Zweifellos ist es ein bisschen frech, zu behaupten, mit der Erfindung eines "postmortalen Persönlichkeitsrechts" habe das Bundesverfassungsgericht 1971 den Hades, das Totenreich der alten Griechen, in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eingemeindet. Doch fehlte dazu nicht viel, meint Martin Rath.
Homer, der griechische Dichter, hätte seine helle Freude an dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gehabt. Fand das Gericht doch ungewöhnliche Worte, um postmortale Rufschäden vom berühmten Schauspieler Gustaf Gründgens abzuwenden. Homer glaubte, dass die dem Hades verfallene Seele des Toten seine Merkmale wie ein Abbild aufbewahrt. Diese gespenstische Figur hieß "Eidolon" (εἴδωλον). Strukturell Ähnliches findet sich in der Figur des "postmortalen Persönlichkeitsrechts" im Fall von Gustaf Gründgens.
Als Gustaf Gründgens 1963, noch nicht 64-jährig, unter ungeklärten Umständen in Manila starb, war eine selbst für das dramatische 20. Jahrhundert ungewöhnlich bizarre Künstlerbiografie abgeschlossen.
Als junger Schauspieler reüssierte Gründgens unter Max Reinhardt, trat im bekannten Film "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" auf und begann schließlich 1932 am Preußischen Staatstheater in Berlin zu arbeiten – mit seiner bis heute bekanntesten Rolle: als Mephistopheles in Goethes "Faust".
Trotz seiner öffentlich bekannten Homosexualität blieb Gründgens 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland. Und er machte sogar Karriere, wurde unter seinem Dienstherrn Hermann Göring, dem Preußischen Ministerpräsidenten, zum Intendanten, Staatsschauspieler und 1936 schließlich zum Preußischen Staatsrat ernannt.
Klaus Mann attackiert Gründgens
Gründgens Karriere, neben seinem Talent vor allem der Protektion Görings zu verdanken, zog früh scharfe Kritik auf sich. Sein Ex-Schwager und künstlerischer Kollege Klaus Mann (Gründgens und Erika Mann waren von 1926 bis 1929 verheiratet) schrieb mit dem Roman "Mephisto" ein böses Prosastück über die karrieregeile, illoyale und auch sexuell unkonventionelle Figur Hendrik Höfgen.
Dass Gustaf Gründgens der fiktionalen Figur Vorbild gestanden hatte, war für zeitgenössische Leser leicht zu erkennen. Der Roman erschien 1936 im Exilverlag Querido in Amsterdam. Nach 1945 kam eine Ausgabe in Ost-Berlin heraus, an eine westdeutsche trauten sich Verleger nicht heran - sie fügten sich dem Einfluss des höchst erfolgreichen Gründgens. Verbittert beging Klaus Mann im Mai 1949 Suizid.
Der juristische Streit "um das nahezu drei Jahrzehnte alte Buch eines Toten über einen Toten", wie der SPIEGEL seinerzeit schrieb, begann im März 1964. Peter Gorski, Gründgens‘ Adoptivsohn, ging gegen die Nymphenburger Verlagshandlung gerichtlich vor, als diese im Herbst 1963 ankündigte, "Mephisto" in Westdeutschland herauszubringen.
Die Kunst als Rechtsfall: Eine Schrankenlehre fürs juristische Repetitorium…
Das Landgericht Hamburg wies Gorskis Klage unter anderem mit dem Argument ab, dass die – möglicherweise – verletzten Persönlichkeitsrechte von Gründgens jedenfalls mit dessen Tod untergegangen seien. Das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof verboten aber später antragsgemäß die Veröffentlichung.
Dabei stützten die Gerichte sich im Wesentlichen auf Analogien zu Rechtsfiguren, die explizit den Nachruf eines Verstorbenen schützen, insbesondere § 189 StGB. Die Begründung aber sollte sich noch verschieben.
Das Bundesverfassungsgericht wies die gegen das Verbot gerichtete Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 24. Februar 1971 zurück (1 BvR 435/68). Es schrieb in dieser Entscheidung bekanntlich die Schranken-Dogmatik zu Artikel 5 Abs. 3 GG fort.
Die Kunstfreiheit unterliegt demnach weder den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG noch des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG. Der Konflikt zwischen der Kunstfreiheitsgarantie und dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht sei "nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung zu lösen".
... doch wer erklärt das "Charakterbild"?
Auffällig ist eine rhetorische Figur, die sich in der BGH-Entscheidung vorsichtig abzeichnet, aber erst in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung entfaltet: Durch die extrem negative Darstellung des Hendrik Höfgen in Klaus Manns Roman werde das "Lebens- und Charakterbild" von Gustaf Gründgens "verzerrt und völlig entstellt der Nachwelt überliefert". Es ist diese rhetorische Figur des "Lebens- und Charakterbildes", selbst nach dem Tod seines Trägers unter rechtlichen Schutz gestellt, die noch heute den Ethnologen überrascht, weil sie materiell kaum zu greifen ist.
So meint etwa Dr. Alexander Knorr, Akademischer Oberrat am Institut für Ethnologie, LMU München: "Grundsätzlich gibt es hier im Abstrakten eine klare Parallele zum Spiritismus, denn geschützt wird von den Richtern ja kein konkretes, wirtschaftliches Gut wie ein Urheberrecht, das den Tod überdauert – sondern ein imaginäres Konstrukt, die Persönlichkeit, wie sie von den Überlebenden erinnert wird."
In nicht-westlichen Gesellschaften, in denen Ahnenverehrung eine große Rolle spiele, so Knorr weiter, könne man "mit etwas gutem Willen" Parallelen zum Konzept des "postmortalen Persönlichkeitsrechts" finden. Dort verstoße es auch massiv gegen die soziale Ordnung, "wenn man mit seinen Ahnen nicht ordentlich umgeht". Allerdings seien "die Ahnen dort – anders als im Fall Gustaf Gründgens – keine konkreten Personen, die gerade erst kürzlich verstorben sind. Ahnen sind mythische Persönlichkeiten, die in Ritualen zur sozialen Ordnung beitragen."
So habe das Verfassungsgericht dem "Charakterbild" von Gustaf Gründgens sogar einen hohen sozialen Rang zugewiesen, den in Kulturen der Ahnenverehrung allenfalls zentrale mythologische Figuren einnähmen.
Die gutbürgerliche Maske als schützenswertes Gut?
Im Begriff "Persönlichkeitsrecht" steckt die "persona", das lateinische Wort für "Maske". Es stand für die Maske, die der antike Schauspieler trug, um als Darsteller einer Rolle erkannt zu werden. Gustaf Gründgens hatte Zeit seines Lebens viele Rollen zu spielen, nicht nur auf der Bühne. Er war homosexuell und doch verheiratet, Schauspieler und Staatsrat, Görings Protegé und Freund von Verfolgten des NS-Regimes.
Und dass nur eine, gleichsam die gutbürgerliche Maske, die Gründgens in diesen Rollen im theatrum mundi trug, dem Theater dieser Welt, noch post mortem vom Verfassungsgericht unter Schutz gestellt wurde, das mag 1971 einen Beitrag zur sozialen Ordnung unserer Gesellschaft geleistet haben.
In den linksradikal bewegten Jahren nach 1967/68 war es chic geworden, der älteren Generation zu drohen, ihr die "Charaktermasken" abzureißen.
Professoren kamen tatsächlich in die Mauser, verloren ihre Talare. Und auch die roten Roben der Verfassungsrichter waren ja erst vor wenigen Jahren in einer Theaterschneiderei gefertigt worden.
So mag es kein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet die persona des verstorbenen Staatsschauspielers die erste war, die in den Rang eines grundgesetzlich geschützten Rechtsguts kam, losgelöst vom lebendigen Menschen, im dogmatischen Mantel des "postmortalen Persönlichkeitsrechts".
Ein neues Rechtsgut, perfekt geeignet, um als Gegenstück zur Kunstfreiheit mit ihren potenziellen Frechheiten in die Waagschale geworfen zu werden.
Gewiss hat es "Mephisto" seinem prominenten Verfasser zu verdanken, dass der Roman 1981 doch noch in Westdeutschland erscheinen konnte.
Wirklich frech war das aber auch nicht mehr.
Der Autor Martin Rath ist Journalist und Lektor in Köln. Im interdisziplinären Interview sprach er mit Dr. Alexander Knorr, Institut für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Martin Rath, Mephisto-Beschluss: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/937 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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