Am 23. Dezember 1918 wurde das Tarifvertragsrecht gesetzlich anerkannt. Vorausgegangen war ein Konsens von Unternehmens- und Gewerkschaftsseite, der zwar brüchig bleiben, aber bis heute nachwirken sollte.
"Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!" – Wie es um den Wahrheitsgehalt des geflügelten Worts steht, das der russische Berufsrevolutionär und Staatsterrorist Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) hinterließ, sei dahingestellt.
Der mit ihm karikierte Ordnungssinn, durch den sich frühere Generationen hierzulande angeblich auszeichneten, zeigte sich in Deutschland tatsächlich zwei Mal in der Frage, wie "Arbeit" und "Kapital" ihre Interessengegensätze zu regeln hatten. Jeweils wurde ein zentrales Problem der politischen Ökonomie vor die Klammer des neuen Staatsgrundgesetzes gezogen, statt es etwa nach französischer Mode alle Jahre wieder – zwischen Sansculotten- und Gelbwestentum – neu auf die Tagesordnung zu setzen.
So wurde das bis heute kaum veränderte Tarifvertragsgesetz (TVG), dessen Regelungen von einer Kürze sind, die man von Verfassungsnormen kennt, durch den Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der britischen und amerikanischen Besatzungszone beschlossen, am 9. April 1949 – und damit vor die Klammer des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 gezogen.
Ähnlich verhielt es sich 30 Jahre zuvor, als mit der "Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten" (TVVO) vom 23. Dezember 1918 nicht nur die wesentlichen Regelungen des Tarifvertrags-, sondern auch des Rechts der betrieblichen Mitbestimmung ins Gesetzblatt gebracht wurden – wenngleich der Versuch, den Konflikt von Arbeit und Kapital vor die Klammer des Streits um die politische Verfassung zu ziehen, vor 100 Jahren deutlich weniger gut gelang als im Jahr 1949.
"Vaterländischer Hilfsdienst"
Bis zur TVVO vom 23. Dezember 1918 waren Regelungen, die eine Vielzahl von individuellen Arbeitsverhältnissen betrafen, nicht unbekannt, aber doch eher einseitig.
Insbesondere gaben §§ 134a–i Gewerbeordnung (GewO) seit 1892 vor, dass für Fabrikbetriebe mit mehr als 20 Arbeitern eine "Arbeitsordnung" zu erlassen war, die wesentliche Bedingungen des Arbeitsvertrags konkretisierte, beispielsweise über Art und Abrechnung des Lohns sowie "Strafen", die Arbeiter bei Fehlverhalten zu leisten hatten und die nun dem Wohl der Belegschaft zuzuführen waren. Erlassen wurden diese Arbeitsordnungen jedoch von der Kapitalseite, dem Fabrikherrn. Sie stand dabei immerhin unter staatlicher Aufsicht.
Mitspracherechte für gewerbliche Betriebe mit mehr als 50 Arbeitern gab dann das "Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" (Hilfsdienstgesetz) vom 5. Dezember 1916 vor.
Während § 2 Abs. 1 Hilfsdienstgesetz alle nicht zum Militär einberufenen Männer zwischen dem vollendeten 17. und 60. Lebensjahr darauf verpflichtete, sich Arbeitsverhältnisse "bei Behörden, behördlichen Einrichtungen, in der Kriegsindustrie, in der Land- und Forstwirtschaft, in der Krankenpflege, in kriegswirtschaftlichen Organisationen jeder Art oder in sonstigen Berufen oder Betrieben, die für Zwecke der Kriegsführung oder der Volksversorgung unmittelbar oder mittelbar Bedeutung haben" (§ 2 Abs. 1 Hilfsdienstgesetz) zuweisen zu lassen, war nun für die größeren Betriebe die Bildung von ständigen Arbeiterausschüssen vorgesehen, deren Mitglieder aus unmittelbarer und geheimer (Verhältnis-) Wahl hervorgingen (§ 11 Hilfsdienstgesetz). Das war Arbeitspflicht im Austausch gegen Mitspracherechte.
Das Recht der Arbeiterausschüsse lag zwar nur darin, "Anträge, Wünsche und Beschwerden der Arbeiterschaft" zu äußern, doch war auch die Kapitalseite nunmehr darauf verpflichtet, "das gute Einvernehmen" zu suchen. Streitigkeiten über Lohn- und sonstige Arbeitsbedingungen konnten vor das zuständige Gewerbegericht bzw. die Schlichtungsstelle gebracht werden. Das Vereins- und Versammlungsrecht der ‚vaterländisch‘ Beschäftigen, also die gewerkschaftliche Organisation, stand ihnen nun frei (§ 14 Hilfsdienstgesetz).
Vier Tage nach dem Waffenstillstand des Weltkriegs einigten sich Spitzenvertreter der unternehmerischen Wirtschaft sowie der Gewerkschaften am 15. November 1918 darauf, letztere als Vertreter der Arbeiterschaft anzuerkennen, die Koalitionsfreiheit zu gewährleisten, Arbeiter- und Schlichtungsausschüsse einzurichten sowie Kollektivvereinbarungen – Tarifverträge – als Instrument des kollektiven Arbeitsrechts zu nutzen.
Revolutionäre Reichsregierung besiegelt Stinnes-Legien-Abkommen
Am 23. Dezember 1918 erließ der Rat der Volksbeauftragten, also die zwischen dem 10. November 1918 und 13. Februar 1919 amtierende Revolutionsregierung der beiden sozialdemokratischen Parteien, mit der TVVO ein Gesetz, das die Absprachen dieses sogenannten Stinnes-Legien-Abkommens im Wesentlichen umsetzte – es unterzeichneten die Volksbeauftragten Friedrich Ebert (1871–1925, SPD) und Hugo Haase (1863–1919, ermordet, USPD) sowie der Staatssekretär des Reichsarbeitsamts Gustav Bauer (1870–1944, SPD).
§§ 1 bis 6 TVVO regelten, was heute als wesentliche Eigenschaften des deutschen Tarifvertragsrechts anerkannt ist: Den Vorrang des Tarif- vor dem Individualarbeitsvertrag, soweit individuell keine für den Arbeitnehmer günstigere Vereinbarung getroffen oder die Abweichung im Tarifvertrag zugelassen wurde, die Erstreckung des Tarifvertrags auf die Mitglieder der Gewerkschaften und Unternehmensverbände bzw. Möglichkeit der arbeitsvertraglichen Verweisung, schließlich die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen durch das Reichsarbeitsamt (Reichsarbeitsministeriums) nach Anhörung der betroffenen Branche.
Entsprechend §§ 7 bis 14 TVVO waren Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse zu bilden, soweit diese nicht bereits nach Vorgaben der Gewerbeordnung (1892) oder des Hilfsdienstgesetzes (1916) bestanden. Sie erhielten erweiterte Rechte.
Schließlich wurden nach §§ 15 bis 21 TVVO zur Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten neue, paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse eingesetzt. Ihre Zuständigkeit betraf "Streitigkeiten über die Löhne oder sonstigen Arbeitsverhältnisse" zwischen den Arbeiterausschüssen und den Arbeitgebern, wenn nicht von beiden Teilen eine andere Instanz, z.B. ein Gewerbegericht, angerufen wurde.
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften konnten die Schlichtungsausschüsse eigenständig anrufen,soweit es um die Durchsetzung von Tarifverträgen ging.
Schicksal des modernen Tarifvertragsrechts
Anders als im Fall des 1949 etablierten Tarifvertragsgesetzes gelang es 1918 jedoch nicht, diese politisch-ökonomische Konfliktregulierung dauerhaft aus dem tagespolitischen Meinungskampf herauszuhalten.
Weite Teile der Arbeiterschaft, seit zwei Generationen von der marxistischen Spielart des Sozialismus geprägt, hatten weitergehende Vorstellungen von der Sozialisierung der Produktionsmittel – nicht, weil sich derlei im revolutionären Russland abzuzeichnen schien, sondern weil die Vorstellung vorherrschte, dass Grund und Boden, Fabrik- und Logistikkapital überhaupt erst nach ihrer Überführung in Gemeineigentum dem planmäßigen menschlichen Genie – Effizienz- wie Gemeinwohlanliegen – zugänglich sein würden. Der Planungsidee hing aber z.B. auch der AEG-Chef Walther Rathenau an (1867–1922, ermordet).
Aus Sicht der politischen Linken waren das Stinnes-Legien-Abkommen und die TVVO ein Verrat an weitergehenden sozialistischen Idealen. Weiten Teilen der unternehmerischen Wirtschaft galt das Stinnes-Legien-Abkommen hingegen als bloß taktisches Zugeständnis, gegen Ende des Ersten Weltkriegs die unmittelbare revolutionäre Gefahr der Enteignung ihres Sachkapitals zu verhindern.
Hinzu kam ein Gefühl der Entmachtung. Die deutsche Wirtschaft war vor dem Krieg ungeheuer erfolgreich gewesen. Die Chemie-Branche z.B. marginalisierte die internationale Konkurrenz fast völlig. Seinerzeit war der Fabrik-Eigentümer "Herr im Haus" gewesen, der Lohn die Sache des Markts, es galten Anliegen der Belegschaft als frommer Wunsch: Wer erfolgreich ist, sieht hier gerne Kausalitäten, wo nur Korrelationen liegen mochten.
Naturgemäß tut es keinem Abkommen gut, wenn jede Partei der anderen eine "reservatio mentalis" unterstellen kann und der Gesetzgeber dann auch bald zu opportunistischem Verhalten einlädt:
Staatlicher Schlichter, entkernte Gewerkschaften
Durch eine neue Verordnung über das Schlichtungswesen wurde bereits zum 30. Oktober 1923 die Kompetenz der Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Lohnvereinbarungen zu treffen, stark ausgehöhlt. Der neutrale Vorsitzende der jeweiligen Schlichtungskommission, der durch die staatliche Verwaltung bestellt wurde, erhielt das Recht, Schlichtungssprüche auch ohne annährungsweisen Konsens der Parteien zu treffen, soweit "ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist".
Statt ihrer Basis einen ungeliebten Konsens zu präsentieren, konnten die Tarifvertragsparteien nunmehr dem staatlichen Schlichter die Verantwortung zuschieben.
Das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 setzte – nachdem sich die solcherart schon vom Rückgrat entkernten Gewerkschaften am 2. Mai 1933 weitgehend widerstandsfrei hatten zerschlagen lassen – schließlich vollständig auf Tarifordnungen, die von staatlichen "Treuhändern" erlassen wurden. Diese waren faktisch Nachfolger der zwangsschlichtenden Schiedsleute.
15 Jahre später konnte wieder an die §§ 1 bis 6 der "Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten" vom 23. Dezember 1918 angeknüpft werden.
Mit dem Tarifvertragsgesetz von 1949 gelang das "Ausklammern" des Grundkonflikts von Arbeit und Kapital augenscheinlich besser.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32885 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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