Am 9. September 1948 wurde offiziell der nordkoreanische Staat gegründet. Seine Verfassung gibt erstaunlich offen Aufschluss über eine stalinistische Monarchie. Flüchtlinge aus Nordkorea sind derweil eigenartigen Rechtsproblemen ausgesetzt.
Menschen, die in der früheren DDR oder anderswo im Ostblock aufwuchsen, rühmen sich nicht selten ihrer Fähigkeit, zwischen den Zeilen lesen zu können. Auf stolze Rheinländer oder Schwäbinnen, sozialisiert mit bloß marktkonformer Presse, wirkt das meist etwas paranoid, mag aber manchmal seine Berechtigung haben.
Ein prominentes Beispiel hierfür gab der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn (1918–2008) in seinem berühmten Werk über das sowjetische Lagersystem, dem "Archipel Gulag". Im Jahr 1949, so Solschenizyn, fand sich in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift die Notiz, am sibirischen Fluss Kolyma seien bei Ausgrabungen die Überreste einer vor Jahrtausenden ausgestorbenen Tierwelt entdeckt worden, die im ewigen Eis so gut erhalten geblieben waren, dass die Anwesenden das Fleisch "mit Genuss verspeisten".
In der vermeintlich humorigen Notiz las Solschenizyn eine von der staatlichen Zensur nicht entdeckte Mitteilung davon, unter welchen Bedingungen die Millionen Häftlinge der Jahre 1930 bis 1953 zu überleben versuchten.
In einer asylrechtlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zum Fall eines nordkoreanischen Flüchtlings findet sich bald 60 Jahre, nachdem Solschenizyn damit begonnen hatte, seine Abrechnung mit dem stalinistischen Lager-Terror zu Papier zu bringen, ein kleines Déjà-vu der Zwischen-den-Zeilen-Problematik – ein Hinweis auf den Terror, der umso nachhaltiger wirkt, als er sich womöglich nicht unmittelbar erschließt. Auf diesen Fall vom nordkoreanischen Flüchtling und seine Kühe wird zurückzukommen sein.
Gründung eines merkwürdigen Staates
Obwohl sich die Geschichte der beiden koreanischen Staaten in vieler Hinsicht wie ein böser Zerrspiegel der deutschen Geschichte nach 1945/49 ausnimmt, ist sie hierzulande wenig geläufig.
Als Gründungsvater des nordkoreanischen Staates darf neben dem sowjetischen Diktator Josef Stalin (1878–1953) der Dreisterne-General Terentii Schtykow (1907–1964) gelten, der am 9. September 1948 in seinem Befehlsbereich die Gründung der heute offiziell so genannten Demokratischen Volksrepublik Korea erklären ließ.
Der sowjetische Offizier half unter anderem Stalin bei der redaktionellen Ausarbeitung der ersten Verfassung Nordkoreas, die anlässlich der Staatsgründung proklamiert wurde. Während die zeitgleich als sogenannte "demokratische Bodenreform" in der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands vollzogene Umwälzung der Eigentumsordnung hierzulande bis in die jüngste Zeit Streitthema blieb, soll sich die stalinistische Regierung Nordkoreas mit der Umverteilung agrarisch genutzten Bodens zunächst viele Freunde gemacht haben – sie wird von linken akademischen Kreisen in Südkorea noch heute gefeiert.
So nutzlos Verfassungen in den (post-) stalinistischen Staaten für ihre Bürger auch allgemein waren: Nachdem z.B. die führende Rolle der SED 1989 aus der DDR-Verfassung von 1974 gestrichen worden war, taugten ihre Regelungen doch dazu, dem friedlichen Ende dieses Staates einen institutionellen Rahmen zu geben.
Die heutige Verfassung Nordkoreas aus dem Jahr 1972 – Stand: Juni 2016 – huldigt hingegen wortreich dem "ewigen Staatspräsidenten" Kim Il-sung (1912–1994). Der verblichene Diktator wird in der Präambel derart wortreich zum Übermenschen erklärt, dass sich die etwas sarkastische Frage stellt, ob in Nordkorea überhaupt ein anderes Verfassungsprinzip rechtsverbindlich ist als der Schutz der prä- und postmortalen Persönlichkeitsrechte der regierenden Kims – 24 Jahre nach seinem Tod gilt Kim Il-sung immer noch als offizielles Staatsoberhaupt Nordkoreas.
"Einer für alle, alle für einen"
So wenig Verfassungen des (post-)stalinistischen Typs mit dem Kräftespiel zu tun haben, in dem Juristen liberaler Gesellschaften die Rechte des Menschen gegen den Staat und der politischen Akteure untereinander abgrenzen und darüber Geltungsansprüche für die Verfassung selbst reproduzieren, so exotisch mutet an, was anderenorts versprochen wird.
Die Verfassung Nordkoreas enthält beispielsweise einen umfangreichen Grundrechtsteil (Artikel 62–86), der verbrieft, was weltweit jedenfalls auf dem Papier gebräuchlich ist, beispielsweise Bekenntnisfreiheit, Niederlassungsfreiheit oder Schutz von Ehe und Familie. Zugleich ist dieser fremde Staat erstaunlich ehrlich: Die Grundrechte stehen nicht nur unter dem Vorbehalt einer eigenartigen Generalklausel, der zufolge alle Bürger nach dem Prinzip "Einer für alle, alle für einen" zu handeln haben (Artikel 63), sondern von ihnen auch verlangt wird, "stets hohe revolutionäre Wachsamkeit zu üben und im Interesse der Sicherheit des Staates unter Einsatz ihres Lebens zu kämpfen" (Artikel 85).
Bei der Wahl zum Bundespräsidenten erhielt eine Bewunderin von derlei politischer Prosa in der Bundesversammlung des Jahres 1984 immerhin knapp sieben Prozent der Stimmen. Die von den ‚Grünen‘ nominierte Schriftstellerin Luise Rinser (1911–2002) mochte, was sie bei ihren Nordkorea-Reisen gesehen hatte und fand lobende Worte über die "Gemeinschaft", in der die Menschen dort gehalten werden – mehr als nur eine Fußnote im Kapitel "autoritäres Denken in Deutschland". Abscheu vor autoritärem Denken und totalitären Staatsordnungen vermittelt sich also vielleicht nicht allein durch politische Prosa- oder bloße Verfassungstexte.
Ein nordkoreanischer Flüchtling in Deutschland
Der bereits erwähnte Fall eines nordkoreanischen Flüchtlings mag dem aber abhelfen. Er zeigt zudem, dass in Flüchtlingsfragen die Dinge selbst dann komplex sind, wenn alle Welt glaubt, sie müssten doch ganz einfach sein.
Mit Urteil vom 7. Februar 2008 entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg über die Ansprüche eines nordkoreanischen Staatsangehörigen. Das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte im Jahr 2003 seinen Asylantrag abgelehnt und das Fehlen von Abschiebungshindernissen festgestellt.
Die Behörde unterstellte, dass er nicht aus Nordkorea stamme, sondern Bürger der Volksrepublik China mit koreanischer Staatsangehörigkeit sei – teils leben dort von jeher ethnische Koreaner, teils in Folge des japanischen Marionettenstaats Mandschuko (1937–1945). Nach Deutschland sei er deshalb gekommen, weil er in Südkorea habe befürchten müssen, als chinesischer Staatsangehöriger identifiziert zu werden.
Letzterem schloss sich das Gericht nicht an, jedenfalls hielt die Behörde diesen Vorwurf im gerichtlichen Verfahren nicht aufrecht. Allerdings erörterte der VGH ausführlich, warum Südkorea in Betracht zu ziehen sei – als bevorzugtes Ziel nordkoreanischer Flüchtlinge, aber auch als Ort, an den in Deutschland abgelehnte nordkoreanische Asylbewerber zu verbringen seien (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 7.2.2008, Az. A 8 S 136/05).
Nordkoreanische Flüchtlinge durchlaufen, so die Feststellungen des Gerichts, in Südkorea ein umfangreiches Aufnahmeprogramm. Nach einer Überprüfung durch die politische Polizei, die das Einschleusen nordkoreanischer Agenten bzw. die Inszenierung vermeintlicher Entführungsfälle verhindern soll, erhalten die Nordkorea-Flüchtlinge eine zweimonatige Schulung zu den Grundlagen des Lebens in einer marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, etwa zum Umgang mit Geld.
Südkorea, ein Super-Aufnahmestaat?
Anfang der 2000er-Jahre zahlte der südkoreanische Staat jedem nordkoreanischen Flüchtling noch Prämien von, umgerechnet, fünfstelligen Euro-Beträgen. Zum Zeitpunkt der baden-württembergischen Entscheidung wurden diese allerdings auf rund 9.000 Euro gekürzt. Für die Entführung nordkoreanischer Militärflugzeuge waren, nebenbei erwähnt, bis dahin sogar sechsstellige Prämien ausgelobt, womöglich ein Grund dafür, dass Nordkorea so stark auf Artillerie und Raketentechnik baute. Zudem kommen in Nordkorea geborene Menschen in den Genuss der südkoreanischen Staatsangehörigkeit, da nach Artikel 3 der Verfassung der Republik Korea (Süd) die gesamte Halbinsel als Staatsgebiet betrachtet wird.
Die vergleichsweise günstigen Bedingungen – Prämien als Anreiz zur Flucht! – hatten ihren Grund auch in der kleinen Zahl der innerkoreanischen Flüchtlinge. Während nach dem Mauerbau, zwischen 1962 und 1988 über 20.000 Menschen jährlich von der DDR in die Bundesrepublik übersiedeln durften oder flohen, belief sich die Gesamtzahl der registrierten Nordkoreaflüchtlinge – nach Ende des Koreakrieges – bis 2004 auf rund 6.000 Personen insgesamt, nicht etwa pro Jahr.
Ungeachtet der – auch nach den Kürzungen – fortbestehenden sozialstaatlichen Versorgung fühlt sich, so der russische Koreaforscher Andrej Lankov, rund ein Viertel der Flüchtlinge in Südkorea nicht gut aufgehoben. Trotz Zugehörigkeit zum gleichen 'Kulturkreis', trotz ethnischer Identität prägen Diskriminierungen und Anpassungsstörungen den Alltag. Hinzu kommt, dass durch die Zuerkennung der (süd-) koreanischen Staatsangehörigkeit das scharfe politische Strafrecht der Republik Korea greift, das nicht genehmigte Kontakte mit der alten Heimat unter empfindliche Strafen stellte – und angesichts der erratischen Kim-Dynastie auch schwer abzuschaffen ist. Viele Flüchtlinge möchten zurück, sogar ins mörderische Nordkorea.
Jener – in Deutschland doch seltene – Nordkorea-Flüchtling, den die baden-württembergischen Richter vor zehn Jahren auf Südkorea verwiesen, hatte einen denkwürdigen Fluchtgrund angegeben: Ihm seien drei Kühe, die er zu hüten hatte, verendet. Er befürchtete, hart bestraft zu werden, und sagte aus, darum die gefährliche Flucht über den Grenzfluss nach China angetreten zu haben. Diese, im Urteil nüchtern dokumentierte, nicht weiter in Zweifel gezogene Auskunft, sollte als Notiz zum nordkoreanischen Staatsgeburtstag eigentlich genügen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Nordkorea: . In: Legal Tribune Online, 09.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30823 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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