Die 1930 publizierte Studie "Der deutsche Richter" wird heute manchmal noch als kritisches Werk zum Richterberuf zitiert. Doch hinterließ der Berliner Rechtsanwalt Martin Beradt ein viel reicheres Werk, das wiederentdeckt werden will.
"Sie ahnen nicht, in welchem traurigen Zustand sich viele Anwaltsroben befinden, wenn man näher hinsieht. Der dünne Wollstoff trägt sich gut, aber die seidnen Aufschläge an den Ärmeln und vor der Brust halten nicht zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahre, die Seide bricht und franst aus, die Knopflöcher werden hilflos weit, ein Knopf fehlt immer, ein zweiter baumelt herunter. Es gibt Anwälte, die zehn Jahre mit Roben in solchem Zustand herumlaufen …, obwohl sie es sehr bequem hätten, ihre Robe in Ordnung bringen zu lassen."
Ein Gespräch zwischen einem Juristen und einem Mediziner über ihre Berufskleidung: Im Archiv des New Yorker Leo-Baeck-Instituts findet sich die Urschrift einer anrührenden kleinen Geschichte über "Die Robe". Geschrieben hat sie der Berliner Rechtsanwalt und Notar Martin Beradt (1881–1949) in den 1940er Jahren.
Heiter ist die Erinnerung des Juristen an seine Robe darin, wie das in der Tasche vergessene Butterbrotpapier beim theatralischen Auftritt vor Gericht nützlich wird, während seine Finger noch mit den Krümeln spielen. Traurig aber, wie dem Anwalt alles, was zu seinem Beruf gehörte, vom NS-Staat genommen wird – alles, sieht man von der Robe ab.
Einer der ersten Verkehrsrechtsanwälte, Medienrechtler, Schriftsteller
Die nüchterne, zugleich melancholische Geschichte "Die Robe" schrieb Beradt auf Bitten seines heute dank der Schullektüre "Berlin Alexanderplatz" weitaus bekannteren Schriftstellerkollegen Alfred Döblin (1878–1957) für eine Exilzeitschrift – nach dem Krieg wurde sie ganz vereinzelt nachgedruckt.
Im biografischen Bericht über ihren verstorbenen Mann erzählte Charlotte Beradt (1907–1986) davon, wie sie im Sommer 1940 auf einem der letzten regulären Passagierschiffe von Großbritannien in die USA reisen konnten, von der schwierigen Zeit in New York und dem Leben des Schriftstellers und Rechtsanwalts in Berlin.
Die Flucht nach Großbritannien war der Familie erst am 13. Juli 1939 gelungen – wider bessere Einsicht in den antisemitischen Terror bis fast in den letzten Augenblick aufgeschoben, weil Beradts betagte Mutter seit langer Zeit erblindet war. Beradt selbst wollte als Anwalt gutes Geld vor allem deshalb verdienen, weil er selbst fürchten musste, früher oder später zu erblinden. Das gelang auch, doch nahm ihm der deutsche Staat 97 Prozent des Ersparten, bevor er ihm die Flucht erlaubte.
In Berlin war Martin Beradt bis 1933 ein bekannter und erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar gewesen. Zu seinen Mandaten zählten Autoren wie Heinrich Mann (1871–1950) oder der von rechtsextremen Terroristen ermordete Politiker und Industrielle Walther Rathenau (1867–1922), der sich auch als Verfasser philosophischer Schriften einen Namen gemacht hatte.
Nach dem Ersten Weltkrieg – so Charlotte Beradt – hatte Beradt früh erkannt, dass "dem Auto – folglich auch Automobilprozessen – die Zukunft gehörte. So war er, der übersensible Intellektuelle, schließlich Syndikus des Deutschen Automobilhändler-Verbandes geworden und vertrat die großen Berliner Automobilhandelsfirmen."
In Beradts Kanzlei stapelten sich die Akten zu Kraftfahrzeugklagen neben jenen zu Verlagsangelegenheiten. Als einer der Syndicis des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller war er ein gefragter Medienanwalt der damals intellektuell noch blühenden deutschen Hauptstadt.
Zu Beradts eigenen Werken zählten nach dem Erstling "Go" aus dem Jahr 1908, einer "Coming of age"-Geschichte, das Buch "Erdarbeiter – Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten", das Beradts Erfahrung als Soldat im Ersten Weltkrieg verarbeitet – ein in den Krieg verirrter Berliner Zivilist, dem man eine Uniform und eine Schaufel gegeben hat, um Schützengräben auszuheben, schrieb damit das "wohl leiseste aller Kriegsbücher", das wegen dieser Eigenschaft von Zeitgenossen nicht selten höher geschätzt wurde als das reißerisch vermarktete "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque (1898–1970).
Im 21. Jahrhundert wieder aufgelegt wurde nur Beradts Roman über die Grenadierstraße im damals jüdischen Schanzenviertel von Berlin, für deren "Hausierer, Thoralehrer, Talmutgelehrte, Lumpenhändler" er als zur evangelischen Konfession konvertierter Sohn orthodox-jüdischer Eltern einen Blick fand, dem nachgeborene Leser ebenso viel "Menschenliebe wie Abgeklärtheit" attestieren.
"Der deutsche Richter" – eine freundliche Studie
Mit Menschenliebe und Abgeklärtheit lässt sich auch gut jene Studie beschreiben, durch die Beradt – wenn überhaupt – heute in juristischen Fachdiskursen noch einen Namen hat: 1909 erschien in kurzer Form, 1930 schließlich in deutlich erweiterter Fassung "Der deutsche Richter".
Menschenliebe und Abgeklärtheit sind bei diesem Gegenstand nicht selbstverständlich. Das Bild, das sich die Nachwelt vom deutschen Richter der Weimarer Republik gemacht hat, wurde guten Teils von Kurt Tucholsky (1890–1935) gezeichnet, der in den von studentischen Mensurkämpfen zerhackten Narbengesichtern der Epoche bereits die Schreibtischmörder des NS-Staats erkannt haben wollte – in einigen wohl zu Recht.
Wo Tucholsky in seiner Justizkritik oft wütend wie ein Online-Kommentarschreiber der Gegenwart polemisierte, blieb Beradt freundlich. Im ersten Kapitel des "Richters" (1930) setzte sich Beradt unter anderem mit Amt und Anonymität" des Richterberufs auseinander. Das liest sich beispielsweise so:
"Eine Partei darf ihn [den Richter, MR] falsch anreden, zu hoch oder zu niedrig titulieren, er wird keinen Anstoß daran nehmen […] – aber er würde verlegen werden, wenn sie ihn mit seinem Namen anspricht. In den Gründen seiner Urteile sucht man vergeblich nach einem 'ich', einem 'wir'; immer stößt man auf etwas Allgemeines, auf das Ungreif-, aber auch Unangreifbare: 'das Gericht'. Der Richter verabscheut die aktive Form der Sprache […]. Er mißachtet das Praesens, in dem der ringende Mensch sich prüft und reinigt, er zieht sich hinter das Imperfekt zurück, ja, er liebt das Versteck hinter noch stärkere Grade, mit denen die Sprache Vergangenheit ausdrückt – je vergangener, um so historischer, je vergangener, um so losgelöster von seiner Person erscheint sein Urteil."
Beradt sah in der Summe seiner Beobachtungen des Richterberufs "Zeichen eines geradezu beherrschenden Verlangens nach Auslöschung der Person".
Nach dem Zweiten Weltkrieg zitierte Karl Siegfried Bader (1905–1998), Generalstaatsanwalt zu Freiburg, dann Professor in der Schweiz, den bereits fast ganz in Vergessenheit geratenen Beradt in seiner Kritik an der Anonymität richterlicher Entscheidungen.
Diese Anonymität war in der jungen Bundesrepublik ein großes Thema, weil sich die Richter des neuartigen Bundesverfassungsgerichts mit dem Beratungsgeheimnis schwertaten. Bis 1970 das Sondervotum das unwürdige Spiel vorgeschützter Unsichtbarkeit für sie beendete, las die juristische Branche außergerichtliche Äußerungen der Verfassungsrichter oft als "Botschaft zwischen den Zeilen".
In ihm einen Propheten der transparenten Entscheidungspraxis zu sehen, würde Beradts einfühlende Auseinandersetzung mit dem deutschen Richter aber unzulässig verkürzen. Gleich im nächsten Kapitel, zur "Last von Gesetzen und Entscheidungen", regte Beradt beispielsweise – sichtlich geprägt vom Mitgefühl für die Richter – an, höchstrichterliche Entscheidungen nur noch ganz ausnahmsweise und nach Beratungen einer hierzu berufenen Kommission zu veröffentlichen, um die richterliche Bürde zu mindern, neben einer im Verfahren ausgehandelten, vertretbaren Entscheidung auf Grundlage des Gesetzes auch noch der Unzahl letztlich präjudizierender Rechtsauffassungen der höheren Instanzen folgen zu müssen.
Heute erscheint das natürlich als eine ganz fremdartige Idee. Im Jahr 1930 war die Flut juristischer Publizistik jedoch noch nicht ausgebrochen. Mehr als ein einziges gutes Lehrbuch zum Sachenrecht gab es beispielsweise nicht, der Stoff fürs Staatsexamen wirkte – sagen wir – doch ein wenig übersichtlicher. Der Wunsch, die Kommentar- und Entscheidungspublizistik klein und verbindlich zu halten, war damals noch nicht aus der Zeit gefallen.
Spiegelbildner der Gegenwart: Martin und Charlotte Beradt
Steuerung des Rechts durch Steuerung der Urteilspublikationen? Da würde man heute die Rechnung ohne die großen Verlage aus München, Köln/Hürth machen – aber bemerkenswert, dass diese Vorstellung in der Weimarer Republik nicht gänzlich abwegig erschien. Hier finden wir einen Spiegel für unsere Gegenwart.
Beradts "Der deutsche Richter" verdient es, als solcher Spiegel wieder gelesen zu werden: Mit seinen Lösungen wird sich die heutige Jurisprudenz oft kaum anfreunden können, aber man hat doch einmal die Perspektive kennengelernt und erkennt das Problem samt seiner sozialen Rahmenbedingungen – zudem empathisch beschrieben. Amtliche Evaluationen sehen heute leider anders aus.
Neben Martin Beradt, der am 26. November 1949 in New York starb, gilt es auch, an seine Frau Charlotte zu erinnern. Sie berichtete nicht nur traurig-heiter von der gemeinsamen Flucht aus Deutschland und davon, wie sie dort die Familie über Wasser hielt, sondern machte sich unter anderem durch ihr Werk "Das Dritte Reich des Traums" auch selbst einen Namen.
Charlotte Beradt sammelte Träume, an die sich Zeitgenossen der NS-Gesellschaft erinnern konnten – von der Ankündigung neuen Reichtums, die einem kleinen Handwerker im Nachttraum erschien und ihn motivierte, in SA-Uniform zu reüssieren, bis zum nächtlichen Horror der Jüdin, der im sicheren Exilland die Bilder von Massengräbern im Traum erschienen, und zwar noch vor dem amtlich vollzogenen Völkermord. Geschichten, von psychisch erkrankten Flüchtlingen etwa, liest man danach heute mit anderen Augen – mit Menschenliebe und Abgeklärtheit, so ist zu hoffen.
Zum 70. Todestag von Martin Beradt: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38853 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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