Wer an fantastischer Literatur oder Technikphilosophie interessiert ist, kommt an Stanisław Lem (1921–2006) kaum vorbei. Hinweise auf eine Zeit, die seine oft düstere Weltsicht prägte, finden sich auch in deutschen Urteilen.
Sollte dieser Vorgang seinerzeit in die Presse der Volksrepublik Polen geraten sein, hätte der heute vor einhundert Jahren im polnischen Lwów – Lwiw, Lemberg – geborene Schriftsteller und Philosoph Stanisław Lem düsteres Interesse an ihm finden können: Es geht um einen Glücksritter im von der Wehrmacht besetzten Lemberg.
In diese groteske Welt kann etwa die "Warschauer Zeitung" vom 14. September 1943 einführen. Auf das Titelthema, die sogenannte Befreiung des italienischen Diktators Mussolini durch einen "schneidigen Handstreich deutscher Fallschirmspringer", folgen die Sportnachrichten auch aus dem "Generalgouvernement" – jenem Teil des besetzten Polens, der 1939 nicht vom Deutschen Reich annektiert worden war, sondern als eine Art Kolonialstaat vom NSDAP-Politiker und Justizfunktionär Hans Frank (1900–1946) regiert wurde.
Auf der gleichen Seite wie die Meldung über die "Kriegsmeister im Rollschuh-Kunstlauf" des Jahres 1943 findet sich hier ein etwas atmosphärischer Bericht über "Neues Leben in Presenkowska" – die Eröffnung der Herbstsaison im Lemberger Pferderennsport, die neben "Vertretern von Partei, Staat und Wehrmacht" die Bevölkerung zu Tausenden angezogen habe, um die Pferde zu bewundern und auf sie zu wetten.
Surreale Idylle im Zentrum des Menschheitsverbrechens
Dass von den Umsätzen aus diesem Wettgeschäft größere Teile in die Hände des Fiskus gelangten, regelte schon die frühe "Verordnung über ein Glücksspielmonopol im Generalgouvernement" vom 31. August 1940 – ein Blick ins Gesetzblatt vermittelt nachgeborenen Juristen einen verstörenden Eindruck von Vertrautheit mit dem Material. Nichtjuristen erleben das vielleicht, wenn sie von "Baedekers Generalgouvernement" erfahren – einem Reiseführer, wie man ihn zu anderen Zielen kennt.
Die Einrichtung von Monopolen, formal verantwortet vom Zollbeamten und SS-Mann Hermann Senkowsky (1897–1965), zählte überhaupt zu den Haupteinnahmequellen dieses extrem korrupten deutschen Staats auf polnischem Boden.
Zu denjenigen, die von der "Herbst-Rennsaison" im besetzten Lemberg gewiss profitierten, gehörte der Kläger in einem Verfahren, das durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. November 1958 beendet wurde (Az. BVerwG V C 316.56).
Monopole als Mittel von Korruption und Terror
Der 1906 geborene Kläger war bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als selbständiger Vertreter im westdeutschen Gaststättengewerbe tätig gewesen und hatte wohl 1942 den Gaststättenbetrieb der Lemberger Rennbahn übernommen. Im Oktober 1942 pachtete er zudem den Schwimmbadbetrieb "Zelazna Woda" – unweit vom "Ukrajina"-Fußballstadion im heutigen Lwiw.
Es stellte sich für ihn rasch wirtschaftlicher Wohlstand ein, in den Worten des Gerichts: "Um die Jahreswende 1942/43 bezog er eine aus jüdischem Besitz stammende eingerichtete Fünfzimmerwohnung, deren Inventar er später für 3.000 Zloty, (1.500 RM) von der deutschen Stadtverwaltung erwarb. Bei Beginn der Pachtung betrug sein Eigenkapital 5.000 RM. Als er infolge der Kriegsereignisse Lemberg verlassen mußte, besaß er nach seinen Angaben ein eigenes Umlaufkapital von 1 Million Zloty = 500.000 RM."
Nach Inkrafttreten des "Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG –)" vom 19. Mai 1953 bemühte sich dieser gewesene Gastwirt um die Anerkennung als Vertriebener und die damit verbundenen Vergünstigungen des Sozial- und Lastenausgleichsrechts.
Die zuständige Hamburger Behörde erteilte ihm zwar den begehrten Vertriebenenausweis B, vermerkte aber in dem Dokument, dass er die "Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener" nicht in Anspruch nehmen dürfe. Denn nach § 11 Nr. 1 BVFG sollte ausgeschlossen bleiben, wer "nach dem 31. Dezember 1937 erstmalig Wohnsitz in einem in das Deutsche Reich eingegliederten, von der deutschen Wehrmacht besetzten oder in den deutschen Einflußbereich einbezogenen Gebiet genommen und dort die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geschaffene Lage ausgenutzt hat".
Der Unterschied zwischen "erheblichem Kriegsgewinn" und "Ausnutzen der Gewaltherrschaft"
Das Verwaltungsgericht Hamburg gab der Klage des Mannes gegen diese Entwertung seines Ausweises mit dem Argument statt, der Begriff der "Ausnutzung" in § 11 Nr. 1 BVFG setze voraus, dass der "Vertriebene die Machtverhältnisse im besetzten Gebiet bewußt dazu mißbraucht habe, um Vorteile auf Kosten der bodenständigen, in der Wahrnehmung ihrer Rechte durch die Besatzungsverhältnisse gehinderten Bevölkerung zu erringen". Ein solches sittenwidriges Verhalten sei bei ihm nicht festzustellen.
Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG) hob diese Entscheidung auf, weil "Ausnutzen" nicht verlange, dass die von der deutschen "Gewaltherrschaft geschaffene Lage in ausbeuterischer oder verwerflicher Weise ausgenutzt" wurde, es genüge ein deutliches Missverhältnis, wie es hier im außerordentlichen beruflichen Vorwärtskommen vom Handelsvertreter zum Pächter prominenter Betriebe zu beobachten war.
Das Bundesverwaltungsgericht schloss sich der – in der juristischen Literatur durchaus umstrittenen – Auffassung des OVG an und formulierte eine recht ausgefeilte Heuristik, wie zwischen einem "erheblichen Kriegsgewinn" und einem "Ausnutzen der Gewaltherrschaft" zu unterscheiden sei.
Dass der Kläger in Lemberg sein eingesetztes Vermögen von 5.000 Reichsmark "auf das Hundertfache hat vergrößern können" sahen die Richter als Indiz dafür, dass er Nutznießer der NS-Herrschaft war. Konkret hatte das OVG festgestellt, dass "diese außergewöhnliche Vermehrung seines Vermögens auf die Monopolstellung des Klägers zurückzuführen" war, "der als einziger Wirt in Lemberg befugt gewesen ist, Bier an die einheimische Bevölkerung auszuschenken. Ein derartiger Ausschluß aller einheimischen Wirte in Lemberg ist durch Krieg und Besatzung nicht geboten gewesen und kann mit dem völkerrechtlichen Grundsatz des Schutzes von Freiheit und Eigentum der Bevölkerung in einem besetzten Gebiet nicht in Einklang gebracht werden."
Stanisław Lem und der Terror zweier Systeme
Als Schriftsteller auf dem Gebiet der fantastischen Literatur und als skeptischer Denker der Futurologie ist Stanisław Lem vor allem bekannt geworden. Seine wiederholt neuaufgelegte "Summa technologiae" (1964) und "Die Technologiefalle" (deutsch 2001) sollten tatsächlich jeden interessieren, der den technischen Fortschritt nicht allein verschrobenen US-Milliardären überlassen will.
Lange Zeit vor allem im deutschsprachigen Raum wenig präsent war der Umstand, dass Lem als Sohn einer säkularen jüdischen Familie die deutsche Gewaltherrschaft in Lwów nur mit Glück überlebte. Die Historikerin Jutta Braun gibt unter dem Titel "Die Realität der Fiktion" (2021) zu diesen Erfahrungen Lems ausführlich Auskunft und verbindet sie klug mit seinem Werk.
Während ein Oskar Steinheil, der langjährige "Baedeker"-Redakteur, schöne Reiseberichte über das Generalgouvernement schrieb, und sich Prominenz wie einfaches Volk beim Pferderennen von Lemberg vergnügten, engagierte sich Stanisław Lem im Widerstand, lief ein ums andere Mal Gefahr, dabei entdeckt zu werden – Braun hält in ihrem Aufsatz hierzu haarsträubende Szenen fest, über die Lem nach dem Krieg lange schwieg.
Im kommunistischen Polen besonders heikel war eine Erfahrung des 19-jährigen Lem nach der Besetzung von Lemberg durch die Wehrmacht im Jahr 1941 – die Sowjetunion hatte Stadt und Region nach dem Überfall auf Polen 1939 annektiert. Er war von den neuen Machthaben gezwungen worden, sich am Fortschaffen von Leichen zu beteiligen – Menschen, die vor ihrem Rückzug von den sowjetischen Sicherheitskräften ermordet worden waren.
Mehr als nur zwei heute etwas surreal wirkende Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) berühren die wechselhafte Leidensgeschichte vor allem der jüdischen Bürger von Lwów..
So hatte sich der BGH in einem Urteil vom 17. Januar 1962 mit merkwürdigen Fragen der politischen Zugehörigkeit der Städte Lemberg und Breslau zu beschäftigen, die 1939 und 1945 das Herrschaftsgebiet wechselten – die Witwe des 1942 im Ghetto von Lemberg "ums Leben gekommenen" Steuerbeamten Karl K. verwirrte die Richter, weil sie zu einem Zeitpunkt ins Reichsgebiet – Breslau – umgezogen war, als diese Stadt schon unter polnischer Verwaltung stand (Az. IV ZR 173/61).
Auf dunkle Weise fasziniert wäre der Philosoph Stanisław Lem, der sich in einem Hauptwerk mit dem Problem des Zufalls befasste, wohl vom Urteil des BGH in der Sache eines jüdischen Kaufmanns gewesen, der 1939 mit seiner Familie aus dem von Deutschen besetzten Teil Polens in das bald darauf von der Sowjetunion annektierte Lemberg geflohen war, von dort wiederum durch sowjetische Behörden nach Sibirien deportiert wurde, wo er bis 1946 verblieb. Er verstarb 1959 in Israel. Die Richter zeigten hier einen ganz wunderbar rabulistischen Aufwand in der Frage, ob die vermutlich in Sibirien erlittenen Gesundheitsschäden – nach der unlängst durch Urteil vom 23. Oktober 1951 (Az. I ZR 31/51) formulierten Lehre zum adäquaten Ursachenzusammenhang – als solche der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu würdigen seien (BGH, Urt. v. 25.10.1961, Az. IV ZR 101/61).
Lem und der "Panzer der Selbstrechtfertigung"
In seinem 1981 entstandenen Essay "Provokation. Besprechung eines ungelesenen Buches" – es handelt sich um die Rezension eines fiktiven Werks zur Geschichte des Völkermords – nahm Stanisław Lem viele Gedanken vorweg, die im heutigen Streit um diesen Tatbestand wieder eine Rolle spielen. Mehr als ein Satz daraus ist aktuell geblieben, für (Staats-) Terroristinnen und Terroristen (in spe) zum Beispiel: "Der Panzer der Selbstrechtfertigung, mit dem sich die Terroristen umgeben, ist dann völlig undurchdringlich, wenn jeder Typ des Verhaltens der Gegenseite als ein neuerlicher Beweis ihrer Schuld angesehen wird."
Das "Generalgouvernement Polen" der NSDAP: . In: Legal Tribune Online, 12.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45984 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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