Als Jude vor den Nazis geflohen, als KPD-Mitglied im Krieg Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst gehabt - und deshalb wegen Spionage in der späteren DDR zum Tode verurteilt. Die wilde Laufbahn des Leo Bauer.
Manche Menschen, die politische Verfolgung erlitten hatten, konnten spätestens dann mit relativ großzügiger Hilfe rechnen, wenn sie das rettende Ufer des freien Westens erreichten – sobald also sie oder ihre Angehörigen Aufnahme im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder von Berlin (West) fanden.
Das "Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlins (West) in Gewahrsam genommen wurden" – kurz Häftlingshilfegesetz (HHG) – vom 6. August 1955 regelte den Anspruch von deutschen Staatsangehörigen und ethnischen Deutschen, die nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 in der sowjetischen Besatzungszone, im sowjetischen Sektor von Berlin oder auch in anderen Regionen des kommunistischen Herrschaftsgebiets inhaftiert worden waren.
Vorausgesetzt wurde dabei unter anderem, dass die Inhaftierung "aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen", den Verfolgten, "nicht zu vertretenden Gründen" erfolgt war.
Das Häftlingshilfegesetz regelte, dass die in der DDR oder auch in anderen Gebieten des damaligen Ostblocks politisch verfolgten Deutschen Zugang zu Leistungen nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes erhielten. Wer durch die Inhaftierung gesundheitliche oder wirtschaftliche Schäden erlitten hatte, genoss damit einen Anspruch, außerhalb des – damals ohnehin noch nicht ausgebauten – Sozialhilfesystems jedenfalls eine gewisse Linderung seiner prekären Situation zu erleben.
Ein Leben wie aus dem Spionageroman
Zum späteren Kläger: Leo Bauer kam 1912 unter dem Namen Eliezer Lippa Ben Jossip David ha Cohen in der damals russischen, heute ukrainischen Ortschaft Skalat zur Welt. Seine Eltern flohen mit ihm 1914 vor den antisemitischen Pogromen aus dem Zarenreich nach Sachsen – der in Chemnitz aufgewachsene Bauer behielt zeitlebens einen merklichen sächsischen Akzent bei.
Seit 1925 deutscher Staatsangehöriger trat er 1928 in die SPD ein, wechselte 1931 in die linke Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), der auch sein Altersgenosse Willy Brandt zeitweise angehörte. Ab dem Jahr 1932 war Leo Bauer Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Sein Studium der Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Berliner Friedrich-Wilhelms-, der heutigen Humboldt-Universität wurde nach der Machtübergabe an Hitler aus "rassischen" Gründen seitens der Hochschule beendet.
Es folgte die wilde Laufbahn eines deutsch-jüdischen Flüchtlings und KPD-Mitglieds im Exil. Bereits seit 1932/33 im geheimdienstlich-militärischen "M-Apparat" seiner Partei tätig, arbeitete er seit 1933 insbesondere in der Flüchtlingshilfe, auch im Dienst des Hohen Kommissars für Flüchtlinge des Völkerbunds (heute UNHCR). Zu seinen Aufgaben zählte unter anderem, KPD-Funktionären zur Flucht nach Großbritannien zu verhelfen. Während des Zweiten Weltkriegs organisierte er Grenzübertritte von Frankreich in die neutrale Schweiz, wo er für eine Weile in Haft kam.
Aus der Zeit in der Schweiz resultierte ein Kontakt zum Vorläufer der CIA, dem Office of Strategic Services (OSS) – einem ziemlich wilden, nicht besonders wählerischen US-Geheimdienst, der etwa am anderen Ende der Welt, in Vietnam, massiv den militärischen Aufstieg von Hồ Chí Minhs kommunistischer Partei im Widerstand gegen die japanische Besatzungsmacht förderte.
Als der Krieg zu Ende war, arbeitete Leo Bauer im Dienst des sowjetischen Nachrichtendienstes, war zugleich freier Mitarbeiter der damals sehr erfolgreichen "Frankfurter Rundschau" und gehörte der verfassungsgebenden Versammlung des Landes Hessen an. Nach einem Intermezzo als Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag wechselte er 1949 in die Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ) bzw. Deutsche Demokratische Republik (DDR), wo er als Chefredakteur des Deutschlandsenders tätig wurde.
Zum Tode verurteilt, in der Sowjetunion inhaftiert
Nach Angaben des Bundesverwaltungsgerichts wurde Leo Bauer am 23. August 1950 verhaftet und am 28. Dezember 1952 durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tode verurteilt – wegen "Weltbourgeoisie, Spionage, antisowjetischer Propaganda und Gruppenbildung".
Er blieb damit nicht allein, sondern war Objekt einer breiten Verfolgungskampagne in mehreren Ländern des sowjetischen Hegemonialraums – oft ohne nachweisbare Schuld inhaftierten die stalinistischen Militär- und Geheimdienststellen Menschen, die im Verdacht standen, während des Krieges mit dem amerikanischen OSS kooperiert zu haben. Den zahllosen Todes- und langjährigen Haftstrafen fielen nicht wenige inbrünstig gläubige Kommunisten zum Opfer.
Bauer, als amerikanischer Spion zum Tod verurteilt und in die Sowjetunion überstellt, wartete zwischen Januar und Juni 1953 auf seine Hinrichtung, wurde dann aber zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien begnadigt, schließlich im Oktober 1955 in die Bundesrepublik entlassen – im Rahmen der deutsch-sowjetischen Absprachen zur Rückführung der deutschen Gefangenen in der Sowjetunion.
Leo Bauer erhielt zunächst Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz, sein Antrag auf weitere Eingliederungshilfe wurde jedoch Anfang der 1960er Jahre wegen seiner Tätigkeit als Chefredakteur des DDR-Deutschlandsenders abgelehnt.
Sittliches Unwerturteil ist nicht länger erforderlich
Ursprünglich sah § 2 Häftlingshilfegesetz in der Fassung vom 6. August 1955 nur gravierende Ausschlussgründe vor. Leistungen sollte nicht erhalten, wer nach dem 8. Mai 1945 zu einer – entehrenden – Zuchthausstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt worden war, wer im sowjetisch kontrollierten Ausland "gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit" verstoßen hatte (wobei der Bundestag insbesondere an die Misshandlung von Mithäftlingen dachte) oder wer "in den Gewahrsamsgebieten dem dort herrschenden politischen System in verwerflicher Weise Vorschub geleistet hatte".
Weil damit das Versorgungsamt in der ungünstigen Lage war, im Zweifel einem Antragsteller nachweisen zu müssen, dass seine Tätigkeit einen "verwerflichen" Beitrag dazu geleistet hatte, die sowjetische Vorherrschaft zu fördern, schuf der Bundesgesetzgeber in einer Neufassung des Gesetzes vom 25. Juli 1960 Abhilfe.
Das neu gefasste Gesetz schloss nun auch, bisher hatte man darüber hinwegsehen wollen, NS-Straftäter von den Leistungen aus. Für den Antrag von Leo Bauer relevant war die Änderung von § 2 Abs. 1 Nr. 1 Häftlingshilfegesetz.
Musste bisher das Versorgungsamt für den Leistungsausschluss belegen, dass der Antragsteller in "verwerflicher" Weise der kommunistischen Diktatur diente, genügte nun, dass er "dem dort herrschenden politischen System erheblich Vorschub geleistet" hatte.
Mit seiner Tätigkeit beim DDR-Deutschlandsender, institutionell einer der Vorläufer des heutigen Deutschlandradios bzw. Deutschlandfunks Kultur, hatte Leo Bauer nach Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs der kommunistischen Herrschaft in entsprechender Weise gedient. Festzustellen, dass dies auch sittlich zu missbilligen sei, war nun nicht mehr erforderlich. Es genügte die Feststellung, dass die Tätigkeit "erheblich" war.
Diese Feststellung wiederum "wird in der Regel zu bejahen sein", erklärte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 3. November 1964, " wenn der Antragsteller an führender Stelle tätig war, die ihm die Möglichkeit gab, im Sinne des herrschenden politischen Systems tätig zu werden, wie es der Verwaltungsgerichtshof im Falle des Klägers festgestellt hat. Dem herrschenden politischen System hat er auch dann Vorschub geleistet, wenn er sich dem System an sich verschrieben hatte, innerhalb des Systems aber auf längere oder kürzere Zeit von der befohlenen Linie abwich oder fälschlich der Abweichung bezichtigt wurde oder aus anderen Gründen im Rahmen innerer Machtkämpfe in Ungnade fiel und verfolgt wurde …" (BVerwG, Urt. v. 03.11.1964, Az. VIII B 75.63)
Da von der Verweigerung zusätzlicher Eingliederungshilfe die bisherigen Leistungen seit 1955 nicht betroffen waren, lag nach Auffassung des Gerichts auch kein Eingriff in einen bestandskräftigen Verwaltungsakt vor.
Biografie aus den wilden Jahren der Bundesrepublik: to be continued
Heimatlos im freieren Teil Deutschlands gestrandet, seine gesamte Familie war im Holocaust ermordet worden, stand Bauer zunächst wirtschaftlich schwere Zeiten durch, reüssierte jedoch bald, erst im journalistischen, dann im politischen Betrieb der Bundesrepublik – nunmehr, seit 1956, als Mitglied der SPD.
Zunächst beim Magazin "Quick", einer auflagenstarken, allerdings nicht ganz auf dem damaligen Niveau von "Spiegel" oder "Stern" tätigen Zeitschrift, seit 1961 als Redakteur des damals sehr einfluss- und reichweitenstarken Magazins "Stern", stieg Leo Bauer schließlich zu einem der engsten Berater des kommenden starken Manns der SPD auf, des späteren Bundeskanzlers der Jahre 1969 bis 1974, Willy Brandt (1913–1992).
Das damals gern so genannte Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" beschrieb Leo Bauer im Jahr 1970 sogar als einen führenden Kopf im Umfeld von Willy Brandt, der einen ganz wesentlichen Beitrag zu den Reden des Bundeskanzlers leistete – seinerzeit noch eine wahrnehmbare und gern genutzte Ausdrucksform führender deutscher Politiker.
Im Fall des in Guatemala von linksterroristischen Partisanen entführten, schließlich ermordeten deutschen Diplomaten Karl Graf von Spreti (1907–1970) bot Leo Bauer, eingedenk seiner eigenen wilden Vergangenheit, seine Dienste als Vermittler an – ähnlich der Laufbahn von Hans-Jürgen Wischnewski (1922–2005), der bei vormaligen arabischen Terroristen erhebliche "street credibility" genoss, weil er während des Unabhängigkeitskriegs enge Kontakte zum bewaffneten antifranzösischen Widerstand in Algerien gepflegt hatte.
Bauers kommunistische Vergangenheit führte jedoch dazu, dass ihm die Einreise in die USA nur auf ausdrücklichen Wunsch der Bundesregierung gestattet wurde, gewiss keine günstige Voraussetzung für die Arbeit im amerikanischen Hinterhof. Und auch ein weiteres Hindernis für eine offizielle oder inoffizielle diplomatische Karriere hielt der "Spiegel" fest: Englisch und Französisch spreche Leo Bauer nach eigenem Eingeständnis nur "mit schrecklichem sächsischem Akzent".
Zwei Jahre nach dem "Spiegel"-Porträt starb Bauer, erst 59-jährig. – Neben dem "schrecklichen sächsischen Akzent" war sein früher Tod vielleicht ein Grund, warum diese spannende Biografie eines Spions, Journalisten und Politikberaters noch nicht im Spielfilm erzählt wurde.
Hinweise: Das verdienstvolle Handbuch "Wer war wer in der DDR" aus dem Christoph-Links-Verlag enthält ausführliche Angaben zu Leo Bauer, vorliegend referiert nach der biografischen Datenbank der Bundesstiftung Aufarbeitung.
Leo Bauer - Ein Leben wie aus dem Spionageroman: . In: Legal Tribune Online, 03.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55759 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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