Fortgeltung von NS-Gesetzen: Unge­liebte Wei­sung, zum libe­ralen Recht zurück­zu­kehren

von Martin Rath

07.05.2023

Nach dem Kriegsende in Europa am 8./9. Mai 1945 und der Wiederaufnahme des Justizbetriebs erhielten die westdeutschen Richter eine umstrittene Dienstanweisung: Sie sollten NS-Recht nicht mehr anwenden. Das war gar keine leichte Übung. 

Das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig musste sich in einem Urteil vom 7. Mai 1948 mit einer Frage auseinandersetzen, die eine ungewöhnliche, damals nicht nur rechtsdogmatisch umstrittene Regelung betraf und zwischen 1945 und 1949 Geltung beanspruchte. 

Der Papiermangel nach dem Krieg und die seinerzeit noch übliche Praxis, oft in nur sehr didaktischer Weise, auf das Wesentliche gekürzte Entscheidungen zu veröffentlichen, machen die Sache zunächst ein wenig hölzern: 

Nach den Feststellungen des – ungenannten – Landgerichts hatte die Angeklagte gewerbsmäßig Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Sie wurde zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Die Verteidigung wandte dagegen ein, dass aufgrund eines alliierten Eingriffs in die richterliche Entscheidungsfreiheit statt einer Zuchthaus- nur eine Gefängnisstrafe zulässig gewesen sei. 

Fraglich – oder am Ende doch nicht fraglich – war, wie nach den alliierten Vorgaben eine Ausweitung der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen durch den NS-Gesetzgeber im Jahr 1943 beurteilt werden sollte. Vor der Lösung des OLG Braunschweig muss man hier etwas ausholen. 

Problem unspezifisch nationalsozialistischer Gesetze 

Klarheit bestand spätestens seit dem 20. September 1945 nur insoweit, als explizit nationalsozialistische Gesetze ihre Gültigkeit verloren. 

Durch das "Kontrollratsgesetz Nr. 1 betreffend die Aufhebung von NS-Recht" setzte der Alliierte Kontrollrat für alle vier Besatzungszonen – die amerikanische, britische, französische und russische – den Kernbestand des NS-Verfassungsrechts und eine ganze Anzahl staatsterroristischer Gesetze aus dem Zeitraum vom 24. März 1933 – "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich") – über das Nürnberger "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" aus dem Jahr 1935 bis zur "Polizeiverordnung über die Kenntlichmachung der im Reich befindlichen Ostarbeiter und -arbeiterinnen" aus dem Jahr 1944 ausdrücklich außer Kraft. 

Darüber hinaus verbot das Kontrollratsgesetz Nr. 1 allgemein die Besserstellung von Angehörigen der NSDAP und ihrer Organisationen sowie eine Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Rasse, Staatsangehörigkeit, ihres Glaubens oder von Opposition gegen die NSDAP und die Lehren dieser Partei. 

Nicht außer Kraft gesetzt waren damit Regelungen, die vom alliierten Gesetzgeber nicht als genuin nationalsozialistisches Unrecht betrachtet wurden.  

Beispielsweise folgte das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 dem wissenschaftlichen Zeitgeist der Eugenik, mit dem auch in den liberal oder sozialdemokratisch regierten, protestantisch geprägten Staaten des Westens bis in die 1970er Jahre die zwangsweise Sterilisation von Menschen betrieben wurde. Es galt nicht als explizites NS-Recht. 

Auch zahllose Änderungen des materiellen Strafrechts blieben grundsätzlich bestehen. Durch "Verordnung zur Durchführung der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft" vom 18. März 1943 hatte beispielsweise § 218 Strafgesetzbuch (StGB) folgende neue Fassung erhalten: 

"[1] Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet oder die Abtötung durch einen anderen zuläßt, wird mit Gefängnis, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft. 

[2] Der Versuch ist strafbar. 

[3] Wer sonst die Leibesfrucht einer Schwangeren abtötet, wird mit Zuchthaus, in minder schweren Fällen mit Gefängnis bestraft. Hat der Täter dadurch die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt, so ist auf Todesstrafe zu erkennen. 

[4] Wer einer Schwangeren ein Mittel oder einen Gegenstand zur Abtötung der Leibesfrucht verschafft, wird mit Gefängnis, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft." 

"Allgemeine Anweisungen der Militärregierung an Richter"  

Der neue § 218 StGB galt – von der neu eingeführten Androhung der Todesstrafe abgesehen – nach 1945 zunächst grundsätzlich fort. 

Allerdings hatte die Verteidigung in dem Fall, über den das OLG Braunschweig mit Urteil vom 7. Mai 1948 entschied, auch angeführt, dass auch keine Zuchthaus-, sondern allenfalls eine Gefängnisstrafe habe verhängt werden dürfen. Das machte von jeher, ganz besonders in diesen Nachkriegszeiten, unter anderem einen Unterschied im Arbeitszwang und der Ernährungssituation der Häftlinge beider Strafvollzugsarten. 

Anführen konnte die Verteidigung die "Allgemeinen Anweisungen der Militärregierung an Richter Nr. 1", die in den westlichen Besatzungszonen – in ähnlicher Form in Berlin – eine Beschränkung der Strafjustiz anordneten. In Ziffer 8 der Anweisungen hieß es: 

"a) Es ist untersagt, grausame oder übermäßig hohe Strafen zu verhängen. Vorbehaltlich dieser Beschränkung überläßt Ihnen die Militärregierung die Verantwortung, nach Ihrem pflichtgemäßen Ermessen Strafen so zu verhängen, wie Sie es für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Bekämpfung von Verbrechen notwendig halten. 

b) Unbeschadet Ihrer allgemeinen Verantwortlichkeit gemäß Abs. (a) dürfen Sie in allen Fällen, in denen auf Grund eines seit dem 30. 1 1933 erlassenen Gesetzes die Höchststrafe für eine Tat, verglichen mit der Höchststrafe für die Straftat, die vor dem 30. 1. 1933 vorgeschrieben wurde, keine Strafe verhängen, die das vor dem 30. 1. 1933 zugelassene Strafmaß übersteigt. Ausnahmen sind nur insoweit zulässig, als die Verschärfung der Strafe durch die kriminelle Vergangenheit des Angeklagten oder die Häufigkeit der Straftat gerechtfertigt ist." 

Durch Ziffer 8 Absatz c) wurde noch die Anwendung von § 42k StGB – die Regelung der Zwangskastration aus dem Jahr 1934 – untersagt, bevor der alliierte Gesetzgeber sie im Folgejahr aufhob, Ziffer 8 Absatz d) behandelte die obsolete Festungshaft. 

Im Braunschweiger Fall fehlte zwar im Urteil des Landgerichts die Feststellung des Landgerichts, dass der angeklagten "Engelmacherin" eine "kriminelle Vergangenheit" oder "die Häufigkeit der Straftat" vorzuwerfen sei. Allerdings ging nach Auffassung des OLG Braunschweig die Verurteilung zu einer Zuchthaus- statt einer Gefängnisstrafe trotzdem in Ordnung, weil sie gewerbsmäßig gehandelt hatte – und dies auch schon vor dem Stichtag 30. Januar 1933 diese schwerere Strafe begründet hätte (OLG Braunschweig, Urt. v. 07.05.1948, Az. Ss 13/48, karg abgedruckt in NJW 1949, S. 34). 

Was die "Allgemeinen Anweisungen für Richter" so unbeliebt machte 

In seiner ziemlich hinreißenden Darstellung des deutschen Justizbetriebs in den Jahren 1943 bis 1948 – "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört" (München, 2022) hat der Berliner Rechtshistoriker Benjamin Lahusen (1979–) die nachgerade skurrilen Kontinuitätsvorstellungen der Juristen dieser Zeit in aller Breite dargelegt. 

Um den durch Kriegs- und Fluchtereignisse beeinträchtigen Betrieb wieder in Gang zu bringen, wurden keine Mühen gescheut. Schon der berühmte, gern etwas dissidente bayerische Rechtsanwalt Otto Gritschneder (1914–2005) erzählte beispielsweise anekdotisch von einem pensionierten Richter auf dem Dorfe, der seinem Nachfolger in dieser Nachkriegszeit mit gutachterlichen Diensten und konkreten Empfehlungen zu den Erwartungen in der ruralen Wildnis Bayerns zur Hand ging, weil dieser mit den hinterlassenen Aktenmengen und den Verhältnissen vor Ort völlig überfordert war. Im Zweifel war der ungestörte Dienstbetrieb wichtiger als Pensionsanspruch und Dienstverschwiegenheit. 

Das offenbar völlig ungebrochene Bewusstsein des deutschen Richters von seiner Amtswürde berührten die "Allgemeinen Anweisungen für Richter Nr. 1" (AAR Nr. 1) nun durchaus empfindlich. 

Vom Wortlaut und der Art der Veröffentlichung her handelte es sich um die Anweisung einer Regierungsdienststelle – der westalliierten Besatzungsmächte, in ähnlicher Weise der Berliner Kommandantur – an die Richter. Hellmuth von Weber (1893–1970), ein Strafrechtslehrer in Bonn, der 1933 gutachterlich mit dem Problem der rückwirkenden Strafausweitung nach dem Reichstagsbrand befasst war, schrieb dazu 1950, dass die Richterschaft durch diesen Weisungscharakter in ihrer "Erinnerung an gewisse 'Richtlinien des Führers für die Strafzumessung'" einen zarten Schrecken erlitten habe. 

Es sei die Vorstellung unerträglich gewesen, dass die Exekutive sich auf diese Weise in die Strafzumessungspraxis unabhängiger Richter einmische. Trotzdem blieben Versuche, die AAR Nr. 1 in einen Akt materieller Gesetzgebung umzudeuten, erfolglos. Das rechtsdogmatische Problem, wie die AAR Nr. 1 revisionsrechtlich zu behandeln sei, erübrigte sich immerhin bei näherem Hinsehen: Natürlich hatten auch die Revisionsrichter diese dienstliche Anweisung von Amts wegen zu beachten – das war eine kleine Extra-Schmach für standes- und hierarchiebewusste Juristen der oberen Ränge. 

Zu diesen mehr justizsoziologischen und rechtsdogmatischen Gründen, die "Allgemeinen Anweisungen an Richter" nicht besonders zu mögen, kamen zwei weitere Motive: einmal das der Souveränität, denn man war hier alliierter Hoheit unterworfen, bis das Besatzungsstatut von 1949 die AAR Nr. 1 beendete. Zum anderen fühlte man sich zwar von der Aufforderung, sich als gerechter Richter zu betätigen (Ziffer 8 a) nur in berufsständischen Selbstverständlichkeiten umworben, hatte aber doch erhebliche Probleme mit den Modalitäten, einen Strafrahmen aus der Differenz von Regelungen vor und nach der Machtübergabe an Hitler, am 30. Januar 1933, zu kalkulieren. 

Beispiel für die Arbeit mit den AAR Nr. 1: Akademische Titel 

Ein vergleichsweise einfaches Beispiel für Schwierigkeiten, die aus dieser Dienstanweisung zur Strafzumessung resultierten, bietet das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 30. April 1952 (Az. 3 StR 93/51). 

Das Landgericht (LG) Frankfurt am Main hatte hier mit Urteil vom 20. Oktober 1950 einen Angeklagten zu einer Haftstrafe von sechs Wochen wegen unbefugter Verwendung eines akademischen Grades verurteilt. Dagegen wandte sich die Revision der Staatsanwaltschaft. 

Einschlägig war dabei zunächst das "Gesetz über die Führung akademischer Grade" vom 7. Juni 1939, das in § 5 Abs. 1 a) mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bedroht, "wer unbefugt einen inländischen oder ausländischen akademischen Grad führt". 

Während es den Tatbestand nach dieser Regelung aus dem Jahr 1939 auffasste, hatte das LG Frankfurt am Main bei der Strafzumessung auf die gesetzliche Regelung vor dem 30. Januar 1933 zurückgegriffen: Nach § 360 Abs. 1 Ziffer 8 StGB war das unberechtigte Führen von akademischen Graden noch kein Vergehen, sondern nur eine Übertretung, also eine Vorform der heutigen Ordnungswidrigkeit gewesen – bedroht mit Geldstrafe oder milder und kurzer "Haft". 

Der BGH hob diese Entscheidung im Strafausspruch auf, weil das LG Frankfurt am Main unzutreffend davon ausgegangen war, bei der Strafzumessung die AAR Nr. 1 anwenden  zu müssen, also die gesetzliche Regelung des Strafmaßes vor dem 30. Januar 1933. 

Weil es sich bei den "Allgemeinen Anweisungen an Richter Nr. 1" aber nicht um eine Änderung des materiellen Strafrechts gehandelt hatte, sondern um eine Vorschrift zur Ausübung ihres Amtes, die 1949 mit dem Besatzungsstatut obsolet geworden war, hätten sie die Frankfurter Richter bei ihrem Urteil am 20. Oktober 1950 nicht mehr beachten dürfen – die AAR Nr. 1 banden also nur den Richter, Außenwirkung für den delinquenten Menschen sollten sie nicht entfalten. 

Das Unbehagen gegenüber den AAR Nr. 1 soll – so das zeitgenössische und biografisch nicht ganz unverfängliche Urteil des Bonner Strafrechtslehrers Hellmuth von Weber – vor allem auf ihrem Charakter als Verwaltungsanweisung beruht haben – den Umstand hingegen, nicht länger das drakonische Strafrecht der NS-Zeit anwenden zu müssen, habe die Richterschaft im Übrigen positiv gesehen. 

Hinweise: Otto Gritschneder: "Anwaltsgeschichten" (München, 2002). Benjamin Lahusen: "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört" (München, 2022). Hellmuth von Weber: "Das Ende der AAR Nr. 1" in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 10/1950, S. 217–219. Die AAR Nr. 1 sind auszugsweise digitalisiert online (Paywall bzw. Hochschulzugang). 

Zitiervorschlag

Fortgeltung von NS-Gesetzen: . In: Legal Tribune Online, 07.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51705 (abgerufen am: 13.11.2024 )

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