Ehemalige KZ-Häftlinge, die im Gerichtssaal die "Marseillaise" singen? Franzosen im KZ-Drillich vor dem Gebäude? Die Jahre 1974 bis 1979 waren für die Kölner Justiz aufregende Zeiten, denen vor allem ein Richter nicht gewachsen war.
Nicht auszudenken, was heute die Bunte, die Zeit oder ein vergleichbares Fachmedium für rührseligen Porträtjournalismus über diesen Juristen schreiben würde: Trotz amtlich attestierter "Hirnleistungsschwäche, Sehstörung und Kopfschmerzbereitschaft", bedingt durch eine Hirnverletzung als Teenager, hatte er in den harten Nachkriegsjahren sein Jurastudium gemeistert und war im Alter von 28 Jahren mit einer insolvenzrechtlichen Dissertation promoviert worden.
Ungeachtet einer um 60 Prozent geminderten Erwerbsfähigkeit hatte es Victor Henry de Somoskeoy zum Vorsitzenden Richter am Landgericht Köln gebracht. Doch statt gefühlsecht als frühe Ikone der Inklusionsidee und als Mensch mit "Be_hinderung" hochgejubelt zu werden, erlitt dieser Jurist 1979/80 einen bemerkenswerten Karriereknick – Folge von fünf aufregenden Jahren, die über die Justiz der rheinischen Provinzmetropole hineingebrochen waren.
SPD/FDP und die freien NS-Mörder aus Frankreich
Es fing alles mit der Untätigkeit des Gesetzgebers im benachbarten Bonn an, zwischen 1949 und 1990 provisorische Hauptstadt des freien Deutschlands.
Durch Teil 1 Art. 3 Abs. 3 Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (Überleitungsvertrag) vom 26. Mai 1952 sahen sich die deutschen Strafverfolgungsbehörden seit 1954 gehindert, gegen NS-Straftäter in Sachen vorzugehen, in denen bereits ein alliiertes Gericht zu einer abschließenden Entscheidung gekommen war.
Dies hatte zur Folge, dass vor allem nicht wenige NS-Täter, die nach der Befreiung Frankreichs 1944/45 dort in Abwesenheit zu hohen Freiheitsstrafen oder zum Tod verurteilt worden waren, sich nicht die Mühe machen mussten, nach Lateinamerika zu fliehen – Klaus Barbie (1913–1991), der frühere Gestapo-Chef in Lyon, betätigte sich dort beispielsweise als Sicherheitsfachmann und BND-Mitarbeiter. Man blieb in Deutschland unbehelligt, Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz (GG) schützte vor der Auslieferung.
Am 2. Februar 1971 schlossen die Regierungen in Bonn und Paris zwar ein Zusatzabkommen, das den deutschen Behörden die Strafverfolgung von in Frankreich bereits abgeurteilten deutschen NS-Verbrechern wieder erlauben sollte.
Obwohl sie mit der SPD die Bundesregierung stellte, stand die FDP mit dem Abgeordneten Ernst Achenbach (1909–1991), einem selbst in die Deportation von Juden aus Frankreich verstrickten Juristen, aber in verhaltener Opposition zu dem Abkommen – es sollte vier Jahre bis zur Ratifikation dauern, der bis zum Schluss die CSU-, lange auch die CDU-geführten Länder im Bundesrat widerstrebten. Die weltweit führende deutsche Erinnerungskultur hatte es noch nicht zum rhetorischen Warenzeichen der Bundestagsparteien gebracht.
NS-Täter werden im bürgerlichen Leben gestört
In Bewegung kamen die wilden Jahre der Kölner Justiz, so erinnern sich die Journalistin und der Rechtsanwalt Beate (1939–) und Serge (1935–) Klarsfeld in ihrer gemeinsamen Autobiografie, durch einen Anruf bei der Telefonauskunft.
Als Rechercheure zu den Shoah-Tätern gingen sie von der einfachen Annahme aus, dass sich die vom Überleitungsvertrag geschützten ehemaligen NS-Beamten und -Offiziere vorzugsweise in Städten aufhielten, in denen sie auf die Unterstützung alter Kameraden in Justiz und Verwaltung würden bauen können.
Zehn Minuten nach ihrer Anfrage – Kinder des Online-Zeitalters verstehen vielleicht gar nicht, was für ein magischer Akt ein Telefonat mit der Auskunft seinerzeit war – erfolgte der Rückruf, dass Kurt Lischka (1909–1989) tatsächlich mit Rufnummer und Adresse, Bergisch-Gladbacher-Straße in Köln-Holweide, zu finden sei. Der promovierte Jurist, Gestapo-Referatsleiter für Judenangelegenheiten, war 1940 zunächst Leiter seiner Behörde im Kölner EL-DE-Haus gewesen, seit dem November dieses Jahres dann als hochrangiger Gestapo-Beamter in Paris tätig. Zu seinen Aufgaben zählten dort neben der Verfolgung politischer Gegner - er genehmigte etwa aktenmäßig Folterung - die Organisation der Deportation Zehntausender Juden nach Auschwitz.
Ähnliches galt für weitere hochrangige NS-Beamte, die durch die Bank rüstig im Alter von Anfang 60 Jahren ihren bürgerlichen Berufen nachgingen. Lischka, der durch den Holocaust Erfahrung mit Eisenbahn-Logistik hatte, arbeitete etwa als leitender Angestellter eines Getreidegroßhändlers gleich im Schatten des Kölner Doms.
Die Klarsfelds konfrontierten den früheren Gestapo-Juristen und andere, die durch die unterlassene Ratifikation des Zusatzabkommens außer Verfolgung blieben, zunächst journalistisch, dann versuchten sie sich nach schmerzhaft dilettantischen Vorbereitungen darin, Lischka von Köln nach Paris zu entführen – ein Vorhaben, das zwar in einem frühen Versuchsstadium scheiterte, aber Anlass gab, die Sache groß in den Medien unterzubringen. Beate Klarsfeld wurde, alles andere als unfreiwillig, wiederholt in Köln in Haft genommen.
Eine Zivilgesellschaft ist kein Ponyhof für hirngeschädigte Richter
Hier trafen die Klarsfelds nun auf Victor Henry de Somoskeoy, der sich bereits in anderen Fällen als schwieriger Zeitgenosse erwiesen hatte.
1973 sah sich de Somoskeoy beispielweise durch einen Kommentar des Schriftstellers Heinrich Böll (1917–1985) gekränkt, der ein Verfahren seiner Kammer, in der Sache eines tätlichen Angriffs junger Kommunisten auf einen NPD-Stand in Köln-Nippes, als einseitig kritisierte – mit Worten, die der Richter als Vorwurf der Rechtsbeugung verstanden haben wollte. Wie eine 1979 publizierte Kampfschrift gegen den Richter dokumentiert, ging de Somoskeoy mit Strafantrag wegen Beleidigung und, nachdem sein Erfolg ausblieb, auch mit Dienstaufsichtsbeschwerden und einer Verfassungsbeschwerde dagegen vor – ebenfalls erfolglos, wenngleich vielleicht nicht derart abwegig, wie es heute scheint. Denn die Rechtsprechung dazu, ob ein Jurist in moralisierender Kritik (hier: Böll) auch den Vorwurf juristischen Fehlverhaltens (hier: Rechtsbeugung) sehen – und sich beleidigt fühlen – darf, war damals noch jung.
Mit dem Verfahren gegen Klarsfeld - sie hatte sich im April 1974 unter Aufsicht der eingeladenen Presse auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau verhaften lassen - stand Richter de Somoskeoy unverhofft im Blick der internationalen Medien. Dass das Gericht z.B. zögerte, den israelischen Anwalt Arie Marinsky in englischer Sprache für Klarsfeld plädieren zu lassen, oder wissen wollte, worüber sich dieser während der Verhandlung mit dem Konsul seines Landes austauschte, galt dem aufgebrachten Publikum bereits als Beleg dafür, wie voreingenommen die deutsche Justiz sei – personifiziert in Richter de Somoskeoy.
Valéry Giscard d’Estaing (1926–), der französische Präsident, forderte öffentlich, dass die französischen Zeugen, Überlebende deutscher Konzentrationslager, in der Strafsache Klarsfeld angehört werden sollten. Das israelische Parlament befasste sich parallel zum Prozess mit dem nicht ratifizierten deutsch-französischen Abkommen. In Frankreich und Israel, auch am Klingelpütz, dem 1969 abgerissenen Kölner Gefängnis, einem zentralen Hinrichtungsort der NS-Terrorjustiz, demonstrierten KZ-Überlebende gegen die Tatsache, dass Klarsfeld der Prozess gemacht wurde, während der ehemalige Gestapo-Beamte Lischka auf freiem Fuß blieb. FDP-Mann Achenbach warb derweil darum, seine Leute zu amnestieren.
Klarsfeld wurde in dem Verfahren wegen der versuchten Entführung Lischkas zu zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, auf die insgesamt 37 Tage Untersuchungshaft angerechnet wurden. Das Publikum sang empört die Marseillaise.
1979: Lischka-Prozess und Somoskeoy-Affären
Nachdem das Zusatzabkommen zum Überleitungsvertrag 1975 doch noch vom Bundesgesetzgeber ratifiziert worden war, konnten die Ermittlungen gegen Lischka und seine ebenfalls bereits von französischen Gerichten in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verurteilten Kollegen Herbert Hagen (1913–1999) und Dr. iur. Ernst Heinrichsohn (1920–1994) wieder aufgenommen werden. Das Landgericht Köln verurteilte sie am 11. Februar 1980 zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und zwölf Jahren.
Richter de Somoskeoy stand nach dem Klarsfeld-Prozess weiter im Mittelpunkt einer freilich nur noch deutschen und sehr speziellen Kölner Öffentlichkeit. Der damals im linksradikalen Milieu der Domstadt vernetzte Journalist Henryk M. Broder (1946–) warf de Somoskeoy beispielsweise in einem WDR-Radiobeitrag vor, ausländische Angeklagte ungleich härter zu behandeln als deutsche, wobei Broder die Fakten womöglich ein wenig im Sinn seiner These zurechtlegte und die erwartbare Gegenwehr des Richters kommentierte: "Der Strafantrag, den Herr de Somoskeoy gegen Marianne Lienau und mich gestellt hat, zeichnet sich durch jene Mischung aus Anmaßung und Beschränktheit aus, die man nirgendwo in solcher Reinkultur findet, wie unter vielen Richterroben." Die Invektive kostete den WDR-Kommentator 3.000 Mark.
Nachdem Richter de Somoskeoy das 31. Verfahren wegen ehrverletzender Medien-Beiträge in Gang gebracht hatte, entdeckte seine Behörde im Herbst 1979 ihre Fürsorgepflicht: Zum 1. Juni 1980 sollte er vom Vorsitz seiner Straf- in den einer Zivilkammer wechseln – wogegen de Somoskeoy erfolglos mit dem Argument protestierte, bis zu seiner Versetzung in die Strafkammer im Jahr 1967 habe er unter Herzrhythmusstörungen, chronischen Magen- und Darmleiden gelitten. Die Tätigkeit als Strafrichter habe seiner Gesundheit gut getan, jetzt drohe der Rückfall in seine Leiden.
Ein Rückfall in die Anonymität richterlicher Arbeit war ihm immerhin vergönnt. Seit 1980 wurde es still um Richter de Somoskeoy. Schade eigentlich, denn als ambivalente Ikone der Inklusionsidee oder als Journalistenschulbuchfall krasser Kampagnenpublizistik hätte er einigen Nachruhm verdient.
Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35935 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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