Das Verbot der Sklaverei gilt als eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts – mit bloß historischer Relevanz. Doch sind die Spuren ihrer Gegenwart zahlreich – nicht zuletzt in nach wie vor aktuellen Rechtsfragen.
Noch in der nüchternen Sprache der Justiz verhandelt, rührt dieser Fall an: Am 5. März 2001 reiste die 1980 geborene russische Staatsangehörige Oxana Rantseva nach Zypern. Ein ortsansässiger Nachtclub-Besitzer hatte für sie ein Visum beantragt, das mit einer Erlaubnis verbunden war, bis zum Juni des Jahres als Artistin in einem "Cabaret" zu arbeiten, das von seinem Bruder geleitet wurde.
Besagter Bruder meldete der zyprischen Polizei zwei Wochen nach Rantsevas Einreise, sie habe ihren Arbeitsplatz verlassen, und forderte die Behörde auf, ihre Festnahme und Ausweisung zu besorgen, damit er Ersatz für seine Gaststätte beschaffen könne.
Dem wurde zwar nicht entsprochen, doch hielten die Polizisten die junge Frau am 28. März 2001, 4 Uhr morgens, für rund eine Stunde fest, nachdem der "Cabaret"-Betreiber sie in einer Diskothek aufgegriffen und auf die Wache verbracht hatte.
Auf telefonische Auskunft der Einwanderungsbehörde, es bestehe kein Rechtsgrund, Oxana Rantseva festzuhalten, übergaben die Polizisten sie wieder ihrem "Arbeitgeber". Zweieinhalb Stunden später wurde ihre Leiche aufgefunden. Die junge Frau war vom Balkon einer im sechsten Stock gelegenen Wohnung gestürzt, in die sie ihr "Arbeitgeber" gebracht hatte.
EGMR dokumentiert moderne Form der Sklaverei
Trotz "seltsamer Umstände" stellte das zyprische Bezirksgericht später im Jahr fest, dass die Autopsie keine Anzeichen für Fremdverschulden ergeben hätten. Eine weitere Leichenschau, die Rantsevas Vater nach Ankunft des Leichnams in Russland veranlasste, ergab hingegen, dass der Sturz zwar den Tod verursacht, der Frau jedoch zuvor bereits Verletzungen zugefügt worden waren.
Neun Jahre später dokumentierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidung über die Sache Rantsev gegen Zypern und Russland eine erschütternde Mischung aus Unvermögen und Unwillen, von Behörden beider Länder, Maßnahmen gegen das Verbringen von Menschen in die Sklaverei zu ergreifen und zur Aufklärung des Falls beizutragen. Das Gericht sah – gegen den Einwand der russischen Regierung – unter anderem den Anwendungsbereich von Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) betroffen, der Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangs- und Pflichtarbeit verbietet, ohne den – meist notwendig vorausgesetzten – Menschenhandel zu erwähnen.
Zypern musste sich die Unfähig- bzw. Böswilligkeit seiner Polizei zurechnen lassen, die trotz der Verdachtsmomente von Menschenhandel und Ausbeutung nicht nur keine Maßnahmen ergriff, sondern die junge Frau ihrem "Arbeitgeber" persönlich wieder auslieferte, statt sie in die Freiheit zu entlassen. Oxana Rantsevas Vater wurden insgesamt knapp 46.000 Euro Schadensersatz, Kosten und Auslagen zugesprochen (EGMR, Urt. v. 7.1.2010, Az. 25965/04 – PDF).
Sklaverei in Mauretanien vor OVG
Ein besseres Ende nahm der Fall eines jungen Mannes aus Mauretanien. Vor dem damaligen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte er einen Asylantrag aufgrund folgender Lebensgeschichte gestellt:
1985 im südmauretanischen Bogué geboren, habe er im Alter von drei Jahren Vater und Mutter verloren und daraufhin zwei Jahre in einem Flüchtlingslager im Senegal gelebt. Im Alter von sieben Jahren sei er von einem Anwerber nach Mauretanien zurückgebracht worden, wo er – nachdem er verkauft worden war – für die nächsten zehn Jahre ohne Entlohnung zu arbeiten gezwungen wurde, körperlichen Züchtigungen ausgesetzt war und nur durch Flucht entkommen konnte.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz erkannte, nach erschöpfender Auseinandersetzung mit amtlichen und wissenschaftlichen Auskünften zum Fortbestand der Sklaverei im Mauretanien der Gegenwart und den Zweifeln des Bundesamts an der "unwahrscheinlichen" Flucht des jungen Mannes, der als blinder Passagier in Hamburg ankam, dass er zurecht Asyl beanspruchte – dem mauretanischen Staat war nicht zuletzt zuzurechnen, dass ein entflohener ‚Knecht‘ von Polizeikräften im Zweifel nicht nur keine Hilfe zu erwarten hatte, sondern vielmehr seinem ‚Herrn‘ wieder zugeführt würde (Urt. v. 2.12.2005, Az. 10 A 10610/05.OVG).
Es werden möglichst junge Menschen dem Schutz ihrer Familie oder Gemeinde entzogen und unter weitgehender Entrechtung ausgebeutet, wobei die Staaten nutzlos oder schädlich sind, weil ihre Beamten sich nicht ethisch dem formalen Recht verpflichtet sehen: Im Modus Operandi gleichen sich zwar die ‚traditionelle‘ Sklaverei Mauretaniens und der ‚moderne‘ Menschenhandel weitgehend. In der Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwart – engagierte Netzfeministinnen hier, undifferenzierte ‚Migrationsskeptiker‘ dort – dürfe die Empathie für Sklavinnen und Sklaven gleichwohl sehr unterschiedlich ausfallen.
Von Deutschen zu verantwortende Sklaverei
Eine starke Polarisierung findet sich auch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit historischer Sklaverei, soweit sie von Deutschen zu verantworten war.
Beispiel hierfür gab der Rechtsstreit von Anwohnern der vormaligen Lettow-Vorbeck-Allee in Hannover. Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) nahm als Offizier unter anderem an der internationalen Intervention der Kolonialmächte gegen den chinesischen sogenannten Boxer-Aufstand (1900/01) und mitverantwortlich am genozidal geführten Krieg gegen die Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika teil. Neben der Beteiligung Lettow-Vorbecks am Hochverrat gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Weimarer Republik sah die Stadt Hannover auch in der Versklavung afrikanischer Lastenträger während des Ersten Weltkriegs einen Grund, im Jahr 2007 die ihm 1937 zugedachte Lettow-Vorbeck- in Namibia-Allee umzubenennen.
Lettow-Vorbeck war von der deutschnationalen Rechten dafür gerühmt worden, den alliierten Truppen während des Ersten Weltkriegs die Besetzung der Kolonie Deutsch-Ostafrika unmöglich gemacht zu haben – Truppen in den anderen Territorien hatten hingegen bereits bei Kriegsbeginn kapituliert.
Dass unter Lettow-Vorbecks Befehl schätzungsweise über 100.000 der faktisch zu Sklavendiensten herangezogenen Lastenträger starben, tat der Heldenverehrung keinen Abbruch.
Über die Umbenennung von Straßen oder Büchern – man denke an den "Palandt" – lässt sich streiten, selbst wenn sich mitunter Abgründe der Doppelmoral auftun. Die Universität Bremen beispielsweise, die einige sehr meinungsstarke Vertreter für Umbenennungen aller Art beheimatet, ehrt etwa mit dem namibischen Politiker Sam Nujoma (1929–) einen Mann als "Ehrensenator", dessen mögliches Organisationsverschulden für Folter und Morde jedenfalls zu untersuchen wäre. In Sachen Lettow-Vorbeck gewichtete immerhin das Verwaltungsgericht (VG) Hannover die Fragen historischer und juristischer Verantwortung, nicht zuletzt im Wandel der Vorstellung, wann die bereits 1914 verbotene Sklaverei vorlag, recht ordentlich – und dürfte damit wohl ein Vorbild für weitere Diskussionen um die Umbenennung von einst ehrenden Ortsbezeichnungen geben (Urt. 3.3.2011, Az. 10 A 6277/09).
Sklaverei als Paradigma verletzter Menschenwürde
Die Vereinten Nationen begehen den 2. Dezember jeden Jahres als "Internationalen Tag zur Abschaffung der Sklaverei"“. In Deutschland wird dieses Ziel derweil als derart übererfüllt angesehen, dass der Gesetzgeber im Jahr 2005 das Verbringen in Sklaverei und Leibeigenschaft als Tatbestandsvarianten des Menschenraubs, § 234 Strafgesetzbuch (StGB), strich. Bereits mit Urteil vom 11. Mai 1993 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) festgestellt, dass die Norm nur das Verbringen in juristisch formal ausgestaltete Sklaverei – die freilich weltweit verboten ist –, nicht aber faktische Knechtschaft erfasse (Az. 1 StR 896/92).
In einem Rechtstreit, ausgelöst durch den Vorwurf im Magazin "Stern", ein sächsischer Gitarrenbaubetrieb lasse "Sklavenarbeit" verrichten, stellte das Oberlandesgericht Dresden mit Urteil vom 8. September 2011 (Az. 4 U 459/11) sogar fest, dass Sklaverei in Deutschland so gründlich undenkbar sei, dass der Vorwurf nur metaphorisch verstanden werden dürfe.
Die klassische Sklaverei und Leibeigenschaft, als historisch anerkannte Rechtsverhältnisse, dienen in Dogmatik und Juristenausbildung meist nur noch als Regelbeispiele für den Verstoß gegen den Schutz der Menschenwürde, Artikel 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Angesichts der oft zitierten "Objektformel" Günter Dürigs (1920–1996), wonach damit verboten sei, einen Menschen zum bloßen Mittel herabzuwürdigen, ist dies aber keine unproblematische Kanonisierung der Sklaverei.
Denn als Immanuel Kant (1724–1804), auf den Dürigs Objektformel zurückgeht, den Satz formulierte, kein Mensch dürfe als Mittel außerhalb seiner Person liegender Zwecke instrumentalisiert werden, hatte er wohl die Verhältnisse wenige hundert Meilen östlich im Blick: In Russland kauften und verkauften die Gutsherren ihre Leibeigenen, setzten sie gar am Spieltisch ein. Doch mit den "Seelen", die dabei den Eigentümer wechselten, waren nur die männlichen Leibeigenen gemeint.
Ihre Mütter, Frauen, Töchter wurden, so der Philosoph Günther Anders (1902–1992), noch nicht einmal als "Seelen" mitgezählt – was den heute unter Akademikerinnen nicht selten als "alten weißen Mann" verschrienen Kant einerseits zu einem besonders revolutionären Kopf machte, so Anders. Andererseits wirft das Beispiel aus der Welt von Sklaverei und Leibeigenschaft damit seit über 200 Jahren die Frage auf, was mit dem "bloßen Mittel" wohl gemeint sei: Verdinglichung oder vollständige Entseelung?
Vom Rechtsstreit um Straßenamen bis zur rechtsdogmatischen Kernfrage, was der Schutz der Menschenwürde vom Staat verlangt – es scheint, "Sklaverei" sei mehr als ein Thema für UN-Gedenktage.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Menschenrechte: . In: Legal Tribune Online, 02.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32445 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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