Buchrezension "Die Polizei: Gegner, Helfer, Staatsgewalt": Skandal­truppe und netter Wacht­meister

von Hasso Suliak

09.03.2022

Gewaltexzesse, Rassismus, rechtsextreme Neigungen: Viele Probleme der Polizei sind strukturell bedingt. Benjamin Derin und Tobias Singelnstein haben eine "fundamental ambivalente" Organisation unter die Lupe genommen und fordern Reformen.

Das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Polizei scheint ungebrochen: Laut dem jüngst erschienenen Roland-Rechtsreport  haben 73 Prozent der Befragten "ziemlich viel" oder "sogar sehr viel" Vertrauen in die Staatsgewalt. Damit rangiert die Polizei weit vor Justiz, Politik, Medien oder Verwaltung. Nur kleine und mittlere Unternehmen bekommen höhere Zustimmungswerte. Verfolgt man die Lokalnachrichten, dominiert das Bild des netten Herrn Wachtmeisters: Polizisten fischen Geldbeutel aus der Kanalisation, nehmen gefundene Personalausweise entgegen, vereinen eine Entenmutter mit ihren Küken, bringen entlaufene Katzen zurück und sorgen für unfallfreies Fahren, wenn an einer Kreuzung die Ampelanlage ausgefallen ist.

Doch es gibt auch eine Kehrseite und Berichte, die Zweifel daran wecken, ob die Organisation immer und zu jeder Zeit auf dem Boden von Recht und Gesetz steht. Erst Ende Februar knüppelten in München Polizeibeamte auf Demonstrant:innen ein, die friedlich den Opfern des rassistischen Anschlags von Hanau gedenken wollten. Im Juni 2020 demonstrierten Zehntausende unter dem Motto "Black Lives Matter" in deutschen Städten gegen Polizeigewalt und Rassismus. Der Menschenrechtskommissar des Europarats und die EU-Kommission zeigten sich besorgt über rassistisches Verhalten oder Racial Profiling in deutschen Polizeibehörden. Und im Juni 2021 wurde das SEK Frankfurt aufgelöst, nachdem dort rechte Chat-Gruppen bekannt geworden waren – wie seit 2020 schon in zahlreichen anderen Polizeieinheiten.

Foto: Econ-Verlag

Eine schonungslose Inspektion

Vor dieser Ausgangslage haben nun der renommierte Bochumer Polizeiforscher und Kriminologe Prof. Dr. Tobias Singelnstein sowie sein langjähriger Mitarbeiter Benjamin Derin, jetzt Strafverteidiger in Berlin, ein mit Spannung erwartetes Buch veröffentlicht, das die Polizei mit allen ihren Widersprüchen beleuchtet und schonungslos inspiziert.

"Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt" ist eine überwältigende Bestandsaufnahme, die keinen Missstand in der Organisation unerwähnt lässt: Polizeigewalt, polizeilicher Rassismus, Diskriminierung, Sexismus, Rechtsextremismus oder auch die – alles überlagernde – ungenügende Fehlerkultur, die mit einer "Cop Culture" zusammenhängt, also den eigenen Gesetzen, die innerhalb der "Polizeifamilie" gelten.

Hart ins Gericht gehen die Autoren dabei nicht nur mit der Polizei selbst und ihren einflussreichen Gewerkschaften, die Kritik an der Organisation zuletzt immer öfter als unsachlichen "Polizei-Hass" abqualifizierten und gerne das Opfer-Image der Polizei als "Prügelknaben der Nation" hochhielten. Sie kritisieren auch die Politik, die den Mut nicht aufbringe, Polizeiarbeit transparenter und kontrollierbarer zu machen, und die stattdessen der Polizei immer mehr Aufgaben zuschustere und so den Polizei-Apparat in Deutschland immer weiter aufblähe.

Eine Gesellschaft in der Pflicht

Vielmehr müssen wir, "die Gesellschaft", uns nach Auffassung der Autoren wohl auch an die eigene Nase fassen: Die Gesellschaft habe ihren Auftrag, sich Gedanken darüber zu machen, was für eine Polizei sie eigentlich möchte, (zu) lange Zeit vernachlässigt. Die Art und Weise, wie die Polizei die öffentliche Sicherheit durch Gefahrenabwehr oder das Durchsetzen der Strafgesetze übernehme, spiegele immer auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wider. "Selbst eine rechtlich gebundene Polizei reproduziere kontinuierlich die gesellschaftliche Ordnung mitsamt ihren Ungleichheiten und Problemen."

Polizei-Bashing betreiben die Autoren nicht. Die Missstände in der Polizei werden gesellschaftlich und juristisch eingeordnet, an vielen Stellen des Buches findet sich respektvolle Wertschätzung gegenüber der Organisation. Lobend erwähnt wird ein ums andere Mal, welche Professionalisierung und zielgerichtete Akademisierung die Polizei in den vergangenen Jahren durchlaufen hat. "Heute ist die deutsche Polizei nicht nur rechtsstaatlicher und demokratischer, sondern auch besser ausgebildet und personell diverser aufgestellt als früher."

Aber für die Autoren gibt es eben auch nichts schönzureden: Die Polizei sei definitiv kein "Spiegel der Gesellschaft" oder gar eine "Miniaturvariante der Welt da draußen". Rassismus-, Gewalt- und Verschwörungspotentiale in der Organisation dürften mit diesen Phrasen nicht relativiert werden, warnen die Autoren.  "Die Polizei ist männlicher, weißer, deutscher und konservativer als der Durchschnitt." Studien zeigten auch, dass fremdenfeindliche, rassistische u und rechtsextreme Einstellungen in der Polizei häufiger vorkommen als in der Bevölkerung insgesamt.

AfD-Propaganda fruchtet     

Stichwort Rechtsextremismus: Wie in vielen Ländern auch, sei dieser auch in der deutschen Polizei kein "nur vorübergehendes Problem". In welchem Ausmaß es feste, organisierte rechtsextreme Netzwerke in der Polizei gibt oder sogar erfolgreiche Bestrebungen aus der rechtsextremen Szene, Teile der Polizei zu unterwandern, könne zwar niemand genau sagen. "Der derzeit bereits bekannte Umfang erscheint allerdings schon bedrohlich", konstatieren die Autoren. Von Einzelfällen könne jedenfalls nicht gesprochen werden: "Polizist:innen mit rechtsextremen Tendenzen oder Einstellungen leben ihre Gesinnung keineswegs nur vereinzelt für sich und im Geheimen aus. Gleichgesinnte finden sich zusammen und bilden gemeinsame Strukturen, die für Zusammenhalt sorgen und Identität stiften."

Mit Sorge beobachten die Autoren auch eine "gewisse Nähe zwischen AfD und Teilen der Polizei": Die Partei bemühe sich mit ihrer Propaganda gezielt um Polizist:innen und könne dabei immer wieder auf Erfolge verweisen. Das zeige sich u.a. an der hohen Anzahl von ehemaligen Polizist:innen, die für die AfD in Bund- und Länderparlamenten eingezogen seien.

"Brandgefährlich": Rechte in der Polizeiausbildung

Unterwandert werde von Rechten inzwischen auch die Polizeiausbildung: Als Beispiel nennen die Autoren Daniel Zerbin, derzeit Professor für Kriminalwissenschaften an der privaten Northern Business School in Hamburg. Früher noch Mitglied in der CDU, kandidiert Zerbin inzwischen für die AfD auf Listenplatz 11 bei der NRW-Landtagswahl 2022. Im Oktober 2021 gab er dem rechtsextremistischen, vom Verfassungsschutz beobachteten Magazin Compact ein Interview. An der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) in Münster wirkte er bis Ende Dezember noch als Lehrbeauftragter und bot Lehrveranstaltungen mit kriminalistischem Hintergrund an.

Polizei:anwärterinnen werden an der HSPV mit Hilfe der im C.H. Beck Verlag erschienenen Bücher Kriminalwissenschaften I und Kriminalwissenschaften II ausgebildet, deren Co-Autor aktuell noch Zerbin ist. Noch. Denn wie der Beck-Verlag auf Nachfrage bestätigte, werden künftige Auflagen dieser Lehrbücher nicht mehr unter Zerbins Beteiligung erscheinen.

Derin und Singelnstein jedenfalls halten rechte Ausbilder:innen in der Polizei für brandgefährlich – gefährlicher als Chat-Gruppen, in denen diskriminierende Inhalte und geschmacklose Bilder geteilt würden: Es sei fraglich, so die Autoren, wie lange die ohnehin schon durchlässige und verwischte Grenze zur extremen Rechten in der Polizei halten werde. "Wenn es an einer Brandmauer fehlt, die dieser Entwicklung entgegensteht, wird die Polizei langsam vergiftet."

Kennzeichnungspflicht und unabhängige Kontrollinstanz

Ob es der Polizei künftig selbst gelingt, mit ihren vielen Problem fertig zu werden, bezweifeln die Autoren. Es fehle eine angemessene Fehlerkultur, in der man offen und transparent mit Kritik umgeht. "Wo es offiziell keine Fehler und Probleme geben darf, wo die Organisation als solche unfehlbar ist und wo die Cop Culture Loyalität verlangt, sehen sich viele Polizist:innen nicht in der Lage, ihren Vorgesetzten Missstände auf dem Dienstweg zu melden."

Nach Auffassung der Autoren tut daher eine bessere Kontrolle der Polizei dringend not. Diese scheitere jedoch immer wieder an "erheblichen Teilen der Polizei, den Gewerkschaften und bestimmten Teile der Politik", die sich nicht dem Vorwurf eines Generalverdachts gegenüber der Polizei aussetzen lassen wollten.  

Bestes Beispiel dafür, so Derin und Singelnstein, sei die nun schon Jahrzehnte währende Diskussion um die anonymisierte Kennzeichnungspflicht. Diese in vielen Ländern übliche und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderte individuelle Kennzeichnung der Uniform von Beamt:innen soll es ermöglichen, handelnde Polizist:innen im Nachhinein zu identifizieren, um Fehlverhalten verfolgen zu können. "Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die wir zum Beispiel auch allen Kfz-Halter:innen zumuten", so die Buchautoren. Aber auch die immer wieder von Bürgerrechtler:innen geforderte Einrichtung von Stellen mit unabhängigen Polizeibeauftragten, die polizeiliches Handeln im Zweifel aufklären könnten, würde verhindert, kritisieren sie weiter.

Statt die Polizei "demokratisch und rechtsstaatlich einzuhegen", konstatieren Derin und Singelnstein die gegenteilige Entwicklung: Die Polizei bekomme immer mehr gesetzliche Befugnisse, polizeiliches Handeln werde in Polizeigesetzen immer weiter vorverlagert und werde so schwerer kontrollierbar: Rechtsstaatlichkeit, so die Autoren, bedeute aber "die Kontrolle polizeilichen Handelns, um zu gewährleisten, dass die Polizei sich an die ihr durch das Recht gezogenen Grenzen hält".  Eigentlich selbstverständlich, möchte man meinen.

Abbau polizeilicher Aufgaben empfohlen

Wie aber lässt sich eine manchmal entfesselte Polizei bändigen oder – um mit den Worten der Autoren zu sprechen - "rechtsstaatlich einhegen"?

Neben der Einführung besserer Kontrollmöglichkeiten plädieren Derin und Singelnstein für einen mutigen Abbau polizeilicher Aufgaben, Schritt für Schritt. Dass die Polizei heute für alles und jedes gerufen werde, hänge oft auch mit fehlenden sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Hilfen oder unzureichenden Mitteln für soziale Arbeit, Suchtberatung, therapeutische Anlaufstellen, Jugendarbeit, Bildung etc. zusammen. Für Tätigkeiten in diesen Bereichen seien die Poizist:innen nicht ausgebildet.   

Entlastete man die Polizei künftig von Aufgaben und stärkte zugleich andere Instanzen, wäre nach Auffassung der Autoren daher viel gewonnen: "Der Weg für eine demokratischere, kontrollierbarere Organisation wäre bereitet und die mit Polizeieinsätzen einhergehenden Gefahren und Problematiken würden in vielen Fällen vermieden."

Auch wenn diese Vision ausgerechnet in Zeiten, in denen Sicherheitsbehörden eher gestärkt als in ihren Kompetenzen beschnitten werden, ein stückweit utopisch daherkommt: Für das Werk von Benjamin Derin und Tobias Singelnstein gibt es an dieser Stelle eine klare Leseempfehlung. Aufschlussreich ist das Buch, geschrieben von zwei Juristen, übrigens nicht nur für Jurist:innen.

"Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt – Inspektion einer mächtigen Organisation" von Benjamin Derin und Prof.Dr. Tobias Singelnstein, erscheint am 10.März im Econ-Verlag zum Preis von 24,99 Euro (446 Seiten, ISBN: 978-3-430-21059-1).

Zitiervorschlag

Buchrezension "Die Polizei: Gegner, Helfer, Staatsgewalt": . In: Legal Tribune Online, 09.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47765 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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