Es ist wie "Wie würden Sie entscheiden", nur 2020 und auf RTL2. Die Abgründe kennt der Strafrechtler aus den Akten, der RTL2-Zuschauer vom Vortag. Methodisch wie beim Rentner-Bingo, Alba zerbricht am Rechtsstaat. Lorenz Leitmeier hat‘s gesehen.
Wer in den 1980-er Jahren aufgewachsen ist und behutsam an das damals einzig spannende Medium Fernsehen herangeführt wurde, weiß noch: Vor 16 Uhr kam stundenlang das Testbild, "Aktenzeichen XY" mit Eduard Zimmermann war gruselig ("An diesem Tag wurde Carina B. das letzte Mal lebend gesehen…"), und samstags nach dem Baden lief "Wetten, dass…?".
Für die fundierte juristische Bildung in Schwarz-Weiß gab es "Wie würden Sie entscheiden?" mit Gerd Jauch und später (bereits in Farbe) Bernhard Töppers – Moderatoren, die selbst nach juristischen Maßstäben überschaubar locker wirkten. Das Studiopublikum sah mäßig spannende Rechtsfälle und stimmte über das Ergebnis ab, indem jeder einen Ball in die Waage einer Justitia-Figur laufen ließ - links oder rechts, je nachdem, und so neigte sich die Waage. Im Anschluss klärte dann der Moderator auf, was "in echt" rauskam. Und man stellte fest: Manchmal ist das Judiz der Laien nicht so weit weg vom Urteil, manchmal schon – so weit, so erwartbar. Wer mehr Spannung wollte, konnte ja "Aktenzeichen" gucken.
"Wie würden Sie entscheiden" reloaded
Das ist lange her, inzwischen ist bekanntlich alles anders: "Wetten, dass…?" gibt es nicht mehr, "Aktenzeichen XY" ist eine Familiensendung mit einem ehemaligen Eiskunstläufer, und "Wie würden Sie entscheiden?" läuft jetzt auf RTL 2. Es heißt "Im Namen des Volkes - So urteilt Deutschland", und wird von Alexander Stevens moderiert, einem charismatischen Rechtsanwalt und Autor ("Sex vor Gericht").
"Deutschland" sind in diesem Fall natürlich nicht Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, sondern sieben Menschen, die in zwei Reihen hintereinander sitzen, vorne drei von ihnen und hinten, leicht erhöht, vier; in einer Anordnung also, wie man sie von amerikanischen Jurys kennt – oder aus Filmen darüber, was aber vermutlich dasselbe ist. Vertreten wird "Deutschland" unter anderem von einem katholischen Pfarrer, einem Kaufmann im EDV-Bereich, einer Pflegerin und einer Studentin, die zugleich YouTuberin ist (möglicherweise auch umgekehrt). Fehlendes Rechtswissen schadet nicht, viel wichtiger ist es, emotional diskutieren oder, genauer: emotional sein zu können.
Diese Fähigkeit können die Jury-Mitglieder bestens beim Fall einsetzen, der verhandelt wird: Erwartungsgemäß geht es nicht wie damals beim ZDF darum, ob der Bußgeldbescheid in Ordnung geht, wenn Eltern mit ihrem Kind einen Tag vor den Schulferien in den Urlaub fliegen. Bei dem Bildungsauftrag, den RTL 2 erfüllt, geht es selbstverständlich um das wahre Leben, um "True Crime" oder "True Trash", wer kann das schon auseinanderhalten? Die Sprachschablone, die dabei immer zum Einsatz kommt, lautet: "Die spannendsten Fälle schreibt das Leben."
So tief sind die Abgründe nicht
In Folge 1 kommt dieses Leben allerdings gleich reichlich dialektisch daher: "Getötet, vergraben und vergessen". Die Geschichte zu diesem aufwühlenden Titel ist aus einem Leben, das die meisten Menschen vermutlich eher nicht persönlich kennen: Haushaltshilfe Petra R. sticht Rentner Hubert L., für den sie arbeitet, ein Messer in den Rücken und schlägt ihm danach die Axt auf den Schädel, sodass der Mann zwei Stunden lang röchelnd im Sterben liegt. Petra R. ruft natürlich nicht die Polizei, verscharrt vielmehr die Leiche im Garten und kassiert zwanzig Jahre lang seine Rente, bis ihr endlich die Versicherung auf die Schliche kommt – der Mann ging, obwohl inzwischen geschätzte 107 Jahre alt, nie zum Arzt. Zur Tat befragt, behauptet Petra R., sie habe in Notwehr gehandelt, Hubert L. habe sie vergewaltigen wollen.
Den Juroren werden drei Einspielfilme gezeigt, die nach und nach den Fall und seine Hintergründe offenlegen. Zunächst wird die Version von Petra R. präsentiert, der Angeklagten. Da Hubert L. nun ja leider tot ist, ihn außerdem 20 Jahre niemand vermisst hat und damit keiner etwas über ihn weiß, übernimmt Petra R. auch gleich seine Perspektive. Der dritte Film ist belanglos, muss aber, da ja drei Filme angekündigt waren, auch gezeigt werden.
Insgesamt saust damit die Axt gefühlt 15 Mal auf das Haupt von Hubert L. hinab - Axt sells. Wer mit der Fernbedienung spielt und zufällig in die filmische Darstellung des Sachverhalts reinzappt, bleibt bestimmt dabei und erhöht die Quote, nur darum geht es. Geschockt ist ohnehin niemand, so tief sind die Abgründe nicht: Der Strafrechtler kennt sie aus den Akten, der RTL-2-Zuschauer vom Vortag ("Frauentausch").
Horst, sollte kein Richter werden
Nach jedem dieser Filmchen diskutieren die Jury-Mitglieder den Fall untereinander, jeder darf nach Bauchgefühl seine "Zwischendurch-Einschätzung" ab- und sein präferiertes Strafmaß angeben ("voten"). Horst ist für Freispruch, sofort spürt er maximalen Druck seiner Kollegen: "Du solltest kein Richter werden."
Clip um Clip wird dann immer klarer, dass das Opfer ein Widerling war: Nicht nur die Haushälterin hat er angegrapscht, nein, sogar seine eigenen drei Kinder hat er sexuell missbraucht – sodass die den Kontakt abbrachen und nie nach ihm fragten. Jury-Mitglied Patricia hat daraufhin "vollste Sympathie" für die Täterin. Andererseits: Petra R. war spielsüchtig und hat die Versicherung um insgesamt 100.000,- Euro geprellt – also doch kein Mitleid mit ihr?
Welchen Anspruch die Sendung an die rechtliche Diskussion hat, zeigt die erste Frage, die Alexander Stevens der Jury stellt: "Na, wie hoch kochen die Emotionen?" Für Patricia, die den Fall nur weinend verfolgen kann, zeigt er dann seine zugewandte, empathische Seite: "Wie geht es Ihnen? Sie scheinen sehr mitgenommen."
Methodisch wie im Rentner-Bingo auf Korsika
Nachdem die Jury häppchenweise alle Informationen erhalten hat, ziehen sich die Sieben in den "Jury-Raum" zurück, in dem sie binnen zwei Stunden zu einem einheitlichen Urteil kommen müssen.
Von Drama-Musik unterlegt, kommt es, wie beabsichtigt, zu hitzigen Diskussionen. Recht hat immer der Sprecher, der Andere ist für Argumente leider sowas von unzugänglich. Zwischen Alba und Sandra herrscht dicke Luft, leider lassen sich die zwischenmenschlichen Spannungen bis zum Ende nicht mehr abbauen.
Auch die rechtlichen Einschätzungen lassen sich kaum versöhnen: Für die einen ist es zwar Mord, aber dafür ist "lebenslänglich" zu viel (dem Gesetz allerdings nicht). Für Inge gehören zwar Männer wie Hubert L. "in ein Arbeitslager, aus dem sie nur sonntags für die Kirche raus dürften", andererseits muss ja Petra R. "nicht gleich mit dem Hackebeilchen auf ihn los", oder?
Zwischen Freispruch und "lebenslang" finden die Laien dann ihr Urteil: 5 Jahre. Methodisch funktioniert das wie im Rentner-Bingo auf Korsika. Nach dem Gesetz ist so ein Kompromiss zwar nicht vorgesehen, aber wenn ein OP-Team den Blinddarm entfernen will, ein anderes das Stammhirn – warum kann man dann nicht den Arm amputieren?
So schlecht war das Testbild gar nicht
Im Anschluss an dieses Jury-Urteil präsentiert Stevens dann das echte Urteil, welches auf, Trommelwirbel, Trommelwirbel: "Drei Jahre und sechs Monate wegen Betrugs" lautete. Der Totschlag und die unterlassene Hilfeleistung: verjährt, nach über zwanzig Jahren. "Deutschland" hört dieses Urteil – und bricht zusammen: Alba schreit ihren Schmerz hinaus und verzweifelt am Rechtsstaat. Auch Sandra weint jetzt. Inge weiß, dass man nur einen guten Rechtsanwalt braucht, und schon ist man fein raus: "Recht haben und recht kriegen sind zweierlei." Einige wussten das sogar schon vorher, schauen aber vermutlich die Sendung nicht.
Da diese Weisheit noch weitere Fälle verträgt, wartet nächste Woche schon Folge 2. Und in der zeigt sich das Leben dann wieder deutlich lebendiger, fast schon fulminant: "Die verhängnisvolle Sex-Nacht: Eine Frau, ein Mann und eine verhängnisvolle Nacht in einem Hotelzimmer. Was hier hinter verschlossener Tür passiert – dazu gibt es später zwei Versionen…". An welchen echten Fall man da wohl denkt? Bei dem die Emotionen aber mal so richtig hochkochten?
Wer Rollenverhalten, Gruppenverhalten und gruppendynamische Prozesse auf hohem Niveau dargestellt haben möchte, kann sich den Film "Die zwölf Geschworenen" aus dem Jahr 1957 ansehen. Auf niedrigerem Abstraktionslevel kann er auch mit einer Schimpansen-Maske im Gesicht das Affengehege aufsuchen.
Am Donnerstagabend aber muss er nicht fernsehen. Und so schließt sich, wenn man eine Stunde durchgehalten hat, denn auch der Kreis, und man weiß definitiv: Das biedere "Wie würden Sie entscheiden?" vermisst man nicht. Überraschend hingegen ist die Erkenntnis: So schlecht war das Testbild damals gar nicht.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern (HföD), Fachbereich Rechtspflege.
Neue RTL2-Serie "Im Namen des Volkes – So urteilt Deutschland": . In: Legal Tribune Online, 04.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41217 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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