Am 26. Juli 1844 schoss der vormalige Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech zwei Mal auf den König von Preußen – es war der erste Attentatsversuch dieser Art. Bei der Ahndung des Verbrechens kam, mit Abstrichen, noch das ältere Strafrecht zur Anwendung. Das Attentat führt in eine fremde, ja romantische Welt: Preußen, unser eigener innerer Orient. Von Martin Rath.
Am Morgen des 26. Juli 1844 standen eine in den Tagen zuvor ungnädig behandelte Bittstellerin – zwecks Übergabe einer Petition – und ein gekränkter Bürgermeister a.D. – aus ganz anderen Motiven – am Stadtschloss zu Berlin, um auf ihren Landesherren zu warten. Die Tochter des Bürgermeisters gibt das weitere Geschehen so wieder:
"Nicht lange ließen die aus so verschiedenen Gründen Erwarteten auf sich harren, bis sie die Treppe herunterkamen. Die Königin steigt in den Wagen und indem ihr Gemahl folgen will, naht diesem jene Dame und überreicht dem König ein Schreiben. Dieser nimmt es an, überreicht es einem in der Nähe stehenden Kammerdiener, und folgt seiner Frau in den Wagen. Der Lakei schließt die Thür und indem er im Begriff ist, auf seinen Platz zu springen, tritt mein Vater an den Wagen, richtet seine Waffe auf die Brust Friedrichs und feuert in 2 schnell auf einander folgenden Schüssen ein Doppelpistol auf den König ab. – – – – – – – – – – – – – – – – Pulverdampf umhüllt im Augenblick das Ganze. Im Wagen ist die Königin zurückgesunken und erholte sich erst, als sie bemerkt, daß ihr Gatte Lebenszeichen von sich giebt und sie zur Beruhigung anredet."
Der König nimmt es gelassen
Über die tatsächlichen Schäden an der Person des Königs und seiner Gattin beziehungsweise an Kleidung und Kutsche gehen die Überlieferungen auseinander. Elisabeth Tschech spekuliert 1848 in ihrer Darstellung über einige blaue Flecken. Auf ihre Schilderung wird zurückzukommen sein. Der König selbst nahm das Attentat unaufgeregt: "Kinder, mir fehlt nichscht" lässt die Tschech ihn berlinern, er zeigte sich dem Volk – in Gestalt einiger Soldaten und Polizisten, die den Attentäter in Gewahrsam nahmen –, setzte sich in die Kutsche und fuhr, wie geplant, für die kommenden zwei Monate in den Urlaub.
In seiner Funktion als Politiker wird dieser Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861), der von 1840 bis 1861 als König von Preußen fungierte weniger gelassen betrachtet. Die von der deutschen Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone lehnte er im April 1849 barsch ab. In Preußen selbst blieb eine liberale Verfassung ein Intermezzo von Gnaden dieses Königs. Sieht man von seinen konservativen, ja romantisch-reaktionären Vorstellungen zum Eherecht ab, war er in den juristischen Reformen der Zeit aber nicht nur rückwärtsgewandt.
Ex-Bürgermeister Tschech – ein Bilderbuchquerulant?
In ihrer wohlwollenden bis liebevollen Darstellung ihres Vaters und seiner Motive, den König von Preußen töten zu wollen, zeichnet Elisabeth Tschech, die 1824 geborene Tochter, das Bild eines kunstsinnigen und weltscheuen Mannes: Der Großvater war ein evangelischer Geistlicher gewesen, womit sich Heinrich Tschech in die Liste entsprechend auffälliger Pfarrhauskinder einreiht, auf der sich nicht zuletzt die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin (1940-1977) findet – neben eher rhetorisch heiklen Figuren wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) oder Benjamin von Stuckrad-Barre (1975–).
Für den studierten Juristen und Gemeindebeamten Tschech führte diese Herkunft unter den preußischen Zeitumständen zu einer Haltung, in der er nicht gut mit seinen Vorgesetzten zurechtkam, die aus dem ortsansässigen, bodenständigen Adel stammten – also aus einer eher bildungsfernen Schicht. Tochter Tschech gibt das Leben ihres Vaters als Abfolge von Enttäuschungen wieder. Nach seiner gefährlichen Arbeit als "Cholerakommissionsmitglied" – er sorgte für die Erstversorgung der Infizierten bei der gefährlichen Epidemie von 1831/32, die u.a. den Staatsphilosophen G. F. W. Hegel unter die Erde brachte – wurde Tschech z.B. bei der Verleihung der eigens gestifteten Dienst-Medaille schlicht vergessen.
Als Bürgermeister im brandenburgischen Storkow überwarf sich Tschech mit den übrigen Vertretern der Kommune. Bei der Besetzung des Förster-Amtes will Bürgermeister Tschech auf Fachkompetenz, statt auf Klüngel gesetzt haben. Diese Geschichte verfolgte ihn noch lange, sollte er doch nach seiner Entlassung aus dem Bürgermeisteramt Holz bezahlen, das ihm privat zustand, das er aber inzwischen verkauft hatte. Tschech scheint neben liebenswerten, aber weltabgewandten Eigenschaften auf die Wahrnehmung des eigenen Scheiterns fixiert gewesen zu sein schien: Als er aus Storkow abreist, regnet es – und schon sind die Möbel ruiniert. Wegen der Querelen bittet er beim König um Entlassung, die ihm gewährt wird. Einen neuen Posten erhält er nicht, woraufhin er so lange bei den – freilich impertinent untätigen – königlichen Behörden vorstellig wird, bis Tschech im König selbst seinen Feind entdeckt, der allerdings von diesem Glück bis zum 26. Juli 1844 gar nichts weiß.
Blackbox: Inquisitionsprozess
Inhaftiert, aber offenbar höflich, ja teilweise zuvorkommend behandelt – und das trotz seiner Auskunftsfreude über die persönlichen, politischen und moralischen Gründe –, folgt der Strafprozess gegen Heinrich Tschech den Spielregeln des alten Inquisitionsprozesses: Adolf von Kleist (1793-1866), einer der Kammergerichtspräsidenten, führt die Untersuchung: Tochter Tschech (Mutter und Schwester sind verstorben) wird befragt, weil sie mit der Petentin am Morgen des Attentats verwechselt wurde. Natürlich will man auch wissen, ob sie Kenntnis von den Plänen ihres Vaters hatte.
Tschech bleibt, Verteidigungsrechte werden erst durch Gesetz vom 17. Juli 1846 eingeführt, ohne juristischen Beistand, das Verfahren ist nicht-öffentlich, sodass das Urteil im Dezember 1844 überraschend erfolgt. Nach einer Kabinettsordre vom 14. Juli 1841 waren Straferkenntnisse in Hochverratssachen zwar nicht mehr gesondert dem König vorzulegen, damit der das letzte Schicksal des Angeklagten von der Frage abhängig machen konnte, ob Reue gezeigt wurde. Trotz solcher Anordnungen gingen die Akten in derartigen Kapitalstraftaten aber doch über das Justizministerium ins engere Kabinett, sodass letztlich der König, sein Bruder und ausgewählte Minister das Urteil fassten.
Das materielle Strafrecht war eindeutiger, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 2. Teil, § 92, 93: "Ein Unternehmen, welches […] gegen das Leben oder die Freyheit seines Oberhaupts abzielt, ist Hochverrath." Als Rechtsfolge sah § 93, wenn auch nicht im Wortlaut, vor, den Verurteilten zu rädern, also die Knochen zu brechen und ihn auf ein Wagenrad zu flechten – eine Strafe, die in Preußen zuletzt 1841 vollzogen worden war: "Wer sich dessen schuldig macht, soll nach Verhältniß seiner Bosheit, und des angerichteten Schadens, mit der härtesten und schreckhaftesten Leibes- und Lebensstrafe hingerichtet werden."
2/2: Todesurteil, Rechts- und andere Folgen
Verkündet wurde Tschech das Urteil nach Aktenlage am 12. oder 13. Dezember 1844. Elisabeth Tschech, die sich in der Nacht vor der Hinrichtung ausführlich mit ihrem Vater aussprechen durfte, empört sich 1848 über die Wortwahl: Durch königliche Gnade war das Rädern zur Enthauptung mit dem Beil abgemildert worden. Ihre Schilderung dieser Nacht gehört in die Sprachen aller hinrichtungsfreudigen Länder übersetzt, vor allem jener, die das Töten von Staats wegen zur hygienisch vernünftigen Operation karikieren: Das Trauma der 20-jährigen Tochter kündigt sich in dieser Erzählung an. Derweil wird der selbstmörderische Charakter der Tat deutlich. Ein Bekenntnis der Reue, so klingt selbst bei der schwer vom Vater eingenommen Tochter an, hätte die Hinrichtung wohl abgewendet. Doch der Wunsch, den König als unrechten Herrscher zu sehen, machte Tschech diesen Akt des Selbsterhalts unmöglich.
Vollzogen wurde die Enthauptung am 14. Dezember bei der Festung Spandau, die Öffentlichkeit wurde vor allem durch Soldaten gestellt, die Identität des Verurteilten und seines Verbrechens erst jetzt bekannt gegeben. Das Ansehen des Königs litt gleichwohl.
Zu den weiteren Rechtsfolgen zählte die Verbannung der Tochter, Allgemeines Landrecht II., § 95: "Dergleichen Hochverräther werden nicht nur ihres sämmtlichen Vermögens und aller bürgerlichen Ehre verlustig; sondern tragen auch die Schuld des Unglücks ihrer Kinder, wenn der Staat, zur Abwendung künftiger Gefahren, dieselben in beständiger Gefangenschaft zu behalten, oder zu verbannen nöthig finden sollte." Elisabeth Tschech wurde über rund zwei Jahre bei einem evangelischen Pastor im westfälischen Kamen einquartiert, ihre Post von Geistlichen kontrolliert, die Lektüre von Zeitungen, die ohnehin der Vorzensur unterlagen, von diesem nochmals zensiert – von der geistigen Enge des evangelischen Pfarrhauses – siehe Ensslin, Stuckrad-Barre – ganz abgesehen.
Ein moralisches Urteil
Der Geistliche beklagte den Bau der rheinisch-westfälischen Eisenbahn, welche die Gottlosigkeit nach Kamen trage. Die junge Frau Tschech bestärkte sie im Gedanken zur Flucht. Ihr Buch über den schwierigen Vater erschien 1848, dem Revolutionsjahr, im Zentralgebiet für linksradikale Umtriebe, also in der Schweiz: Ihr Berner Verleger Friedrich Jenni versorgte das deutsche Publikum u.a. mit frühkommunistischen Schriften. Angegriffen wurde das Ansehen des regierenden deutschen Adels von der Schweiz aus derweil mit eher unterleibsbezogenen Arbeiten: Die populären Spekulationen über das angebliche Fürstenkind Kaspar Hauser wurden hier publiziert. Die Geschichte der Elisabeth Tschech gehört wohl in dieses Spektrum zwischen den Polen seriöser Justiz- und Herrschaftskritik sowie sentimentaler Kolportage.
Interessant am Fall des versuchten Königsmords bleiben: Erstens, die damals populäre Lust, ein Staatsoberhaupt zu töten. Die Berliner kannten bald Spottlieder ("Hatte je ein Mensch so’n Pech / wie der Bürgermeister Tschech, / dass er diesen dicken Mann / auf zwei Schritt’ nicht treffen kann!"). Zweitens, das Psychogramm des Täters: Unheimliche Kompromisslosigkeit verbunden mit der Lust, die Widrigkeiten des eigenen Lebens auf Missstände im Staat zu projizieren. Und schließlich, Preußen als unser eigener kleiner Orient, die Verbindung von beidem: Teils alberne, teils nachvollziehbare Kränkungen, die einen Menschen zum Selbstmord von der Hand des Henkers treiben, das überzogene Ehrempfinden gegenüber sich selbst und dem Herrscher. Findet man derlei in der deutschen Geschichte wieder, hält man sich im moralischen Urteil über die ähnlich absurden Ehr-Vorstellungen heutzutage vielleicht ein wenig zurück.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Versuchter Königsmord in Berlin . In: Legal Tribune Online, 27.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12686/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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