Im globalen Dorf dämmert die Einsicht, dass China mehr sein könnte als der fleißige Handwerker, bei dem alle in der Kreide stehen. Um die Vermittlung chinesischer Tricks bemüht ist der Schweizer Sinologe und Jurist Harro von Senger.
Wer sich einer List bedient, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, heimtückisch zu sein. Zwar fasziniert von jeher die Figur des Tricksters oder Hochstaplers, sofern er nicht allzu viel Schaden anrichtet. Vor allem gilt es geradezu als sympathisch, wenn sich Menschen, die deutlich kleiner und schwächer sind als das Mittelmaß, durch Witz und Intelligenz gegen rohe Gewalt durchsetzen.
Doch ist das subversive Element, das im listigen Handeln der Schwachen liegt, nicht nur jenen suspekt, die sich zur Durchsetzung ihrer Interessen vorzugsweise offener Gewalt bedienen. Die Abneigung gegen die List wird allgemein geteilt, sobald sie das in einer Gesellschaft vorhandene Vertrauen stark unterminiert.
Denn Vertrauen – also die Erwartung, dass man in einer sozialen Austauschbeziehung von der anderen Seite nicht enttäuscht wird – dient als "komplexitätsreduzierende Variable", wie es der Jurist und Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) formulierte: Wo Vertrauen herrscht, werden etwa die Verträge kürzer, fallen die Transaktionskosten zumeist geringer aus.
Kommt hingegen der Eindruck auf, dass sich zu viele Mitmenschen und Mitbürger listig verhalten, steigen die Transaktionskosten, und zwar vom Projektmanagement im Bauwesen bis zur Anbahnung einer intimen Beziehung. Während die List den Mächtigen stets verdächtig sein muss, wird ihre subversive Seite dann auch den weniger mächtigen Menschen unangenehm.
Gar nicht wenige Leute schreiben dann wilde Leserkommentare gegen den "Neoliberalismus", der ja seit rund 40 Jahren als Chiffre für eine vermeintlich tückische Seite der modernen Welt herhalten muss: ihre Notwendigkeit, sich über die langfristigen Voraussetzungen von Vertrauen zu verständigen, um dann in aktuellen Austauschbeziehungen jeweils damit weniger Mühe zu haben.
Mehr als küchenpsychologische, küchensoziologische Erkenntnisse
Listiges Verhalten kann also nottun, macht sich im Übermaß aber verdächtig. Von den Schwachen gegenüber den Starken angewendet, findet es eher Sympathie, von den Starken gegenüber den Schwachen gilt es als anmaßend und zynisch – weshalb gern moralisch redet, wer Macht hat und sie nutzen will.
Was bis hierher vielleicht wie eine küchenpsychologische oder vulgärsoziologische Abstraktion wirkte, hinterlässt ihre Spuren auch in der härtesten Geistes- und Sozialwissenschaft, also der Juristerei.
Beispielsweise wurde im Jahr 1876 in die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung – § 223a Strafgesetzbuch (StGB) heute § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB – die Begehungsform des "hinterlistigen Überfalls" aufgenommen.
Das erlaubt den Gerichten, zwischen einer vielleicht noch zulässigen List und der strafwürdigen Hinterlist zu unterscheiden. Letztere setzt sich von der bloßen List dadurch ab, einen gewissen Aufwand zu treiben, der dazu beiträgt, dass der durch die Tat geschädigte Mensch auf seine körperliche Sicherheit glaubte vertrauen zu können (vgl. für viele: BGH, Beschl. v. 15.07.2003, Az. 1 StR 249/03).
Nicht nur im deutschen Straf-, sondern auch im Völkerrecht findet sich die mehr oder weniger feine Linie zwischen gebilligter und verpönter List.
So hält die Internationale Übereinkunft vom 29. Juli 1899 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs zwar in Artikel 24 ihres Reglements fest:
"Kriegslisten und die Anwendung der notwendigen Mittel, um sich Nachrichten über den Gegner und das Gelände zu verschaffen, sind erlaubt."
Doch schränkt die Haager Landkriegsordnung die Möglichkeiten listigen Verhaltens vielfach ein, indem etwa "die Waffen offen" zu führen sind und legal handelnde Feinde "ein festes, aus der Ferne erkennbares Abzeichen tragen" müssen (Artikel 1), oder dass die jegliches Vertrauen zerstörenden Mittel wie "die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen" oder der "Missbrauch der Parlamentärflagge, der Nationalflagge oder der militärischen Abzeichen und der Uniform des Feindes" verboten sind (Artikel 23). Ausdrücklich werden Spione von Uniformierten unterschieden (Artikel 29).
Auch an den Kriegslisten scheiden sich dann wiederum die Geister über der Frage, wie elaboriert sie sein dürfen.
Die heute berühmte Operation "Mincemeat" beispielsweise, in der vom britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs eine Leiche verwendet wurde, um den deutschen Feind zur operativen Planung im Mittelmeerraum in die Irre zu führen, ist utilitaristisch betrachtet – mit Blick auf die ungezählten Toten dieses Krieges – belanglos. Freunde einer mehr deontologischen, werte- und würdehaltigen Ethik, die sogar ein postmortales Persönlichkeitsrecht erfunden hat, tun sich mit einer solchen Operation wohl schwerer.
"Strategeme" des Harro von Senger
Es kommt bei der Frage, wie unschicklich der Gebrauch einer Leiche zur Kriegslist ist, nicht zuletzt auf kulturelle Vorbedingungen und Modifikationen der Moral an.
Bereits seit den 1980er Jahren bemüht sich der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger (1944–) um die Vermittlung von Kenntnissen zum chinesischen Verständnis der List, in jüngerer Zeit etwa mit seinem Werk "36 Strategeme für Juristen" (Bern 2020).
Als Strategeme bezeichnet von Senger eine Anzahl von Sinnsprüchen, die auf ein chinesisches Traktat zurückgehen, das unter dem Titel "Die 36 Strategeme. Das geheime Buch der Kriegskunst" um das Jahr 1500 kompiliert wurde.
Es enthielt – inzwischen vielfach modernisierte – Sprüche vom Typ: "Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen" (Nr. 5), oder: "Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen [und dadurch in Erfahrung bringen, ob und wo im Gras Schlangen lauern/um die Schlangen zu verjagen" (Nr. 13), oder: "Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen" (Nr. 17).
Von der blumigen Sprache in die chinesische wie internationale militärische und Management-Literatur übersetzt, schmücken die Strategeme heute das Bücherregal von Staatspräsident Xi Jingping (1953–) ebenso wie den Sinnhuberei-Bedarf westlicher Coaching- und Consultinganbieter, die dem vermeintlichen Exotismus dieser "strategemischen" Miniaturen aufsitzen.
Dabei sind die Strategeme nicht als eindeutige Tatbestandsmuster zu verstehen, eher als mnemotechnisches Hilfsmittel, also als Gedächtnisstütze um das eigene bzw. das Verhalten eines Gegenübers zu Fallgruppen zielgerichteten Tuns und Unterlassens gliedern zu können.
Für Juristen ist nach von Senger eine zunächst "strategemische Grobanalyse" beinahe stets geboten: "Ausgangspunkt ist die Frage: Ist in dieser Sachlage eine ungewöhnlich-listige Vorgehensweise grundsätzlich zu gewärtigen? In juristischen Texten ist die Frage grundsätzlich zu bejahen, insbesondere in Rechtschriften im Rahmen eines juristischen Verfahrens."
In der nächsten Stufe: "Wenn ja, handelt es sich um eine Täuschungen Vorschub leistende Sachlage (Täuschungssituation) oder um eine geschickten Wirklichkeitsgestaltungen Vorschub leistende Sachlage (Präsenzsituation)? Im Rechtsbereich und in der Politik ist grundsätzlich mit beiden Sachlagen zu rechnen."
In einer Täuschungssituation sei nach Anzeichen zu suchen, dass etwas vorgegaukelt oder etwas verborgen wird – mit jeweils abzuleitenden Interventionsmöglichkeiten, in einer Präsenzsituation steht schon eine mehr transaktionale Gefährdung eigener Interessen im Raum, zu fragen sei, ob etwas ausgemünzt, etwas er- oder vermittelt oder ob vor etwas die Flucht ergriffen wird.
Erst in der darauf aufbauenden Feinanalyse geht es dann um die Frage, ob die Strategem-Anwendung zu einer destruktiven oder einer konstruktiven Konsequenz führt. Bereits deshalb erscheint die "strategemische Analyse" wertvoll, wenngleich es zum Kollateralnutzen jedes Jurastudiums gehören dürfte, selbst abstoßende oder sogar ekelerregende Vorgänge zunächst als Tatbestand zur Kenntnis zu nehmen, bevor dann etwa die Frage nach einem Verschulden beantwortet wird.
In der moralisierenden – politischen und kulturellen – Massenkommunikation verhält es sich hingegen oft umgekehrt: Auf die Feststellung, dass man selbst nicht, der Gegner aber in jedem Fall schuld sei, folgt erst die Frage, was überhaupt der Fall ist.
Poetisch anmutende Sinnsprüche
Fraglich bleibt damit, was für den bereits auf nüchterne Wahrnehmung der Sachlage trainierten Juristen durch poetisch anmutende Sinnsprüche zu gewinnen ist.
Tatsächlich bleibt von Senger hier sehr oft vage. In den Ausführungen zu Strategem Nr. 5 – "Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen" – führt er beispielsweise an:
"Nur entfernt ähnelt dem Strategem Nr. 5 die kaum fest eingebürgerte, auf Lukas 10:33 anspielende Wortfolge 'Den barmherzigen Samariter spielen'. Sie umschreibt Katastrophenprofiteure, die unter der Maske der Wohltätigkeit und Mitmenschlichkeit in Wirklichkeit ihren eigenen Nutzen mehren."
Die praktischen Beispiele reichen dann von der Beobachtung, dass die (halb-) staatlichen chinesischen Konzerne in der Wirtschafts- und Finanzkrise der 2010er Jahre teils großzügig Gesellschaftsanteile an Unternehmen der europäischen Automotive-, Maschinenbau- und Chemiebranche erwarben, bis hin zu den trickreichen Bemühungen schweizerischer Ärzte, ihren Patienten unnötige Zusatzleistungen zu verkaufen.
Dem Sinologen und Juristen von Senger ist aus solchen oft relativ unspezifischen Beispielen nicht unbedingt ein Vorwurf zu machen. Denn Sachlagen des juristischen Alltagsgeschäfts werden regelmäßig keine allzu ausgeprägt "ungewöhnlich-listige Vorgehensweise" befürchten lassen, wobei sich natürlich auch hier Abgründe auftun können. Man denke an die "Täuschungssituationen", die Ansprüchen wegen entgangener Urlaubsfreude vorausgehen, oder die "Präsenzsituationen" eines komplexeren Bauprojekts mit kalendarisch verschachtelten Mängelanzeigen.
Analytische Einblicke von außen werden die Akteure dann aber nur selten zulassen. Werden sie zur bei Gericht anhängigen Sache, wird die Darstellung ihrer Motive schon taktisch vom Anwalt vorgefiltert sein.
Strategemisches und taktierendes Denken, ein grauer Bereich
Folgt man Harro von Senger darin, dass neben dem juristischen auch im politischen Raum stets mit einer "Täuschungssituation" oder einer "Präsenzsituation" zu rechnen ist, müsste die Kompetenz einer jedenfalls groben "strategemischen" Analyse zu den schlichten Pflichten politisch kluger Bürgerinnen und Bürger zählen.
Dies mit Hilfe der 36 Strategeme zu tun, deren formale Anforderungen zwar relativ schwach ausgeprägt sind, hätte doch den Vorzug, die Voraussetzungen und Folgen des analytischen Vorgehens offenzulegen, also keine ganz kruden Verschwörungsfantasien zu fabrizieren, die Frage, wem eine Lage nützt, aber auch nicht ganz zu vermeiden.
Wird außerhalb wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge kaum Spieltheorie gelehrt, finden Lehramtsstudierende kein Proseminar über Arthur Schopenhauers (1788–1860) "Eristische Dialektik" und dürfte kaum ein Professor der Allgemeinen Staatslehre auf die Idee verfallen, Carl von Clausewitz (1780–1831) oder Niccolò Machiavelli (1469–1527) als Pflichtstoff fürs erste juristische Staatsexamen vorzuschlagen, bleibt das "strategemische" Allgemeinbildungsniveau wohl eher flach.
Dass Harro von Senger in seinem Werk "36 Strategeme für Juristen" nicht allzu feinanalytisch an juristische Sachverhalte herantritt, ist bedauerlich, aber – wie erwähnt – nachzuvollziehen. Um sich einen Einblick zu verschaffen, lässt sich damit gleichwohl umso besser auf eines seiner anderen "strategemischen" Werke zurückgreifen – dem mnemotechnischen Zweck, listenreiche Situationen zu entdecken und sich ihrer bei Bedarf zu erinnern, dienen sie vermutlich ebenso gut.
Hinweis: Harro von Senger: "36 Strategeme für Juristen". Bern (Stämpfli) 2020, 300 Seiten, 103 Euro. Ders.: "36 Strategeme für Manager". München (Hanser) 2016, 240 Seiten, 29,99 Euro. Studierende deutscher Hochschulen werden oft zu älteren Auflagen/Titeln im E-Book-Angebot ihrer Universitätsbibliothek fündig.
Varianten der List im Recht: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51663 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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