Recht frech – die etwas andere Literaturübersicht: Vom leeren Tabu­raum und juris­ti­scher Grenz­gän­gerei

von Martin Rath

16.10.2011

Als juristische Erfindung des Jahres darf der "Taburaum" gelten. Bei Anklopfen bleibt er aber leer. Die Lektüretour führt daher nach Übersee: US-Juristen befassen sich mit sexuellen Abwegen, Chinesen mit den Tücken von Hotelspesen. Zurück führt Martin Rath dann mit einer Antwort auf die Frage, warum deutsche Juristen weltweit nicht so beliebt sind, wie sie es gerne wären.

Profession und Konfession liegen nicht nur sprachlich nah beieinander. Zum Professor wird der deutsche Intellektuelle, wenn er etwas zu bekennen hat. Die tiefen Worte eines Juraprofessors wärmen den hoffentlich hellwachen studentischen Hörern die Ohren. Für die Aufmerksamkeit der Fachkollegen sorgt es, wenn ein Professor daherkommt und einmal einen ganz neuen Gedanken präsentiert.

Mit einer auf den ersten Blick ganz frischen Idee meldet sich Stefan Haack, ein noch junger Professor für öffentliches Recht in Bonn, in der altehrwürdigen Fachzeitschrift  "Archiv für öffentliches Recht" (AöR Band 136 [2011], 365-401) zu Wort. "Verfassungshorizont und Taburaum" ist sein Aufsatz überschrieben. Auf den zweiten Blick ist das aber eine doch sehr merkwürdige Verbindung von Bekennermut und Bekenntnisarmut.

Einen Baustein für Stefan Haacks juristische Erfindung, den "Taburaum", liefert die umstrittene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Neonazi-Aufmärschen im bayerischen Wunsiedel (Urt. v. 04.11.2009, Az. 1 BvR 2150/08). Der Ort wurde bekannt durch die Grabstätte des langjährigen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, der 1987 in alliierter Haft gestorben war. Seine rechtsextremen Fans versuchten jedes Jahr aufs Neue, ihrer hohen Meinung vom verurteilten NS-Verbrecher Ausdruck zu verleihen.

Nicht zuletzt gegen den bayerischen Skandal der so genannten „Rudolf-Heß-Gedenkkundgebungen“ setzte der Gesetzgeber den Straftatbestand des § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB). Die Vorschrift sah seit 2005 ausdrücklich vor, dass zu bestrafen ist, wer "öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt".

Unanständig: Nazi-Aufmärsche, Geschwisterinzest und die muslimische Nonnentracht

Das Grundgesetz schützt die Meinungsfreiheit. Weil der Staat in einer demokratischen Auseinandersetzung nicht Partei ergreifen soll, darf die Meinungsfreiheit regelmäßig nur "durch allgemeine Gesetze" beschränkt werden. In der sehr speziellen Beschränkung des § 130 Abs. 4 StGB mochte 2009 auch das BVerfG kein "allgemeines Gesetz" mehr sehen.

Um die Norm oder ihre Anwendung trotzdem nicht als verfassungswidrig verwerfen zu müssen, stützte sich das BVerfG 2009 auf ein Argument, von dem man so zuvor nicht gehört hatte und das Stefan Haack nun in seine Lehre vom "Taburaum" einfügt: Es gibt Dinge, so könnte man das einstimmige Votum der Verfassungsrichter etwas vergröbernd zusammenfassen, die sind so unanständig, dass man sie einfach nicht von Rechts wegen zulassen darf. Nationalsozialistische Mumienwanderungen dürften unschwer so unappetitlich ausfallen.

Ähnlich unanständig könnten – und Professor Haack legt in seinem Aufsatz immer wieder großen Wert auf diesen Konjunktiv – solch unschöne Dinge sein wie der Geschwisterinzest, dessen Strafbarkeit das BVerfG ebenfalls überraschend kurz angebunden bejaht hatte oder die neuerdings um sich greifende Mode muslimischer Damen, sich in der Öffentlichkeit zu bekleiden, wie man das früher nur von katholischen Nonnen kannte.

Man tut Professor Haack hoffentlich kein Unrecht an, wenn man seine neue Lehre vom "Taburaum" auf folgenden Gedankengang verkürzt: Gewisse menschliche Triebe auszuleben, liegt so weit außerhalb der juristischen Wertschätzung, dass nicht mehr weiter groß zu prüfen sei, ob das Triebleben von Freiheitsrechten gedeckt wird. In diesem so genannten "Taburaum" und damit außerhalb des "Verfassungshorizonts" könnten die übleren Seiten der menschlichen Sexualität sowie der NS-Vergangenheit abgelegt werden.

Leerer Taburaum und Fleischeslust im US-Symposion

Eine Sphäre des menschlichen Lebens zu konstruieren, jenseits derer sich Juristen aus Anstandsgründen mit Wertungen zurückzuhalten hätten, ist ein vergleichsweise starkes Stück an professoralem Bekennermut. Leider lässt Professor Haack seinen "Taburaum" weitgehend leer. Er benennt nicht, was ihm unzweifelhaft urteilsunwürdig erscheint. Gewiss, sollte sich einmal ein Rudel Neonazis dazu verabreden, "Führer‘s Geburtstag" in den Räumen einer Peepshow zu feiern, dabei ein Zwergenweitwerfen zu veranstalten und sich anschließend durch reproduktives Klonen fortzupflanzen – dann läge das wohl eindeutig im "Taburaum". Man wüsste gern, was denn noch.

Bekennermut der weniger zarten Art zeigt ein Tagungsbericht in einer juristischen Zeitschrift mit feministischem Anspruch, der nach den rechtsphilosophischen Anstrengungen aus Bonn ein wenig Entspannung verspricht: Im "Berkeley Journal of Gender, Law & Justice" (2011, 198-203) berichtet Hannah Alsgaard, eine junge Politologin und Juristin in spe, von einem Kongress an der kalifornischen Universität.

Unter dem Titel "Uncovered: The Policing of Sex Work" hatten Juristinnen und Juristen das rechtspolitische und rechtswissenschaftliche Gespräch gesucht – mit ehemaligen und aktiven Prostituierten. Verhandelt wurden sehr lebenssatte Fragen, etwa die nach Unterschieden in der polizeilichen Duldungspraxis in diesem an sich (beinahe) US-weit verbotenen Gewerbe. Hannah Alsgaard weiß auch von der Praxis der US-Behörden zu berichten, Aufenthaltsgenehmigungen für die Opfer sexuell motivierten Menschenhandels nur restriktiv zu erteilen. Ein auch hierzulande bekanntes Problem. Beeindruckt zeigt sich die Berichterstatterin von der klaren Sprache der Konferenz.

Chinesische Korruption geht durch den Magen und deutsche Diätenprobleme

Menschenhandel und Prostitution haben derzeit in Deutschland Konjunktur. Augenfällig ist jedenfalls, dass nach der Osterweiterung der Europäischen Union eine Stadt nach der anderen ihre Sperrbezirke erweitert. Dazu muss man keine Meinung haben, allein der zeitliche Zusammenhang besticht und erlaubt die Frage: Ob sich je eine rechtswissenschaftliche Fakultät dem Realitätsleid aussetzen würde, sich empirisch mit solchen Entwicklungen zu befassen, wie man das in Berkeley tat?

Einen Tabubruch durch das Vordringen der Realität ins juristische Schrifttum lässt auch ein Aufsatz unter der Überschrift "Eat, Drink, Firms, Government: An Investigation of Corruption from the Entertainment and Travel Cost of Chinese Firms" vermuten.

Im "Journal of Law and Economics" (Band 54 [2011], 55-78) stellen Hongbin Cai, Haming Fang und Lixin Colin Xu ihre Untersuchung der "Spesenkosten" chinesischer Unternehmen vor. In den zugänglichen Kostenrechnungen chinesischer Unternehmen entdeckten die drei Ökonomen eine wilde Mischung: Über "Spesen" für Unterhaltungs- und Reisekosten werden offenbar Bestechungsgelder für bevorzugte staatliche Dienstleistungen ebenso abgerechnet wie Schutzgelder, mit denen Steuererleichterungen erreicht werden. Mit einem Anteil von rund drei Prozent an den Gesamtausgaben der Unternehmen werden daneben die weltweit üblichen Vergnügungsexzesse des Managements abgedeckt, aber auch ganz gewöhnliche Beziehungen zu Lieferanten und Kunden gepflegt.

Das Thema "Korruption in China" ist ein wenig anstößig. Fast sollte man annehmen, nur mit allen Wassern des Dalai Lama gewaschene Exilchinesen könnten sich damit öffentlich beschäftigen. Weit gefehlt. Die untersuchten Zahlen stammen von der chinesischen Planungsbehörde. Hongbin Cai lehrt an der Universität Beijing. Die nach Regionen und ihrem ökonomischen Entwicklungsgrad differenzierende Untersuchung dürfte vorbildlich sein.

Schwer vorzustellen ist beispielsweise, dass die "Neue Juristische Wochenschrift" (NJW) einmal eine Untersuchung über die Nebenverdienste deutscher Parlamentarier, den ökonomischen Entwicklungsgrad ihrer Wahlkreise und die Verteilung öffentlicher Aufträge publizieren könnte. Guten Willen muss man dem Zentralorgan des deutschen Juristenstandes immerhin attestieren: Hans Herbert von Arnim, pensionierter Professor der Verwaltungshochschule Speyer setzt sich in der NJW (2011, 3.013-3.015) mit den jüngsten Vorgängen der staatlichen Politikfinanzierung auseinander – der Titel seiner scharfen Abrechnung: "Die Parteiendiätennovelle – Ein Blitz-Gesetz".

Von Arnim merkt an, dass es im Juni 2011 auf einmal sehr schnell gegangen sei: Nachdem "GRECO",  die Korruptionsbekämpfungsgruppe des Europarats, schon im Jahr 2009 "erhebliche Kontrolldefizite bei der deutschen Parteien- und Abgeordnetenfinanzierung festgestellt habe", sei diese Kritik bis zum 30. Juni 2011 ignoriert – und dann vom Bundestag "brüsk zurückgewiesen" worden.

Schnell, zu nächtlicher Stunde und im Medienbetrieb unsichtbar gemacht durch die übermächtige Debatte um den sogenannten Atomausstieg habe der Bundestag am gleichen Tag die Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung und eine Reform der Parteienfinanzierung beschlossen. Von Arnim kommt auf beachtliche Zahlen. Auf Staatskosten würden von den Abgeordneten in Bund und Ländern inzwischen rund 10.000 persönliche Mitarbeiter beschäftigt, regelmäßig auch im Dienst ihrer Parteien. Allein sie kosteten mehr als 400 Millionen Euro jährlich.

Von-Arnim-Test politischer Etabliertheit und Hawala-Empirie

Im Schatten von Atomausstieg, PID-Debatte und Sommerloch habe die Öffentlichkeit auch nicht der Skandal erreicht, dass der Bundestag eine heimliche Schlechterstellung der kleinen, noch nicht etablierten Parteien ("Piraten", "Freie Wähler") beschlossen habe. Auch die vom BVerfG ausdrücklich gerügten Zusatzeinkommen der Parlamentarischen Geschäftsführer  – von Peter Altmaier (CDU) bis Volker Beck (Grüne) – seien zum öffentlichen Geheimnis geworden und würden von den beteiligten Fraktionen erfolgreich als Tabu behandelt.

In den 1980er-Jahren wurde Hans Herbert von Arnim als Experte in Parteienfinanzierungsfragen gerne von den damals noch nicht etablierten "Grünen" zitiert. Sollten vergleichsweise neue Parteien wie die "Piraten" einmal vor der Frage stehen, ob sie schon etabliert sind oder es noch werden, ließe sich ein einfacher Hans-Herbert-von-Arnim-Test durchführen: Man messe polygraphisch Blutdruck und Hautschweiß der Parlamentarischen Geschäftsführer unterschiedlicher Fraktionen, während aus den gesammelten Schriften des Speyerer Gelehrten zitiert wird. Reaktionen, die auf Ausschläge des Scham- und/oder Aggressionszentrums hindeuten, würden sich in einen Grad politischer Etabliertheit umrechnen lassen.

Das wäre zwar eine hübsche Idee, weil auf diese Weise sogar die NJW einmal in den Genuss einer zahlensatten Untersuchung käme, ist aber zugegebenermaßen ein eher launiger Gedanke, gespeist von der Armut an juristischer Empirie. Für empirische Einsichten in tabuisierte Themen hilft oft ein Griff in die  englischsprachige Publizistik. Mit der sogenannten muslimischen Parallelgesellschaft befasst sich zwar derzeit jeder Stammtisch, der etwas auf sich hält. Einzelaspekte, die von juristischem Interesse sind, werden aber oft in einem staatsphilosophischen oder kriminalpolitischen Rahmen allzu eng betrachtet. Ein Beispiel bietet, um beim Tabuthema "Geld" zu bleiben, das sogenannte "Hawala".

"Hawala", also der Geldtransfer außerhalb des staatlich überwachten Banksystems, kam nach den Terrorakten des 11. September 2001 wenn überhaupt als Thema bank- oder strafrechtlicher Betrachtungen vor.

Im "Journal of Money Laundering Control", einem Magazin zu Fragen der Geldwäsche (Jahrgang 14 [2011], Seiten 210-224) bietet Jonas Rusten Wang, Mitarbeiter des Friedensforschungsinstituts Oslo, hingegen einen deutlich erweiterten Überblick: "Regulating Hawala: a comparison of five national approaches". Der aus dem muslimischen Bankwesen stammende Begriff "hawala" wendet Rusten Wang auch auf andere Geldtransfersysteme außerhalb des Bankwesens an. Seine Zahlenangaben sind bemerkenswert: 14,66 Prozent der Gelder, die von Deutschland nach Marokko fließen, werden über kleine, private „Transporteure“, Wechselstuben und ähnliche Familien- oder kleingewerbliche Unternehmen weitergereicht. Aber auch im gewiss nicht unbedeutenden Zahlungsverkehr zwischen Deutschland und China spielt das "Hawala"-Prinzip mit einem Anteil von 12,9 Prozent keine eben kleine Rolle.

"Law made in Germany" – kein Genesen am deutschen (Rechts-)Wesen

Hält der norwegische Geldtransfer-Forscher die ernüchternde Perspektive darauf bereit, wie verkehrt, weil eingeengt auf kriminal- oder integrationspolitische Fragen ein geldwertes Thema hierzulande abgehandelt wird, soll zum Schluss noch auf eine scharfe Stellungnahme  von Rechtsanwalt Alexander F. Peter in der Juristenzeitung (2011, 939-946) hingewiesen werden. Er geht der Frage nach "Warum die Intiative 'Law – Made in Germany' bislang zum Scheitern verurteilt ist".

Peter, der als Anwalt in Frankfurt am Main und in New York zugelassen ist, hält die kürzlich neu gestartete Kampagne zugunsten des deutschen und kontinentaleuropäischen Rechts für fragwürdig. Ihm werde eine im Vergleich zum angelsächsischen Recht überlegene Leistungsfähigkeit zugeschrieben, die durch Tatsachen nicht belegt sei. Hinzu kämen eher klägliche Modernisierungsversuche, wie das Unterfangen, in Deutschland Zivilprozesse in englischer Sprache zu führen. Peter zitiert aus der Stellungnahme der American Chamber of Commerce in Deutschland: Was sei zu halten "von einer Beweisaufnahme, bei der die Zeugenaussagen zwar in Englisch, aber nicht wörtlich ('verbatim'), sondern zusammenfassend durch den Filter des eine Aussage ins Protokoll diktierenden Richters wiedergegeben werden? Die Art der Protokollführung in deutschen Gerichtsverfahren ist im internationalen Vergleich so abschreckend, dass sie aus der Sicht von Juristen, die anderes gewöhnt sind, die Vorteile einer Verfahrensführung in Englisch schnell zunichte macht."

Die jüngeren Versuche, der Welt das deutsche Recht schmackhaft zu machen, leiden über solche Details hinaus – Peter zufolge – an einem viel stärkeren Tabu: der Abschottung der deutschen Anwaltschaft. Für das Jahr 2009 nennt er die Zahl von 884 ausländischen vollintegrierten Rechtsanwälten in Deutschland, was bescheidene 0,59 Prozent der Anwaltspopulation (150.377) ausmachte. Chancen, das deutsche Recht zu exportieren, ergäben sich durch eine Öffnung der Anwaltschaft, wie es der US-Bundesstaat New York bereits 1973 vorgemacht habe: Denn wer sollte sich mit einem fremden Recht befassen, mit dem er kein Geld verdienen könne?

Um sein dunkles Konzept eines verfassungsrechtlichen "Taburaums" zu skizzieren, griff der eingangs zitierte Bonner Professor Haack nicht weniger als zehn Mal auf ein "Wesensargument" zurück. Was das „Wesen“ der Rechtsordnung ausmache, das sei stets und zeitübergreifend klar. Kritik war daran anzumelden.

Einen Rückzug darauf, dass dem deutschen Recht wesenhaft gute Qualität zuzurechnen sei ohne dafür ernsthafte empirische Belege zu liefern, ist Kern der Kritik von Rechtsanwalt Peter.

Statt an Taburäumen zu bauen, sollte es also wohl besser heißen: Zahlen bitte! Und Empirie in die Fakultäten!

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht frech – die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4564 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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