Eine Rechtsanwältin, die die Mandantenvertretung in zwei politischen Systemen kennt: Barbara Erdmann, Kanzleikollegin von Gregor Gysi zu DDR-Zeiten, berichtet über die Stellung der Rechtsanwälte in der DDR und die Umstellung nach der Wende. Sie war im alten System glücklich und sei es auch im neuen, sagt sie, mit den Schwächen, die beide jeweils haben.
Barbara Erdmann war seit 1974 in Ost-Berlin als eine von rund 50 Rechtsanwälten zugelassen und hatte bis 1990 mit Gregor Gysi in einem gemeinsamen Rechtsanwaltsbüro gearbeitet. In der Wendezeit gründete sie zusammen mit vier Kollegen in Berlin eine Sozietät und spezialisierte sich unter anderem auf offene Vermögensfragen. Sie ist Mitglied im Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin.
LTO: In Ostberlin gab es rund fünfzig Rechtsanwälte, in der gesamten DDR gerade mal 600. Wie sicher konnten Sie sich sein, Ihr Berufsziel Rechtsanwalt zu erreichen?
Erdmann: Wenn man in der DDR etwas wollte, dann hat man das auch geschafft. Wenn einer unbedingt Rechtsanwalt werden wollte, dann konnte er das auch. Aber der Andrang war gar nicht so groß. Die meisten Jurastudenten wollten Richter oder Staatsanwälte werden oder in die Wirtschaft gehen. Die hatten auch keine Vorstellung vom Anwaltsleben. Allein die Selbstständigkeit hat viele abgeschreckt, denn es gab beispielsweise kein geregeltes Einkommen. Der Beruf des Anwalts wurde natürlich auch nicht beworben.
Barbara Erdmann
LTO: Was heißt, er wurde "natürlich nicht beworben"?
Erdmann: Es wurde von der Politik immer unterstellt, dass Anwälte vorübergehend noch erforderlich seien, aber irgendwann auch entbehrlich sein würden. Im Strafrecht gab es mal den Spruch, der Rechtsanwalt sei ja nur pro forma im Prozess, weil der Staatsanwalt die belastenden, aber auch die entlastenden Momente vortragen muss. Was soll der Anwalt da noch? Viele waren der Meinung, dass sich der Anwaltsberuf selbst überflüssig mache und insofern brauche man da auch nicht so viel Nachwuchs.
LTO: Im Rechtssystem ist der Rechtsanwalt ein Organ der Rechtspflege. In der DDR war die Rechtspflege ideologisiert. Wie hat sich das auf die Arbeit der Rechtsanwälte ausgewirkt?
Erdmann: Unterschiedlich. Ich habe hauptsächlich zivilrechtliche Sachen gemacht. Wenn ich etwa an Familiensachen oder das Kaufrecht denke, spielten politische Einflüsse keine Rolle. Im Strafrecht wurde natürlich politisiert, die erzieherische Komponente spielte eine ungeheure Rolle. Der Richter in der DDR hat dort mehr unter menschlichen Gesichtspunkten gerichtet; er konnte Urteile verhängen, die mit dem Gesetz nicht mehr viel zu tun hatten. Im Gegensatz dazu hält sich der Richter in der Bundesrepublik strikter ans Gesetz, das heißt er denkt formal juristischer und klammert die subjektive Entscheidung aus.
"Wir Anwälte wurden in Ruhe gelassen"
LTO: Hatten die Anwälte eine größere Freiheit in der DDR als andere Berufsgruppen?
Erdmann: Die Anwälte haben sich in den Kollegien selbst verwaltet. Das Kollegium der Rechtsanwälte war ein Zusammenschluss der Anwälte, vergleichbar der Rechtsanwaltskammer. Daneben gab es noch die Einzelanwälte, die direkt dem Justizministerium unterstanden. Das waren aber sehr wenige. Wir hatten unsere eigene Organisation, am ehesten vergleichbar mit einer Genossenschaft. Und wir haben uns auch selbst kontrolliert. Darüber gab es nur den Justizminister, der die Zulassung entziehen konnte. Die Anwälte wurden schon in Ruhe gelassen. Die Kollegien haben auch immer gut zusammen gehalten. Auch bei Beschwerden seitens der Richter oder der Staatsanwaltschaft habe ich erlebt, dass wir Recht bekommen haben mit dem Argument, dass wir die Rechte der Mandanten wahrnehmen und diesen Auftrag erfüllen müssten.
LTO: Fünfzig Rechtsanwälte sind für eine Hauptstadt ja nicht viel. Gab es so wenige Fälle?
Erdmann: Man merkt heute noch, dass die Ostdeutschen nicht gerne zu Gericht gehen. Denn das Gericht war in der DDR das allerletzte Mittel. Die Auseinandersetzungen wurden ja ganz anders geführt. Erstmal gab es die Schieds- und Konfliktkommissionen. Streitigkeiten im einfachen Nachbarrecht oder ähnliches gingen nur in die Schiedskommissionen. Die wurden vom Gericht angeleitet und die Mitglieder wurden bei den Kommunalwahlen bestimmt. Das waren ganz normale Bürger, die ehrenamtlich in der Schiedskommission arbeiteten. Beaufsichtigt wurden sie vom Gericht und von der Staatsanwaltschaft konnte bei grob rechtswidrigen Beschlüssen Antrag auf Aufhebung gestellt werden. In den Betrieben gab es zudem Konfliktkommissionen, die innerbetrieblich eingerichtet waren.
LTO: Wären mehr Anwälte nicht besser gewesen?
Erdmann: Der Bedarf musste natürlich abgedeckt werden. Das wurde eingehalten. Aber man muss auch bedenken, dass es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab, was schon ein großes Manko war. Gegen Behörden könnte man nur Eingaben richten. Und die kleinen Sachen gingen in die Schiedskommissionen. Hohe Streitwerte gab es nicht so häufig wie heute. Es wurde insgesamt gar nicht so viel vor Gericht gebracht. Jeder, der einen Rechtsanwalt wollte, bekam einen; insofern war der Bedarf gedeckt.
"Die Dissidenten betreute Gregor Gysi"
LTO: Hatten Sie Dissidenten als Mandanten?
Erdmann: Die Dissidenten hat in erster Linie Gregor Gysi betreut. Man musste schon prozessuale Lücken finden, da waren die Ermittlungsbehörden häufig hilflos. Die Prozesse waren - vorsichtig ausgedrückt - selten erfolgreich. Eine Folge der politischen Prozesse war die Überwachung. Vor Gysis Wohnung stand während des Prozesses gegen Rudolf Bahro immer ein Bauwagen vor der Tür. Das kam mir schon komisch vor. Irgendwann kam das Plädoyer und da war der Wagen weg. Wir haben schon gemerkt, dass es Überwachung durch die Stasi gab; wir waren als Kanzlei ja hoch interessant für die Stasi.
LTO: Wussten Sie denn, wer bei der Stasi war?
Erdmann: Im Kollegium wusste man, dass einige bei der Stasi sind. Ich habe sie nicht alle erkannt. Es war uns klar, dass die eigene Leute bei uns eingeschleust haben. Bei Wolfgang Schnur wusste jeder, dass der von der Stasi ist, nur diejenigen, die ihn 1990 zur Wahl aufgestellt haben, wussten das anscheinend nicht. Er hatte bestimmte Privilegien und wurde plötzlich zum Einzelanwalt berufen, was nur vorkam, wenn man für besondere Aufgaben vorgesehen wurde. Schnur verteidigte dann Dissidenten und die Kirche, dazu musste man eigentlich nicht Einzelanwalt sein. Der war kein echter Verteidiger.
LTO: Gab es Bestrebungen, auch die Anwaltschaft zu kollektivieren?
Erdmann: Zum Teil gab es die schon. In der Sowjetunion waren Anwälte ja halbstaatlich organisiert, die bekamen bloß ein Gehalt. In der DDR haben Anwälte zum Teil über 100.000 Mark umgesetzt. Das war exorbitant. Die Einkünfte waren dem Ministerium ein Dorn im Auge. Aber die Kollektivierung war nicht ernsthaft im Gespräch. Die Anwälte hatten zwar eine starke Sonderposition im System, aber es war ja auch nur eine sehr kleine Gruppe.
"Polizisten wird immer geglaubt"
LTO: Rechtsanwälte konnten ein Stachel im System sein. Aber hat der Staat die Rechtsanwälte nicht auch als Feigenblatt benutzt, um sich als Rechtsstaat zu präsentieren?
Erdmann: Wenn die DDR die Anwälte hätte abschaffen wollen, dann sicherlich nur in den fünfziger Jahren. Da die Rechtsanwälte in Kollegien organisiert waren, war der Bestand der Anwaltschaft gesichert. Später wäre es undenkbar gewesen. Und Feigenblatt? Anwälte sind letztlich immer das schwächste Glied im Vergleich zur Staatsanwaltschaft und den Gerichten. Auch heute gibt es deutliche Mängel. Wenn Polizisten im Prozess involviert sind, wird denen immer geglaubt. Das war in der DDR auch so. Man steht ohnmächtig davor und kann nur versuchen, die Institutionen zu ärgern.
LTO: Hatten Sie damals Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der DDR?
Erdmann: Da muss man aufpassen. Dass die DDR ein Rechtsstaat ist, wurde nie behauptet. Der Begriff wurde in der DDR nicht gebraucht. Die DDR hat sich nicht als Rechtsstaat definiert. Sie war Staat der Arbeiter und Bauern. Man ist natürlich davon ausgegangen, dass die bestehenden Gesetze strikt einzuhalten sind und dass die Anwälte auf die Einhaltung zu achten haben.
"Manche Gesetze wurden systematisch missachtet"
LTO: Aber in bestimmten Fällen wurden Gesetze doch systematisch missachtet.
Erdmann: Bei manchen Gesetzen ja. Und einige Bestimmungen im Strafgesetz sind sehr extensiv ausgelegt worden. Ein Beispiel: Viele Ausreisewillige haben sich sonntags zum Spaziergang Unter den Linden getroffen und wurden dann wegen Gruppenbildung verurteilt. Auch die Aufenthaltsbeschränkung auf ein Grundstück etwa bei Robert Havemann war mit Sicherheit nicht gesetzeskonform, denn so war das Gesetz nicht auslegbar.
LTO: Haben Sie an eine Verbesserung des Rechtssystems geglaubt?
Erdmann: In unseren Kollegienversammlungen haben wir offen diskutiert. Wir hatten den Eindruck, das Rechtssystem entwickelt sich mehr und mehr. Die Rechte der Bürger wurden ja zum Teil erweitert und ganz zum Schluss vor der Wende ist sogar das Verwaltungsrecht eingeführt worden. Es war nicht so, dass sich nichts entwickelte. In jedem System gibt es Versäumnisse. Jetzt erleben wir gerade, wie der Rechtsweg durch die Einschränkung der Berufung beschränkt oder dass die Beratungshilfe wieder eingeschränkt wird. Man hat auch in der DDR immer noch an die Verbesserung geglaubt. Erst kurz bevor das System in sich zusammengefallen ist, wurde es pervers. Was das Recht betrifft, hatte es sich im Laufe meiner Tätigkeit nicht verschlechtert.
LTO: In der Wendezeit, das fällt auf, haben sich viele Ihrer Kollegen, etwa Gregor Gysi, Lothar de Maizière oder Wolfgang Schnur, stark politisch engagiert.
Erdmann: Einige sind sehr schnell in die Politik gegangen, weil sie politisch unvorbelastet waren. Als Anwalt ist man meist frei vom Verdacht, dem Staat zu sehr gedient zu haben. Lothar de Maizière war der erste, er war stellvertretender Vorsitzender unseres Kollegiums und in der Ost-CDU; der hatte genug Abstand zum System und konnte in der CDU schnell aufsteigen. Gysi war zu der Zeit Vorsitzender des Rechtsanwaltskollegiums. Gysi wurde von der SED nominiert, nachdem er helfen sollte, einen Entwurf für ein Gesetz über Reisemöglichkeiten zu erstellen. Der Entwurf war im Oktober 1989 fertig. Nachdem das gesamte Zentralkomitee der SED zurückgetreten war, holten sie ihn; der wusste gar nicht, wie ihm geschieht. Ich sah auf einmal die Schlagzeile, Gysi zum neuen Vorsitzenden der SED gewählt. Ich war geschockt. Als ich ihn traf, saß er dann schon im ZK-Gebäude im Zimmer von Egon Krenz; das war schon komisch: draußen stand ja noch die Armee vorm Gebäude. Ich habe für ihn dann eine Kommission zur Untersuchung von Amtmissbrauch und Korruption im ZK der SED geleitet. Das heißt, mein Anwaltsberuf war erst mal still gelegt. Nach dem Parteitag im Januar 1990 war die Untersuchungskommission beendet und ich bin dann wieder zurück ins Büro. Ich hätte die Parteiarbeit nicht machen können, das war nichts für mich.
"Nach dem 3. Oktober lag das alte BGB wieder auf dem Tisch"
LTO: Es heißt, Juristen kommen in Systemwechseln gut zurecht. Rechtsberater braucht man immer. Wie einfach war die Umstellung nach der Wende auf das neue Recht für Sie?
Erdmann: Nach dem 3. Oktober saßen wir bei uns im Büro und das war schon ein sehr seltsames Gefühl. Da lag das alte BGB wieder auf dem Tisch, das bei uns noch bis in die siebziger Jahre gegolten hat.
Es gab damals große Hilfen von Westanwälten, die sehr viel Fortbildungsarbeit geleistet haben. Ununterbrochen fanden Seminare statt, jedes Wochenende war man unterwegs. Erstmal kamen auch nicht mehr so viele Mandanten. Die waren zu Recht auch misstrauisch, denn wir waren für das bundesdeutsche Recht ja nicht gerade qualifiziert. Viele Mandanten sind zunächst in den Westteil der Stadt abgewandert. Weil wir das ahnten, hatte ich mit vier Kollegen noch vor dem 3. Oktober eine eigene Sozietät gegründet. Wir haben uns gleich ganz strikt spezialisiert, anders wäre es gar nicht gegangen. Mein Spezialgebiet sind unter anderem offene Vermögensfragen, ein wunderbares Gebiet.
LTO: Haben Sie das Gefühl, dass sich das Berufsbild des Rechtsanwalts im heutigen System unterscheidet?
Erdmann: Der Anwalt im Westen ist frecher, traut sich mehr; einige sind auch rücksichtsloser und unkollegialer. Beschimpfungen und Diffamierungen sind wesentlich häufiger. Der Grundsatz der Kollegialität ist in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht geregelt. Das widerstrebt mir. Ansonsten sind die Unterschiede gar nicht so groß, denn allein das anwaltliche Berufsrecht ist gut vergleichbar; die wesentlichen Prinzipien, etwa die Pflicht zur Verschwiegenheit und zur Vermeidung von Interessenkollisionen gelten in beiden Systemen. Heute kann man in vieler Hinsicht freier agieren, gegen den Staat offener vorgehen. Der Umgang mit den Rechtsorganen ist ganz anders, allein die Aktenseinsichtsmöglichkeit ist eine wesentliche Verbesserung.
"Der Begriff 'Unrechtsstaat' ärgert mich"
LTO: In welchem System sind sie lieber Anwältin?
Erdmann: In beiden. In beiden vertrete ich meine Mandanten und verhelfe ihnen zu ihrem Recht. In der DDR habe ich mich unwohl gefühlt in den Strafsachen, wenn man vor dem Richter und der Staatsanwaltschaft gestanden hat und wenn die einen als "Lachnummer" betrachtet haben. Das hat mich sehr geärgert, denn es war ein Gefühl der Ohnmacht. Ansonsten habe ich mich als Anwältin in der DDR wohl gefühlt. Wir haben Erfolge gehabt, vor allem im Zivilrecht. Jetzt sind die formellen Möglichkeiten, die man hat, allein der Umgang mit den Behörden, besser. Das Gefühl der Ohnmacht ist allerdings nicht verschwunden. Heute scheuen viele wegen des hohen Kostenrisikos einen Prozess.
LTO: Wie reagieren Sie, wenn Sie mit dem Vorwurf konfrontiert werden, dass Sie Rechtsanwältin in einem "Unrechtsstaat" gewesen seien?
Erdmann: Ungehalten. Der Begriff Unrechtsstaat ärgert mich. Was charakterisiert denn einen Unrechtsstaat? Es gab in der DDR Unrecht und es gab Recht. Aber es war kein Staat, der auf Unrecht gegründet ist. Das lasse ich nicht gelten.
LTO: Gab es zur Wendezeit die Kritik, dass man als Anwalt einem Unrechtsregime gedient habe?
Erdmann: Das nimmt erst zu. Damals war das nicht so. Der Begriff Unrechtsstaat ist erst in den letzten Jahren so aktuell geworden. Damals gab es eher von den Westanwälten eine joviale Siegerpose, dass wir uns darüber freuen sollten, dass wir unser System endlich los sind. Wir haben diese Einstellung mit Abstand betrachtet. Heute hat sich das Verhältnis unter den Rechtsanwälten relativ entspannt. Als Ost-Anwälte haben wir uns damals im Scherz gefragt, wie sich denn die Westler verhalten hätten, wenn es umgekehrt gekommen wäre und der Westanwalt mit Ostrecht hätte umgehen müssen.
Das Interview führte Dr. Justus von Daniels. Er ist promovierter Jurist und arbeitet als freier Journalist im Bereich Rechtspolitik.
Justus von Daniels, Ost-Anwältin vor und nach der Wende: . In: Legal Tribune Online, 07.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1386 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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