Seit gut 700 Jahren erscheint sie als Symbolfigur in juristischen Zusammenhängen, doch ihre beste Zeit hat sie längst hinter sich: Die Justitia mag noch für einfallslose Karikaturisten von Nutzen sein. Ein Blick auf die Geschichte der Figur mit Schwert und Waage lässt vermuten, dass der Weg in die Justizbesenkammern der Republik nicht allzu fern liegen könnte. Eine zahme Polemik von Martin Rath.
Die Hamburger Justizverwaltung könnte dem bundesweit bekannten Wirken ihrer Pressekammern ein Reiterdenkmal auf einem zentralen Platz widmen. Hoch zu Ross würde eine Figur, Schwert und Waage in den Händen, eine Anzahl zerberstender Computer niederreiten. Ihre Ähnlichkeit mit Richter Andreas Buske wäre vom Künstler anzudeuten, aber nicht zu offensichtlich.
Bevor die Justitia den Zeitungskarikaturisten in die Hände fiel, die mit ihr Justizberichte illustrierten, wenn ihnen nichts Witzigeres einfällt, hatte die Dame mit oder ohne Binde vor den Augen, Schwert und Waage in den Händen, in vielen Städten Europas eine ähnliche Funktion wie das fiktive Hamburger Pressejustizdenkmal. Hatte eine kommunale oder regionale Obrigkeit vom jeweiligen Landesherrn die Kompetenz erkämpft oder erkauft, Rechtsfragen letztinstanzlich entscheiden zu dürfen, möblierte man den Straßenraum mit symbolischen Figuren – eine davon war die "Justitia".
Antike Vorläufer, hochmittelalterliche Vorbilder
Vorläufer der heute bekannten Figur machte Otto Rudolf Kissel, langjähriger Präsident des Bundesarbeitsgerichts, in einem kunsthistorischen Büchlein schon im alten Ägypten aus. So halten vogelköpfige Dämonen mit der Waage das Totengericht über die Seelen der Verstorbenen. Die antiken Römer legten die Waage noch nicht einer "Iustitia" in der Hand, kannten aber die verwandte Symbolfigur der "Aequitas".
In der christlichen Bilderwelt taucht das Schwert in der Hand von Jesus Christus auf, der wiederum über die Seelen Gericht hält. Auf der symbolischen Ebene organisierten die Künstler das Jüngste Gericht oft arbeitsteilig – die Waage, als ausgleichendes Element, hielt regelmäßig der Erzengel Michael in Händen.
Eine erste Darstellung der Justitia in ihrer heutigen Gestalt entdeckte Kissel für den heute deutschsprachigen Raum im Dom von Bamberg. Der im 13. Jahrhundert geschaffene Sarg des Bamberger Bischofs und späteren Papstes Clemens II. zeigt auf einer Seite die bekannte Dame mit Schwert und Waage. Zu dieser Zeit breitete sich die Figur im westeuropäischen Raum wohl allgemein aus – die Kompetenz, in Justizfragen das letzte Wort zu behalten, war eines der wichtigsten Ziele in der hochmittelalterlichen Politik.
Mit Binde oder ohne Binde – erst Preußen regelt das
Als Vorbild für die mitunter verbundenen Augen der Justitia diente wohl eine Figur, die ebenfalls im Hochmittelalter auftaucht: Als Gegenstück zur Frauengestalt der "Ecclesia", der siegreichen Kirche, findet sich an vielen Kirchengebäuden die "Synagoge", dargestellt von einer Frau mit verbundenem Gesicht, die das Judentum darstellen soll, das zur christlichen Heilsbotschaft noch nicht gefunden habe.
Rund 700 Jahre lang findet sich die Justitia in juristischen Darstellungen. Liebliche Bilder im zuckersüßen Rokokostil finden sich bei Kissel ebenso wie Darstellungen des Horrorkinos avant la lettre: Ein grausames Bild der verschiedenen Hinrichtungsarten des 18. Jahrhunderts wird von einer Justitia mit den Worten kommentiert: "Ich schone niemand." Die Justitia kommt als fettleibige Barockfigur daher oder als vergoldete roboterschlanke Statue. Pikant wirkt heute, dass die Justitia selbst noch ins Richtschwert des Henkers eingraviert wurde.
Dass es sich bei der Figur um eine Frau handelt, ist dabei meist überdeutlich erkennbar. Spätestens für das 19. Jahrhundert belegt der BAG-Präsident a.D. eine ganze Flut an nackten Körpern. Schwert und Waage sind fast durchgängig vorhanden. Bei der Frage, ob die symbolische Repräsentantin der Justiz auch eine Binde vor den Augen zu tragen hat, schieden sich die Geister.
Immerhin, die Preußen schufen Ordnung. Seine Majestät "Minister der öffentlichen Arbeiten" begab mit Schreiben vom 18. Januar 1907 (Aktenzeichen III. B.5.14) den Erlass, dass bei künftigen Gerichtsbauten die Justitia ohne Augenbinde auszuführen sei.
Schleier der Gerechtigkeit – das, was noch zu diskutieren wäre
Ob dieser Erlass heute für die Rechtsnachfolger des Königreichs Preußen verbindlich ist, wäre vielleicht eine schöne Frage für eine ungnädige Prüfung im juristischen Staatsexamen. Immerhin beträfe sie das positive Recht und wäre grundsätzlich prüfbar, anders als Fragen nach ihrer Trägerin und dem, was die Justitia repräsentieren soll: die Gerechtigkeit.
Mit Forderungen, rechtsphilosophische Themen – wie "Gerechtigkeit" – im juristischen Prüfungsbetrieb verbindlich zu machen, hat Benjamin Lahusen einmal unter der bösen Überschrift abgerechnet: "Wen würden Sie lesen, wenn am nächsten Montag Staatsexamen wäre?" (myops 2007, S. 35-38 [PDF]) Zu den Philosophen, die als nicht examensrelevant in die Justizabstellkammer verfrachtet werden, gehört John Rawls (1921-2002), der mit seiner relativ viel diskutierten "Theorie der Gerechtigkeit" einen "Schleier des Nichtwissens" einführte. Grob formuliert hat dieser Schleier in Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie die Funktion, dass Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation über eine zukünftige Gesellschaftsordnung befinden können, selbst aber nicht wissen, welchen sozialen Rang sie in dieser Ordnung einnehmen werden. Rechtspolitisch spielt der Gedanke eine Rolle, etwa bei der Rechtfertigung ökonomischer Regeln in der medizinischen Versorgung.
Eigentlich wäre eine Justitia mit Augenbinde ja eine hübsche Repräsentantin dieses "Schleiers des Nichtwissens". Da aber rechtsphilosophische Fragen solchen Gewichts selten in Prozessen relevant werden dürften, die in Sälen mit klassischer Symbolausstattung verhandelt werden, könnte die alte Dame mit guten Gründen in die Besenkammer des Justizgebäudes gestellt werden – intellektuell dürfte sie dort oft schon angekommen sein.
Justitia in der Justizbesenkammer
Wer in Köln jemals den Vergleich zwischen der Architektur des Oberlandesgerichts, einem historizistischen Prunkbau aus dem Jahr 1911 und dem grauenhaften Funktionsbau des Amts- und Landgerichts aus den 1970er-Jahren gezogen hat, erkennt, dass der Trend eindeutig zum zwar hässlichen, aber leichter zu reinigenden Gebäude geht.
Schon ein rein praktischer Trend könnte also dafür sprechen, etwaig vorhandene Figuren der Justitia in die Besenkammer zu verfrachten, weil die Justizräumlichkeiten dann für das Facility Management leichter zu pflegen wären.
Einen Trend zum leichter zu reinigenden Justizgebäude hat auch das Bundesverfassungsgericht vorgezeichnet. Seinem Beschluss vom 17. Juli 1973 (1 BvR 308/69) liegt der Gedanke zugrunde, dass religiöse Symbole in Gerichtssälen fragwürdig seien, wenn die verhandelnden Parteien daran Anstoß nehmen dürften. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf war nicht willig gewesen, "Standkreuze von ca. 75 cm Höhe und ca. 40 cm Spannweite" von den Richtertischen zu entfernen, obwohl die jüdische Prozesspartei sich mit einigem argumentativem Aufwand befremdet gezeigt hatte.
Wenn sich Anfang der 1970er-Jahre jüdische Kläger mit dem christlichen Symbol im Gerichtssaal nicht anfreunden konnten, warum sollten sich Prozessparteien aller Konfessionen eigentlich mit der im Kern heidnischen und zudem oft auch noch spitterfasernackten "Justitia" abfinden? Müssen muslimische oder evangelikale Rechtssuchende die Teilnahme ihrer Töchter am Schulschwimmen unter den Augen eines barbusigen Justizsymbols verhandeln lassen?
Welchen Beitrag zur Ästhetik des öffentlichen Raums – und welche Arbeitserleichterung für die Putzkolonne – würde es bringen, wenn die Freunde des guten Kinos ihre negative Kunstfreiheit durch die Justitia im alten Reichsgerichtsgebäude, dem heutigen Sitz des Bundesverwaltungsgerichts, verletzt fänden – sieht die muskulöse Dame dort doch aus wie ein Arnold Schwarzenegger mit Hormonstörung.
US-Justizminister machte es vor
Aber kehren wir auf den Boden der Realität zurück und erinnern wir an einen der bemerkenswertesten Justizminister, den die USA jemals hervorgebracht haben und der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag begehen wird: John Ashcroft.
Der promovierte Jurist Ashcroft ließ vor zehn Jahren die Statue der Justitia im Eingangsbereich seiner Behörde mit schweren blauen Vorhängen verhüllen, weil es ihm nicht passte, dass die halb nackte Figur bei Pressekonferenzen neben ihm aufs Bild kam.
Wer weiß, vielleicht hilft der fundamentalistische Christ John Ashcroft ja fortschrittlichen Juristinnen und Juristen hierzulande, ihre Forderung vorzutragen, nicht "unter der nackten Frau" verhandeln zu wollen – so wie einst die jüdischen Verfahrensbeteiligten in Düsseldorf nicht "unter dem Kreuz" prozessieren mochten.
Der Vergleich ist zwar grundsätzlich schief – aber was soll es: Die Justizraumpflege wird es ihnen danken.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Mehr auf LTO.de:
Aufruhr in der britischen Rechtsgeschichte: Drakonische Strafen im Namen von King George I.
Vor 60 Jahren starb Otto Palandt: Schwarz-brauner Namenspatron des grauen Kommentar-Ziegels
Martin Rath, Symbol im modernen Rechtstaat: . In: Legal Tribune Online, 05.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5488 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag