Juristen sind für vieles bekannt, aber nicht unbedingt für ihre Bescheidenheit. So kommt es, dass Gedanken, die andernorts bestenfalls als nette Einfälle gewertet würden, zu hunderten und tausenden in den Rang der "Theorie" erhoben werden. Roland Schimmel schimpft über den wissenschaftlichen Dünkel.
Schon recht früh im Studium bemerken angehende Juristen die enorme Produktivität ihres Fachs, was Theorien angeht: Saldo- und Zweikondiktionentheorie, Rechtswidrigkeits- und Zuweisungstheorie, Akzessorietäts- und Doppelverpflichtungstheorie, Wesentlichkeitstheorie, ja, zuletzt sogar die Hahn-auf-Hahn-zu-Theorie – die Reihe lässt sich mühelos fortsetzen. Die bescheideneren unter den akademischen Lehrern vermeiden den Begriff der Theorie, so gut es eben geht. Und es geht recht gut, zumal damit meist nur so etwas Schlichtes gemeint ist wie "Standpunkt", "Ansatz", "Kriterium", "Modell", "Hypothese" oder gelegentlich auch "Metapher".
Viele Studenten lieben aber die Rede von der Theorie und tragen sie begeistert weiter. Das führt übrigens zu einer gedanklichen Fixierung auf Streitstände ("…muss noch ein paar Theorienstreits auswendig lernen…!"), die in Prüfungen immer wieder den Erfolg verhindert. Ebenfalls führt es zu sozialer Isolation. Wer schon einmal mittags in der Mensa neben einer heftig diskutierenden Juristengruppe gesessen hat, ist mit dem Phänomen bestens vertraut.
Gänzlich unerträglich wird es dann, wenn in fortgeschrittenen Semestern die ersten Studentenkohorten vom Repetitor kurzzeitig in die Vorlesung zurückkehren und scheinbar souverän mit Schlagworten zur Problemlösung ("modifizierte Animus-Theorie!", "Makel-Stirn-Theorie!") um sich werfen.
Die Theorie der Theorie
Wer beim Begriff "Theorie" eher an Einsteins Arbeit zur allgemeinen Relativität denkt, mag sich fragen, ob ein großes Wort hier nicht leichtfertig für geistige Verdienste kleinen bis mittleren Ausmaßes verwendet wird.
Die diffuse Erinnerung an Popper und dessen Forderung nach Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Theorien nährt den Zweifel: So recht als falsch erweisen lässt sich die Saldotheorie nämlich nicht – eher noch erfindet man eine weitere Ausnahme. Grundsätzlicher gefragt: Wäre die Theorie falsifiziert, wenn der Bundesgerichtshof (BGH) ihr in drei aufeinanderfolgenden Entscheidungen eine Absage erteilen würde?
Auch ein Blick in die Wikipedia stärkt den Verdacht, dass in der Rechtswissenschaft ein gewisser Etikettenschwindel betrieben wird. Der Einleitungssatz des eher knappen Artikels beschreibt eine Theorie als "System von Aussagen, das dazu dient, Ausschnitte der Realität zu beschreiben beziehungsweise zu erklären und Prognosen über die Zukunft zu erstellen". Klingt gut, passt aber doch in erster Linie auf naturwissenschaftliche Theorien. Ist die Saldotheorie ein System von Aussagen? Kann man mit ihr den Ausgang eines zukünftigen Rechtsstreits vorhersagen?
Wissenschaftliche Komplexitätsbewältigung?
Für wirklich belastbare Einsichten müsste man die wissenschaftstheoretische Literatur zu Rate ziehen. Juristen befassen sich damit eher selten. Als sehr hilfreich erweist sich allerdings die Allgemeine Rechtslehre von Klaus und Hans Christian Röhl, die ein kleines Kapitel zur Frage der Theorie enthält. Dort findet sich der – ebenso zutreffende wie vernichtende – Befund, der Großteil juristischer "Theorien" erfülle noch nicht einmal die Minimalanforderungen an den Begriff. Sie enthielten nämlich nur singuläre Lösungsvorschläge für zweifelhafte Rechtsfragen. Der Rest sei überwiegend als Theorie von geringer Reichweite oder Kleintheorie anzusehen. Bezeichnenderweise besteht das Kapitel zur Hälfte aus der Erörterung von "Versatzstücken als Theorieersatz". Hier findet man 99 Prozent aller juristischen Theorien auf ein paar Stichwortpaare reduziert: objektiv/subjektiv, materiell/formell, einfach/qualifiziert usw. So sachgerecht die daraus zu entwickelnden Lösungsvorschläge sein mögen – Theorien sind dann doch ein bisschen, nun ja, größer, systematischer, erklärungsstärker.
Dass kleine Ideen oftmals im majestätischen Gewand der Theorie daherkommen, mag daran liegen, dass man sich nicht ganz sicher ist, ob die Rechtswissenschaft denn überhaupt eine Wissenschaft ist. Ob sie bejahendenfalls eher eine Geistes- oder eine Gesellschaftswissenschaft ist, kann hier offenbleiben. Da man die Beschäftigung mit dem Recht wissenschaftlich betreiben kann, nennen wir das Ganze mit vertretbaren Gründen eine Wissenschaft. Aber es bleibt ein Rest von Zweifel: Wenn andere von "Laberfächern" sprechen, fühlen sich Juristen von diesem Vorwurf schnell mitbetroffen. Statt aber den Zweifel zu pflegen, setzen wir uns lieber flugs darüber hinweg. Mit Angeberei.
Ein Hauch von Bescheidenheit
Es hat indessen auch sein Gutes, schicksalsergeben zu akzeptieren, dass, was andernorts ein guter Gedanke genannt wird oder ein tragfähiger Erklärungsansatz, vielleicht gar eine Hypothese, unter Juristen schon eine Theorie ist. So kann nämlich jeder zum Begründer einer Theorie werden, der einmal im Leben einen guten Gedanken entwickelt – die wissenschaftlichen Meriten bleiben auf Dauer erhalten. Eigentlich eine schöne Vorstellung.
Schade nur, dass es unter Juristen ganz unüblich ist, die Theorie nach ihrem Erfinder zu benennen. Die positive Forderungsverletzung kennt jeder, aber die Staub'sche Theorie der positiven Forderungsverletzung? Auch von der Vertrauenshaftung hat man schon gehört – aber verneigt man sich im Geiste vor Claus-Wilhelm Canaris als ihrem Erfinder, Entdecker, Theoretiker? Naja, eher nicht. Oder eben nur durch Belegangabe in der Fußnote.
Und so relativiert sich auch der Vorwurf der Angeberei. Wären Juristen wirklich solch schreckliche Angeber, würden sie nicht bescheiden hinter die von ihnen ersonnenen Theorien zurücktreten. Also alles nicht so schlimm. (Aber es nervt trotzdem – oder etwa nicht?)
Leseempfehlungen:
Das oben erwähnte Buch Klaus Röhl / Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008 (derzeit vergriffen) gehört sowieso in die Hand jedes juristischen Studienanfängers. § 19 des Buchs befasst sich gut verständlich mit juristischen "Theorien" (Die Verfasser plädieren übrigens erfreulich nachsichtig dafür, den juristisch-angeberischen Sprachgebrauch als falsch, aber allgemein verbreitet hinzunehmen).
Einen Sammelband über Zivilrechtliche Entdecker hat Thomas Hoeren herausgegeben, München 2001.
Roland Schimmel, Juristen sind Angeber: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8984 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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