Treffen sich zwei Beamte auf dem Büroflur. Sagt der eine zum anderen: "Na, kannst du auch nicht einschlafen?" – Witze dieser Art waren lange Zeit populär. Der Blick in die Rechtsprechung zeigt, dass dies nicht unbegründet war.
Neben falscher Ernährung und fehlender Bewegung hat der Mangel an Schlaf gute Aussichten, als drittes Hauptübel der modernen Menschheit anerkannt zu werden.
In seinem Werk "Die unausgeschlafene Gesellschaft" (Reinbek, 1999) hielt der amerikanisch-kanadische Psychologe Stanley Coren (1942–) beispielsweise fest, dass es Studenten in den USA im Jahr 1910 noch auf durchschnittlich neun Stunden Schlaf je Nacht brachten, während es in den 1960er Jahren bereits anderthalb Stunden weniger gewesen seien. Im Zeitraum zwischen 1978 und 1988 sei die durchschnittliche Schlafdauer von Studenten von sieben Stunden achtzehn Minuten auf sechs Stunden und zweiundfünfzig Minuten gesunken.
Als ein biologisches Maß für hinreichenden Schlaf stellte Coren die genetisch engsten Verwandten des Homo sapiens in den Raum: Menschenaffen schliefen ohne Ausnahme jeden Tag zehn Stunden oder länger – der Schluss auf ein allgemeines Schlafdefizit des Menschen sei damit hoch evident.
Beamte kommen nicht aus dem Bett, Richter reagieren ungnädig
Dieser Vergleich mit Primaten könnte die These vom allgemeinen menschlichen Schlafmangel womöglich tragen – wäre nicht Biologismus weitgehend verschrien.
Der Blick in die deutsche Rechtsprechung weckt immerhin Zweifel, ob die zunehmende Unausgeschlafenheit unter amerikanischen Studenten – einer für psychologische und sozialhygienische Studien leider sehr etablierten Gruppe – auf andere gesellschaftliche Teilgruppen übertragbar ist.
Denn in einer handelsüblichen Datenbank sind disziplinarrechtliche Verfahren zu verschlafenen Beamten und Soldaten in ganz erstaunlicher Zahl dokumentiert – und zwar bereits in den 1950er und 1960er Jahren.
Als erstes Beispiel mag der Beschluss des Bundesdisziplinarhofs vom 18. April 1957 (Az. III D 129/55) dienen. Hier stand die Maßregelung eines Bahnhofsschaffners auf Lebenszeit im Dienst der Deutschen Bundesbahn zur Diskussion, der sich unter anderem in sozialkritischer Absicht über seine Vorgesetzten geäußert hatte, dem aber auch vorgehalten wurde, bei anderer Gelegenheit im Verhör durch seinen Dienstvorsteher als Grund für ein um 25 Minuten verspätetes Erscheinen im Dienst wahrheitswidrig erklärt zu haben, seine Straßenbahn habe Verspätung gehabt. Tatsächlich sei Verschlafen das Problem gewesen. Wie das derart detailliert ermittelt werden konnte, ist leider nicht überliefert.
Wiederholt unter anderem wegen Verschlafens rechtfertigen musste sich auch ein verbeamteter Reservelokomotivführer im Verfahren vor dem Bundesdisziplinarhof, nicht zuletzt mit demütigenden Einlassungen dazu, dass seine kleine Tochter den Wecker verstellt habe – wobei am Urteil vom 12. April 1962 auch beeindruckt, dass sogar noch eine vierwöchige Arreststrafe wegen unerlaubten Ordentragens im Spätsommer 1944 gewürdigt wurde (Az. II D 39/61).
Mit Urteil vom 30. September 1965 (Az. II D 12/65) nahm das gleiche Gericht im Fall eines – so die einhellige Auffassung – vom Leben einigermaßen gebeutelten Bundesbahnoberschaffners in nachgerade exegetischer Weise Stellung zu den Pflichten, die den Beamten trafen, alles Zumutbare zu tun, um den Vorgesetzten über einen Verschlafensfall in Kenntnis zu setzen. Kurz gesagt: Hier waren im Zeitalter geringer Telefonanschlussdichte vertrauenswürdige Boten nicht von Nachteil.
Flucht in die wecktechnische Moderne oder in die Verzweiflung
Alkohol war regelmäßig mit im Spiel – oft, aber nicht immer als Ursache des Verschlafens.
Seltene Milde zeigte etwa der Bundesdisziplinarhof im Fall eines Bahnbeamten, der ethanolbedingte Ausfälle gezeigt hatte (Urt. v. 18.11.1960, Az. II D 22/60) – sein Frühstück in der Werkskantine bestand aus einem Liter Bier, bald gefolgt von einem weiteren halben Liter –, und angab, dass er in der Nacht zuvor von seinem acht Monate alten Kind um den Schlaf gebracht worden war.
Der Bundesdisziplinaranwalt ging hier in die Berufung, weil ihm die erstinstanzliche Gehaltskürzung um ein Zehntel auf ein halbes Jahr zu milde erschien. Er blieb ausnahmsweise erfolglos, denn der Kinderkrach hatte nach Auffassung des Gerichts den Beamten beeinträchtigt. Nebenbei erteilten die Richter dem Alkoholausschank in der Werkskantine ihren Segen – gefordert sei hier die "Selbstzucht" des Beamten vor Dienstantritt, denn den Kollegen sei es nicht zuzumuten, nach Dienstschluss nicht unmittelbar zum Bier greifen zu können.
Mit der überschaubaren Gehaltskürzung war dieser Beamte außergewöhnlich gut davongekommen, auch die Würdigung seines Verschlafens als halber Entschuldigungsgrund fürs Bierfrühstück vor Dienstantritt war ungewöhnlich.
Einen Postbeamten, dem Unter anderem wiederholtes Verschlafen vorgeworfen worden war, belehrte das Gericht hingegen, dass es nicht genüge, sich einen zweiten Wecker zu stellen. Um nicht disziplinarrechtlich belangt zu werden, hätte er – dem bekannt gewesen sei, dass er schlecht aus dem Bett komme –, einen telefonischen Weckdienst beauftragen müssen – und das in einer Zeit, in der die Alimentation von Beamten karg und das Telefonieren teuer war (Urt. v. 21.05.1959, Az. II D 91/57).
Im Fall von psychisch labilen Beamten konnte die Furcht, wegen Verschlafens belangt zu werden, schon einmal unfassbare Züge annehmen: Mit Urteil vom 5. Mai 1964 entschied der Bundesdisziplinarhof, dass ein offenbar alkoholabhängiger Postbeamter nach zwei kleineren Unterschlagungen und weiteren, außerdienstlichen Straftaten aus dem Dienst zu entfernen sei. Die Furcht vor dem Verschlafen hatte hier – man beachte die dokumentierte Reihenfolge in der Reaktion der Postbeamtengattin – groteske Züge angenommen:
"Obwohl er sich den Wecker gestellt hatte und nicht zu Bett gegangen war, um den Dienst nicht zu versäumen, verschlief er. Er bekam einen derartigen Schreck, daß er zum Rasiermesser griff, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. Seine Ehefrau überraschte ihn dabei und konnte ihm das Messer entwinden. Sie begab sich zu einem Fernsprecher, um das Postamt zu verständigen. Inzwischen erhängte sich der Beschuldigte mit einer Wäscheleine an einem Haken am Kleiderschrank."
Die erste Instanz hatte, womöglich in einem Anflug von Fürsorgeverständnis, den Beamten, der seinen Suizidversuch überlebte, nur degradiert, aber im Dienst belassen. Die Bundesrichter kannten diese Milde nicht (Urt. v. 05.05.1964, Az. I D 36/63).
Waren nur Post- und Bahnbeamte vom Verschlafen betroffen?
Unter den mehr als 340 recherchierten Entscheidungen, die zwischen circa 1950 und 2020 eine Verschlafenheit thematisieren, betrifft eine überwiegende Zahl der Sachverhalte uniformierte Männer bei Post, Bahn und Bundeswehr. Wegen Schlafmangels oder damit einhergehender Alkoholabhängigkeit disziplinarisch belangt zu werden, scheint zudem kein Problem der höheren Dienstränge gewesen zu sein.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Mit sozial lebenden Nagetieren werden gelegentlich Experimente gemacht, die den Zusammenhang von Stressverarbeitung und freiwilligem Ethanolkonsum untersuchen – womöglich ist bei der Fähigkeit, mit Stress umzugehen, jenes Element betroffen, das neben dem Trinkverhalten auch das Schlafbedürfnis gut reguliert und damit Lebewesen weniger beeinträchtigt, die in der sozialen Hackordnung bereits höher stehen.
Auffällig ist zudem, dass Verschlafenheit außerhalb des Beamten- und Soldatenstandes kaum je ein Thema vor Gericht war – mutmaßlich schlafende Richter erhalten, wenn überhaupt, eine gesonderte Betrachtung dazu, wann im Prozess unzulässiger Schlaf zu entdecken ist (z.B. Bundesfinanzhof, Beschl. v. 17.05.1999, Az. VIII R 17/95).
Erstaunlicherweise tauchen in der gut 340 Verschlafenheitssachen enthaltenden Auswahl die ersten Probleme von Beschäftigten in der sogenannten freien Wirtschaft – also arbeitsgerichtliche Fälle – erst in den 1980er Jahren auf.
Im eingangs zitierten Witz zur angeblich typischen Beamtenschläfrigkeit könnte sich damit doch eine soziale Tatsache spiegeln. Es fragt sich nur, warum Sanktionen so überwiegend das verbeamtete Fußvolk trafen.
Der Philosoph Peter Sloterdijk (1947–) hat in seinem Buch "Zeilen und Tage" der deutschen Beamtenschaft unterstellt, sie habe etwas von einer Bohème – also einer unbürgerlichen Gruppe von Menschen, die sich von ihrer Umwelt bis zu einem gewissen Punkt selbst bei erwiesener Nutzlosigkeit alimentieren lässt. Diese Beobachtung findet sich in jüngerer Zeit auch wieder beim Publizisten Wolf Lotter (1962–), der mit ihr sein Entsetzen über die ordnungspolitische Missachtung von Selbständigen durch die verbeamtete Bundespolitik in der Corona-Krise ausdrückte.
Vielleicht rührte das Bedürfnis, verschlafene Beamte zu sanktionieren, einst daher, dass insbesondere der uniformierte Staatsdiener niederen Rangs im Kundendienst von Post und Bahn das süße Geheimnis eines von privatwirtschaftlichen Effizienz- und Disziplinvorstellungen mehr oder minder freien Tätigkeitsbereichs der höheren Dienstränge nicht ungestraft enthüllen sollte. Wenn man sich mit dieser Spekulation auch auf dünnem Eis bewegt: Schlafstudien unter Beamtinnen und Beamten der Gegenwart oder eine empirische Studie, auf wie viele Stunden echter Arbeit es die angeblich stets schlaf- und rastlosen Bundes- und Landtagsabgeordneten tatsächlich bringen, hätten die Chance, als sozial- und naturwissenschaftlich fundierte Elitenforschung durchzugehen – denn zur Elite zählt gewiss, wer nicht gegen seinen Willen geweckt wird.
Nachzutragen ist noch: Im Jahr 2000 wurde der 21. Juni von einem als "Tag des Schlafes e.V." firmierenden Verein als ebensolcher ausgerufen – inzwischen verschläft der Verein diesen sogenannten Aktionstag augenscheinlich selbst.
Tag des Schlafes 2020: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41951 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag