Sah man die Frau als gefährliche Kurtisane oder als bedürftige Lehrerin? Was eignete sich zur Gotteslästerung und wie viel Moral muss ein Textilhändler haben? – Einige Fragen, derer sich das Reichsgericht vor 100 Jahren annahm.
In seiner großen Studie "Männerphantasien" belegte der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit (1942–) im Jahr 1977/78 einen interessanten historischen Zusammenhang zwischen einer fragilen, nur durch Uniform und Gewalt aufrecht erhaltenen soldatischen Männlichkeit – verbunden mit einer obskuren Furcht vor allem, was als weiblich und schwach verstanden wurde.
Seine Belege fand Theweleit damals nicht zuletzt in den literarischen Zeugnissen von Offizieren und Freikorpssoldaten in der Zeit des Umbruchs zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, also unter den schriftstellerisch weniger begabten Zunftgenossen des "Stahlgewitter"-Autors Ernst Jünger (1895–1998).
Während das scheußliche Amalgam aus Verachtung gegenüber Frauen und Juden, aus Gewaltverherrlichung und Todessehnsucht heute bestenfalls zu distanziertem Erstaunen anregt, findet sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RG) aus jener Zeit ein beinahe komischer Hinweis auf solche "Männerphantasien" – natürlich homöopathisch verdünnt.
Offizierskasino: Wehrhaft männlich, aber Angst vor der Frau
Eine nach den Maßstäben des Kaiserreichs moralisch heikle Dame verlangte aus Gründen, die das RG leider nicht dokumentiert, von ihrem früheren Liebhaber die Zahlung von sehr beachtlichen 10.000 Mark.
Nach den Feststellungen des Gerichts verfolgte der Mann daher Pläne, sie "verschwinden" zu lassen, indem er im Herbst 1915 dem für Berlin zuständigen militärischen Oberkommando mitteilen ließ, dass die spätere Klägerin "in ihrer Wohnung mit Offizieren verkehre", unter ihnen ein noch minderjähriger Leutnant, "dem die Verfügung über ein Vermögen von 50.000 Mark in naher Aussicht stand".
Aufgrund der Behauptung, die Frau habe ihre Wohnung aufgeben wollen, es bestehe daher Fluchtgefahr, wurde sie von der Berliner Polizei wegen "der Gemeingefährlichkeit" ihres Treibens "und der offensichtlichen Gefährdung militärischer Interessen" am 2. November 1915 in Schutzhaft genommen und erst am 20. Dezember 1916 wieder entlassen.
Wegen des Schadens, der ihr durch die Haft entstanden war, klagte sie nun gegen ihren früheren Liebhaber, blieb aber vor dem Landgericht Berlin II, dem Kammer- und dem Reichsgericht ohne Erfolg.
Nach § 5 Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 hatte das militärische Oberkommando formal die hier ausgeübte Weisungsbefugnis gegenüber der Berliner Polizeibehörde. Ohne jeden inhaltlichen Beweis billigte das Reichsgericht der militärischen Behörde auch zu, die Inhaftierung vermutlich auch sachgerecht veranlasst zu haben – wegen der "Gefahren" die für die Sicherheit des Reichs entstehen müssten, wenn "während des Krieges Offiziere, zumal so junge und haltlose Offiziere wie der Leutnant D., völlig in die Gewalt einer Person wie die [sic] Klägerin gerieten".
Was die Richter hier als die "Gewalt" der Frau bezeichneten, die ihre Inhaftierung über 14 Monate hinweg rechtfertigte, war schwerlich etwas anderes als ihre Fähigkeit, Männer zu verführen. Es fragt sich, wovon heute überhaupt gesprochen wird, wenn Phrasen wie die von einer "fragilen Männlichkeit" gebraucht werden (RG, Urt. v. 14.02.1921, Az. VI 477/20).
Kurzer Lichtblick für die moderne Frau und bayerische Beamtin
Drei Monate später sollte ein anderer Zivilsenat des Reichsgerichts einen Beschluss fassen, der geeignet schien, ganz neue Geschlechterverhältnisse zu etablieren.
Dem Antrag des Reichsinnenministers folgend erklärte das Reichsgericht, dass die Vorschriften des bayerischen Volksschullehrergesetzes vom 14. August 1919, nach denen zwingend eine Entlassung von Lehrerinnen für den Fall ihrer Heirat zu erfolgen hatte, nicht mit der Reichsverfassung vereinbar seien.
Spätestens seit den 1870er Jahren waren weibliche Lehrer, teils auf der Grundlage von Verordnungsrecht, teils durch bloße Verwaltungspraxis vor die Alternative gestellt worden, unverheiratet zu bleiben oder ihre Stelle zu verlieren. Insbesondere die Beseitigung dieses sogenannten Lehrerinnenzölibats hatte die Nationalversammlung im Jahr 1919 durch Artikel 128 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung (WRV) beseitigen wollen.
In einem frühen Akt faktischer Verfassungsgerichtsbarkeit – einem seinerzeit unter Juristen hoch strittigen Thema – erklärte das Reichsgericht nach Artikel 13 Abs. 2 WRV, dass hier das Reichs- das bayerische Landesrecht breche.
Es sollte allerdings bei einem kurzen Lichtblick bleiben. Artikel 14 der "Verordnung zur Herabminderung der Personalausgaben des Reiches" vom 27. Oktober 1923 ermächtigte – neben anderen, tiefgreifenden Einschnitten in die Rechte von Beamten – alle Dienstherren bereits wieder dazu, die Dienstverhältnisse "verheirateter weiblicher Beamter und Lehrer" mit Monatsfrist zu kündigen, sofern nach ihrem Ermessen "die wirtschaftliche Versorgung des weiblichen Beamten gesichert erscheint".
Während an diesen Vorgang heute überwiegend aus Gründen der rechtlichen Schlechterstellung von Frauen erinnert wird, liegt in ihm auch ein böser verfassungshistorischer Witz: Denn das Prüfungsrecht nach Artikel 13 WRV ließ sich dahin verstehen, dass das Reichsgericht zum "Hüter der Verfassung" berufen war, weniger der Reichspräsident mit seinem berüchtigten Notverordnungsrecht nach Artikel 48 WRV.
Dass sich diese Auffassung liberaler Verfassungsjuristen nicht recht durchsetzte, fiel derweil kaum auf, wurde das beachtliche Ergebnis aus dem Jahr 1921 durch die notorische Selbstentmachtung des parlamentarischen Gesetzgebers ohnehin unterlaufen: Die tief in die Rechte nicht nur der weiblichen Beamten einschneidende "Personal-Abbau-Verordnung" vom 27. Oktober 1923 beruhte auf einem beinahe nichts sagenden "Ermächtigungsgesetz" vom 13. Oktober 1923.
Zu den frühen Zeugnissen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland gehört der Lehrerinnenzölibat-Beschluss vom 10. Mai 1921 gleichwohl (Az. III 68/20).
Wer wird beleidigt, wenn G'tt gelästert wird?
Mit Urteil vom 20. Juni 1921 hinterließ der VI. Strafsenat des Reichsgerichts bemerkenswerte Hinweise zum heute wieder umstrittenen § 166 Strafgesetzbuch (StGB).
Das Landgericht Düsseldorf hatte nach Auffassung der Leipziger Richter zu kurz gegriffen, als es folgende publizistische Aussage über Juden russischer Herkunft würdigte: "Sie haben ihrem blutrünstige, haßgeblähten Gott den Dank dargebracht, daß er ihnen die Macht gab, von der schweißtriefenden Arbeit der dummen, gutmütigen Gojims mühelos zu leben."
Eine Strafbarkeit nach § 130 StGB – heute "Volksverhetzung" – lag fern. Denn die Vorschrift verlangte seinerzeit, dass "Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegeneinander öffentlich angereizt" worden waren. Gemeint waren damit zwar durchaus auch ethnische oder religiöse Teilgruppen, es fehlte hier aber das Element der Gewalt.
In Betracht kam nach Auffassung des Reichsgerichts eine Bestrafung nach § 166 StGB. Während das Landgericht isoliert nur die Beschreibung G'ttes als "blutrünstig" und "haßgebläht" gewürdigt und allein eine Absicht des antisemitischen Autors gesehen hatte, die russischen Juden zu beleidigen, wünschten die Leipziger Richter eine Auslegung des Kontexts: Das Landgericht hätte prüfen sollen, ob "nicht Gott als Teilnehmer an einem sittlich verwerflichen, verächtlichen Handeln" – Juden hätten G'tt für ihre antisemitisch herbeifantasierte Macht gedankt – "und daher als ein verächtliches Wesen hingestellt und ob er insofern in roher Ausdrucksweise beschimpft worden ist".
Sofern also öffentlich behauptet wurde, Juden würden G'tt in der Weise verehren, wie es sich Antisemiten vorstellen, kam eine Bestrafung nach § 166 StGB in Betracht. Selbst wenn das Schutzgut des historischen "Gotteslästerungsparagraphen" noch nicht der öffentliche Friede war – die Vorschrift wurde erst 1969 entsprechend geändert – so war immerhin zu prüfen, welche Gedanken und Gefühle die Angehörigen einer Religionsgesellschaft in das Bild ihrer mutmaßlich gelästerten Gottheit projizierten (RG, Urt. 20.06.1921, Az. VI 370/21).
Recht steht über moralisierenden Ansprüchen
Die offenherzige Klarheit, mit der einst das juristische über das moralisierende Urteil gestellt wurde, mag einen weiteren Grund geben, sich mit den historischen Entscheidungen zu beschäftigen – in unserer schnell sittlich gereizten Gegenwart wirkt das beinahe entspannend.
Ein Beispiel: Am 30. Juni 1919 entriss eine Menschenmenge, die sich zwischen dem Hauptbahnhof Elberfeld (heute Wuppertal) und seinem Lagerhaus in der Karlstraße zusammengerottet hatte, dem Kutscher eines ortsansässigen Tuchhändlers etliche Ballen Stoff, die ihm aus Paris geliefert worden waren.
Für Fälle derartiger Plünderungen sah das preußische Tumultschadengesetz vom 11. März 1850 einen Schadensersatzanspruch gegen die Kommune vor, dem unter anderem die Idee zugrunde lag, dass unter den Angehörigen einer Gemeinde ein gewisses Maß an wechselseitiger sozialer Kontrolle herrsche, die gegen Aufruhr und Plünderungen wirksam werden solle.
Die Stadt Elberfeld führte gegen den Anspruch auf Ersatz des Tumultschadens unter anderem an, dass die feinen Stoffe aus Paris nicht rechtmäßig eingeführt worden und als "Schleichwaren" wohl durch die öffentliche Hand in Beschlag zu nehmen gewesen seien – nicht auszuschließen, dass auch die Plünderer sich nicht nur durch die buchstäblich nackte Not im Tal der Wupper provoziert fühlten, sondern auch durch die Herkunft aus dem Land des sogenannten "Erbfeinds", der soeben weite Teile des Rheinlands besetzt hatte.
Gegen diesen moralisierenden Einfall erklärte das Reichsgericht jedoch: "Wer sich einer im Wege Rechtens erfolgenden Beschlagnahme nicht erwehren kann, brauch sich die Sachen noch nicht gewaltsam und rechtswidrig von einem Dieb, Räuber oder Plünderer wegnehmen lassen" (RG, Urt. v. 07.07.1921, Az. VI 160/21).
Geschlechterverhältnisse in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 04.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45374 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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