Eine monumentale Schlacht, das Wehklagen tausender Verwundeter, Blut, das wie Wasser in den Rinnsteinen floss – das grauenhafte Sterben in der Schlacht von Solferino 1859 bereitete den Boden für die Genfer Konventionen und das Rote Kreuz. Ulrich Ladurner besuchte das verschlafene Örtchen im Norden Italiens.
Das Rathaus von Solferino ist von so zarter äußerer Gestalt, dass es im Herzen anrührt. Wie ein Puppenhäuschen steht es da und bildet einen scharfen Kontrast zum Turm von Solferino, der sich auf dem Hügel im Hintergrund erhebt. Dort oben spuken Schlossgespenster umher, während hier, auf dem Rathausplatz, eine frische Brise die Hitze auflockert, und die Fassade des Rathauses den Betrachter in einen Zustand der Heiterkeit versetzt.
Schräg gegenüber liegt die Pasticceria Arcobaleno, die Konditorei Regenbogen also, von der behauptet wird, sie stelle weit und breit die beste Süßware her. Im Inneren leuchten Torten und Törtchen in allen Farben. Grün und Gelb, Rot und Braun, Schwarz und Weiß, Blau und Orange wetteifern miteinander. Geschickt im Raum verteilte Spiegel und Spiegelchen tragen dazu bei, das Farbenspiel in ein wirbelndes Treiben zu verwandeln. Wer seinen Fuß hier reinsetzt, fühlt sich wie in einem Schmetterlingsgarten, von Farben umflattert und Düften betört. Der Espresso schmeckt im Arcobaleno, so wie er in Italien schmecken muss, der Konditor sieht aus wie ein Modeschöpfer.
Draußen, auf dem Platz sitzen alte Männer, die im Schatten eines Windsegels gleichmütig das Vorbeifließen des Tages betrachten.
Es fällt Solferino leicht, italienisch zu sein. Nur etwas zu still ist dieser Platz für italienische Verhältnisse, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Das liegt nicht an der Tageszeit, denn es ist später Nachmittag. Jetzt ist eine gute Zeit, um auf der Piazza ein wenig zu plaudern, doch es kommt kaum jemand. Solferino wirkt verlassen. Das pralle Leben macht einen Bogen um dieses Dorf. Im neun Kilometer entfernten Castiglione delle Stiviere rauchen die Fabriken, im nicht viel weiter entfernen Sirmione flanieren Urlauber am Ufer des Gardasees, und in Mantova, das 35 Kilometer weiter Richtung Süden liegt, sitzen die Behörden und verwalten die gleichnamige Provinz. Solferino liegt geografisch mittendrin und doch abseits. Das war immer schon so.
Heute ist die Lombardei eine der wirtschaftlich stärksten Regionen Europas. Was früher für Solferino ein Mangel war, seine Abgeschiedenheit, das gereicht ihm jetzt zum Vorteil. Es ist beschaulich und manchmal so still, dass in den Straßen, wenn Wind aufkommt, das Rascheln der Bäume zu hören ist. Wer will, ist in wenigen Minuten mittendrin im modernen Leben, auf der Tag und Nacht tosenden Autobahn, die Mailand und Venedig verbindet. Sie ist die Nabelschnur der Lombardei und Venetiens. Solferino hängt wie eine winzige Perle etwas lose, aber doch sehr zäh an ihr. Schnitte man den Ort von ihr ab, Solferino könnte wieder zurückfallen in die Verlassenheit, die es seit Jahrhunderten kennt – wenn, ja wenn es da nicht diesen 24. Juni 1859 gäbe.
300.000 Soldaten prallten aufeinander
Damals prallten hier insgesamt 300.000 Soldaten aufeinander. Ein österreichisches Heer rückte aus dem Osten von Verona kommend vor, Piemontesen und die mit ihnen verbündeten Franzosen aus dem Westen von Mailand kommend. Der österreichische Kaiser hatte sich vom Königreich Piemont-Sardinien zum Krieg provozieren lassen. Die Piemontesen wollten die Österreicher mit Hilfe des französischen Kaisers Napoleon III. aus Italien vertreiben und das Land einigen. Die Österreicher verteidigten die nach damaligem Recht und Gesetz ihnen zustehenden Besitzungen, die Lombardei und Venetien.
Das Töten begann im Morgengrauen. Es endete erst am Abend. Tausende blieben auf dem Schlachtfeld liegen, die meisten starben an ihren Verletzungen; die medizinische Versorgung für die Soldaten war miserabel.
Unzählige Verwundete wurden in die neun Kilometer entfernte Kleinstadt Castiglione delle Stiviere gebracht. Die Stadt hallte wieder von ihrem Wehklagen und ihren Schreien. Spitäler, Kirchen, Schulen waren bis zum Rand gefüllt mit wimmernden, zuckenden Körpern. Viele Verwundete lagen, da es keinen Platz mehr für sie gab, auf den Bürgersteigen. Blut floss in den Rinnstein und mischte sich mit den Tränen der Sterbenden.
"Tutti fratelli!" - "Alles Brüder", riefen die Frauen
Die Bewohner Castigliones halfen, so gut sie konnten, vor allem aber halfen sie jedem, ganz gleich auf welcher Seite er kämpfte. "Tutti fratelli!" – "Alles Brüder!", riefen die Frauen und liefen herbei mit Kübeln voller Wasser, um den Durst der Soldaten zu stillen; mit Stroh, um die Verwundeten zu betten; mit Verbandszeug, mit Essen, mit Worten des Trostes für die Sterbenden. "Auf den steinernen Fliesen der Spitäler und Kirchen von Castiglione liegen Seite an Seite Kranke aller Nationen: Franzosen und Araber, Deutsche und Slawen." Das schrieb der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant in seinem Buch "Eine Erinnerung an Solferino".
Dunant war durch Zufall hierher gekommen. Er wollte eine Audienz bei Kaiser Napoleon III. erwirken, denn er war vollkommen pleite. Er hatte sich mit Geschäften in Algerien verspekuliert. Seine Gläubiger hetzten ihn, und Dunant glaubte, Napoleon III. würde ihm aus der Klemme helfen. Doch nun sah er sich diesem massenhaften, grauenhaften Sterben gegenüber. Das änderte sein Leben für immer. Vier Jahre nach der Schlacht veröffentlichte er sein Buch – es wurde ungemein erfolgreich. Dunant beschrieb darin nicht nur das Leid auf sehr drastische Weise, er formuliert auch Vorschläge: "Wäre es nicht möglich, in Friedenszeiten eine Hilfsgesellschaft zu gründen, die aus großherzigen Freiwilligen zusammengesetzt ist, um den Verletzten in Kriegszeiten zu helfen?"
Fünf Jahre später, am 22. August 1864, unterzeichneten zwölf Nationen die ersten Paragrafen der Genfer Konvention. Darin wurden zum ersten Mal die Rechte von Kriegsgefangenen festgelegt, gleichzeitig nationale Hilfskomitees unter dem Signum des Roten Kreuzes gegründet; in muslimischen Regionen prangt der Rote Halbmond auf der Fahne, die zu Hilfe eilt. Es war der Beginn einer Organisation, die sich bald über den ganzen Globus ausbreiten sollte, formal unabhängig, aber denselben Idealen verpflichtet. Das International Committee of the Red Cross gilt als Kontrollorgan des humanitären Völkerrechts und ist eines der wenigen nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekte.
Aufbruch in eine neue Epoche des Völkerrechts
Daher feierten die Wissenschaftler der Zeit die Genfer Konvention zusammen mit anderen Entwicklungen als Beginn einer neuen Epoche des Völkerrechts. Es war eine nie da gewesene Aufbruchstimmung zu spüren, in der sich liberaler Kosmopolitismus und Fortschrittsoptimismus verbanden. Die Völkerrechtswissenschaft sah sich am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur vor neue Herausforderungen gestellt, sondern konnte auch auf bereits geschlossene mehrseitige Staatenverträge blicken. In ihnen schlugen sich Kooperationswille und Fortschrittsglaube einer sich über globale Normen verständigenden Welt nieder, und das humanitäre Völkerrecht war ihr vornehmster Ausdruck.
Solferino gilt als der Gründungsort. Tatsächlich befindet sich hier das Denkmal des Roten Kreuzes. Es liegt auf einer Anhöhe, etwas unterhalb des Turmes von Solferino. Wenn Gedenktage zu begehen sind, finden die Feiern hier statt, unter den Zypressen, die dem Denkmal Erhabenheit verleihen. Doch eigentlich entwickelte Dunant seine Idee in Castiglione. Hier sah er, wie die Menschen den Verletzten halfen, egal ob Freund oder Feind; hier wurde neutrale, humanitäre Hilfe praktiziert – hier sah Dunant das Rote Kreuz am Wirken, noch bevor es Wirklichkeit war.
In Castiglione befindet sich das Museo Internazionale della Croce Rossa. Im ersten Raum ist ein lebensgroßes Abbild Dunants auf Sperrholz zu sehen. Er ist akkurat gekleidet, weißes Hemd mit Binder, Anzugjacke, Weste, die Kette einer Taschenuhr. Der buschige Backenbart dominiert das Gesicht, eine Hand hält er in der Hosentasche, die andere ist halbgeöffnet auf Höhe der Hüfte – durch und durch ein Geschäftsmann, der repräsentieren will.
In einem anderen Raum hängt ein zweites Bild von Dunant. Es zeigt ihn als alten Mann. Ein gewaltiger, weißer Bart fällt tief auf seine Brust, auf dem Kopf sitzt eine Mütze, die an einen Fez erinnert. Dieses Bild hat nichts mit dem ersten Bild zu tun. Es ist, als würde man zwei verschiedene Menschen betrachten. Der alte Dunant sieht aus wie ein Eremit, der einen tiefen Blick in die Abgründe des Menschen getan hat. Die Verwandlung des Henry Dunant hat hier stattgefunden, in den Straßen von Castiglione.
Nachdruck aus "Mekkas der Moderne - Pilgerstätten der Wissensgesellschaft". Von "Bild der Wissenschaft" nominiert als "Wissenschaftsbuch des Jahres 2010"
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Solferino und Castiglione: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/998 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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