Maikäfer wurden wahlweise exorziert oder exkommuniziert und jedenfalls aufgefordert, nicht länger Schaden an menschlichem Hab und Gut anzurichten. Weihwasser im Hafen zu Marseille vertrieb lästige Delfine, zumindest das ist sympathischer als die japanische Methode.
Geschichten von so genannten Tierprozessen geistern immer wieder durch die Medien, haben es einmal sogar in die renommierte "Deutsche Richterzeitung" gebracht. Man traut den Menschen im "finstren Mittelalter" und Juristen zu jeder Zeit viel zu, erst recht jenen, die zwischen Folterkammer und Hexenprozess ihr "ius" praktizierten. Fragt sich nur, ob nicht auch dieses Bild ein bisschen schief ist.
Aus deutschen Landen frisch aufs Schafott?
Im Jahr 1582 sollen die Gerichtsräte der Herzöge von Jülich, einem größeren Territorium im Rheinland, ein Schwein wegen der Tötung eines Kindes zum Tod verurteilt haben. Dem Tier seien die Knochen zu brechen, um es auf ein Rad zu flechten – "zue gedechtnis und anderen zum abschewlichen exempel". Mit diesem Beispiel generalpräventiver Bestrafung eines "kriminellen" Schweins leitet der österreichische Historiker Peter Dinzelbacher (Jg. 1948) einen 2006 erschienenen Übersichtstext zu "Tierprozessen" ein. Der angesehene Mittelalter-Experte lässt eine Reihe solcher Justizvorgänge Revue passieren, die sich vor allem in der Region zwischen Frankreich und Westdeutschland, Flandern, der Schweiz und Norditalien abgespielt haben sollen.
Die Beispiele sind kurios und bieten, ungeachtet des Wahrheitswerts, Gesprächsstoff für unzählige Jurastudentenparties oder Justizkantinenbesuche: Dinzelbacher nennt etwa das Beispiel einer Prozessserie, die beim bischöflichen Gericht von Lausanne in den Jahren 1452, 1477/79, 1503 und 1519 gegen Engerlinge, also die Ernte beschädigende "Maikäfer", angestrengt wurde: "Die Vorgehensweise hierfür war nach den Lausanner Quellen zunächst die Ernennung eines Prokurators, der die Tiere persönlich vor Gericht zu zitieren hatte. Ein amtlicher Bote begab sich zu ihnen und forderte sie auf, zum gesetzten Termin zu erscheinen. Bei der Verhandlung nimmt der Richter ein oder mehrere Exemplare der Schädlinge in die Hand und befiehlt ihnen, binnen drei Tagen das Gebiet, in dem sie sich aufhalten, zu verlassen. Halten sich die Tiere an den Spruch, dankt man Gott im Gebet; bleiben sie trotzig, muss der Prozess angesichts solcher Widerspenstigkeit (in contumaciam) weitergeführt werden."
Neben solchen Prozessen gegen ganze Kollektive schädlicher Tiere, gegen Maikäfer und Heuschrecken, Ratten und Mäuse, sind Berichte von Verfahren gegen "kriminelle" Einzeltiere überliefert: Bauer und Schwein, Ritter und Pferd, Hirte und Schaf lebten oft unter einem Dach. Als Allesfresser nagte manches Schwein am Mensch, bevor es ihm umgekehrt widerfuhr. Als ob sich Justitia Gedanken für ein Crossover von "Richterin Barbara Salesch" und "Bauer sucht Frau" gemacht hätte, finden sich auch nicht wenige Sodomie-Prozesse.
Justitias Praktiken mit Tieren
Sexuelle Handlungen von Menschen an Tieren, die sogenannte Sodomie, kamen in den einst landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften nicht so selten vor wie heute. Noch das aufgeklärte "Preußische Allgemeine Landrecht" von 1794 sah vor, dass an menschlichen Delinquenten in solchen Fällen neben einer empfindlichen Haft- auch eine brutale Prügelstrafe zu vollziehen sei – das Tier jedoch sei vom Erdboden zu tilgen. Das noch ältere Strafrecht, dokumentiert etwa im ersten deutschen Strafgesetzbuch, der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V., sah seit 1530/32 vor, nicht nur den menschlichen Sodomiten auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Das Tier war auf gleichem Wege auszulöschen.
Dinzelbacher spricht hier von "unechten Tierprozessen", weil die Hinrichtung des Tieres nicht als Strafe im eigentlichen Sinn gedacht war. Vielmehr sei die Schande der menschlichen Tat damit beseitigt, das Gedächtnis eliminiert worden. Gerichte verbrannten oft gleich auch die Prozessakten, damit nichts an den Frevel erinnerte.
Als Rechtssubjekt mit eigener "Schuld" trat damit das Tier prozessual so wenig in Erscheinung wie bei anderen, heute nicht weniger befremdlich wirkenden Justizvorgängen: Zur Strafverschärfung wurden jüdische Diebe kopfüber gehängt – zusammen mit zwei bissigen Hunden. Bezweckt wurde damit wohl, sie zur christlichen Taufe zu bewegen – Diebe der einzig wahren Konfession kamen konventionell an den Galgen.
Vom römischen Recht zu volkstümlichen Andekdoten
Dinzelbacher berichtet nicht nur von solchen "unechten Tierprozessen", sondern hält offenbar auch förmliche Verfahren gegen Tiere selbst für realhistorische Gegebenheiten: In seinem 2006 erschienen Buch "Das fremde Mittelalter" erzählt er neben den Maikäfer-Prozessen von Lausanne auch von einer Vielzahl von Verfahren gegen einzelne Tiere – fast ausschließlich Haustiere –, die sich gegen Menschen vergangen hatten. Als Rechtssubjekte, als Wesen mit eigenen Rechten und Pflichten, habe zwar auch die mittelalterliche Justiz Hund und Schwein, Maikäfer und Ratte nicht betrachtet. Sie habe aber auf die prozessualen Formen zurückgegriffen – mit Anklage, Bestellung eines Prozesspflegers für die nicht selbst handlungsfähigen Viecher, mit förmlichem Prozess, Urteil und Vollstreckung in zeitüblicher Form. Wenn man schon ein so modernes Instrument wie den neuartigen Inquisitionsprozess eingeführt hatte, warum sollte man ihn nicht gegen die Bedrohung aus der Natur anwenden? Eine Denkweise, die man heute noch – unter Rechtspolitikern – findet.
Die Aussage, wonach Tiere im Mittelalter so wenig wie heute als Rechtssubjekte, also "personae", sondern als Sachen, lateinisch "res", betrachtet wurden, unterstreicht auch die Rechtshistorikerin Eva Schumann (Jg. 1967). Anders als der österreichische Mediävist Dinzelbacher stellt sie aber klar: "Aus dem deutschsprachigen Raum sind keine Rechtsquellen aus dem Mittelalter überliefert, die Strafverfahren gegen Tiere mit anschließendem Strafurteil und öffentlicher Hinrichtung belegen [...]."
Die in Göttingen lehrende Professorin äußert erhebliche Zweifel daran, dass die in der regelmäßig populär gehaltenen Literatur erzählten Geschichten über Tierprozesse jedenfalls für Deutschland ein wahrhaftiges Bild abgeben. So werde beispielsweise fälschlich aus der Tötung eines Tieres durch den Henker geschlossen, dass zuvor ein ordentlicher Prozess stattgefunden habe. Dabei könnte dieser auch als "Vollstreckungsbeamter" eine Art Gefahrenabwehr umgesetzt haben – also eher polizeilich denn formal am Ende eines Strafprozesses tätig geworden sein.
Für die zahlreichen Erzählungen über Gerichtsprozesse gegen landwirtschaftliche Schädlinge wie Maikäfer oder Mäuse schlägt Schumann eine einfache Erklärung vor: Das neuartige, mit bisher nicht gekannten Normen und Prozessmaximen ausgestattete römische Recht, das sich im Hochmittelalter nördlich der Alpen verbreitete, habe sich möglicherweise in fiktionalen Erzählungen niedergeschlagen, in volkstümlichen Schwänken und Anekdoten. Damit würde also vielen Berichten von "Tierprozessen" ein ähnlicher Wahrheitswert zukommen wie den Auftritten der "Richterin" Barbara Salesch für die Rechtsgeschichte des frühen 21. Jahrhunderts.
Kein Weg zu Bruder Affe und Schwester Elefant
Der australische Philosoph Peter Singer ist in Deutschland sehr dämonisiert worden, weil er eine hierzulande nicht sehr verbreitete utilitaristische Ethik vertritt, die sich unter anderem beim Thema "Sterbehilfe" nicht mit der unter Juristen vermeintlich "herrschenden Meinung" deckt. Angegriffen wurde er auch, weil er die kognitiven Fähigkeiten von Menschenaffen mit jenen hirntoter Menschen verglichen hat (was Kirchenleute bis heute bewegt). Zugunsten der Affen fordert Singer rechtliche Verbesserungen, in der juristischen Diktion wohl: den Status als Rechtssubjekt.
Weniger bekannt, aber kaum weniger am menschlichen Selbstverständnis nagend, müssen sich Ethnologen, also Wissenschaftler, die sich von Berufs wegen mit der Frage nach dem Wesen der menschlichen "Kultur" befassen, eingestehen, dass auch bestimmte Wale und Affen über Generationen hinweg Sprache beziehungsweise Wissen weitergeben – was doch bisher als Privileg der Kultur des Menschen galt.
Der in Kassel und Stanford lehrende Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera, der gegen Anhänger des Kreationismus scharfzüngig argumentiert und damit sicher kein Anhänger einer Kuscheltiermoral ist, hält es für möglich, dass Elefanten über ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit verfügen, was er aus dem Umgang der Tiere mit ihren sterbenden und verstorbenen Herdengenossen ableitet. Das Bewusstsein eigener Sterblichkeit, auch das galt einmal als Privileg des Homo sapiens.
Angesichts solcher neuen Perspektiven zu den kognitiven und moralischen Qualitäten von Tieren wäre es ja einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn "das Mittelalter" in Bruder Schwein und Schwester Heuschrecke Rechtssubjekte gesehen hätte. Dem war so wohl nicht. Der Jurist brauchte ein sodomitisch missbrauchtes Schaf seinerzeit nicht als Rechtsgenossen zu würdigen, um es nebst seinem kriminellen Hirten auf den Scheiterhaufen zu bringen. Ob man heute Gorillas oder Elefanten zu Rechtssubjekten "aufwerten" muss, um sie vor afrikanischen Kochtöpfen oder asiatischen Potenzquacksalbern zu bewahren?
Den Geschichten von den mittelalterlichen Tierprozessen wird man jedenfalls einen ähnlichen Wahrheitswert zuschreiben dürfen wie einer Anekdote, die Harry Rowohlt – der als Übersetzer fast der gesamten englischen Literatur ins Deutsche berühmt geworden ist – über den noch berühmteren Franz von Assisi erzählt hat. Dieser italienische Heilige ist heute in Esoterikerkreisen sehr beliebt, weil er so schöne Gebete zu Ökothemen hinterlassen hat. "Wovon hat sich eigentlich Franz von Assisi ernährt?", stellt Harry Rowohlt den heiligen Bettelmönch in Frage und antwortet gleich selbst: "Genau. Von Singvögeln. Erstens Italiener, und zweitens konnte er die Sprache."
Der heilige Franz, der sich sonst – ganz Straßenpunk der Renaissance – mit einem "haste mal ne Mark" durchschnorren musste, konnte nämlich mit den Vögeln sprechen, wofür ihn die Esoteriker heute so sehr lieben. Er brauchte also weder Leimrute noch Fangnetz, um den Piepmatz in die Pfanne zu bekommen. Man darf daher in Frage stellen, ob es wirklich rühmlich ist, für an sich sympathische Wale, Affen oder Elefanten juristisch die gleichen Worte zu finden wie für unsereinen, als Mensch.
Dem intelligenten Viehzeug könnte die neue Nähe nicht ganz geheuer sein.
Literaturtipps:
Peter Dinzelbacher: "Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess", Essen (Magnus) 2006
Eva Schumann: "Tiere sind keine Sachen" – Zur Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht, online greifbar als PDF aus den "Beiträgen zum Göttinger umwelthistorischen Kolloquium 2008-2009", Göttingen (Universitätsverlag) 2009, Seiten 181-207
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Tierprozesse im Mittelalter: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4318 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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