In den USA, Heimat einer zivilisatorisch überlegenen Fernsehkultur, werden Schimpfwörter regelmäßig mit einem Piepston überdeckt. Gern trifft es das populäre "F"-Wort "f***". Die deutsche Jurisprudenz hätte gute Gründe, ihr eigenes "F"-Wort zu kreieren: "formaljuristisch". Es verdient ähnlich viel Aufmerksamkeit wie die obszöne US-Vokabel, so die (un)moralische Sprachkritik von Martin Rath.
Heute drückt es meist nur ein moralisches Unbehagen an Justizpraxis oder Rechtsstaat aus, dabei ist sein Gebrauch meist harm-, mitunter gedankenlos: "Formaljuristisch" sei eine Entscheidung gewesen – man mag sie zwar nicht, will oder kann sich aber nicht weiter gegen sie wehren. In juristischen Wende- und Umbruchzeiten hat die Vokabel "formaljuristisch" Konjunktur. Dem Bundesgerichtshof (BGH) diente sie einst sogar, mindestens eine Entscheidung contra legem, gegen das Gesetz, zu treffen. Spätestens beim BGH sollte der juristische Spaß aufhören.
Zunächst zum Alltagsübel des juristischen "F"-Worts "formaljuristisch". Nicht wenigen Politikern und Medienleuten darf attestiert werden, überraschend schmerzfrei auf Gedankenlosigkeit zu reagieren, wenn es nur ihre eigene ist. Entsprechend oft tummelt sich das "F"-Wort auf der politisch medialen Spielwiese.
Ein frisches Beispiel liefert der TV-Nachrichtensender "n-tv" in einem Online-Text zu den Auswirkungen, die der britische Abhörskandal für das Medienimperium der Familie Murdoch haben könnte. Der "Medienmogul" habe, lässt der Nachrichtensender wissen, eine "milliardenschwere Übernahmeofferte" für eine TV-Bezahlsenderkette zurückgezogen, weil im Parlament ein fraktionsübergreifender Beschluss gegen den Deal drohte: "Bindende Wirkung hätte dieser Beschluss für Murdoch zwar formaljuristisch nicht gehabt", lässt uns die "n-tv"-Redaktion wissen, "jedoch wäre es ein deutliches Zeichen der Ablehnung des Geschäfts gewesen."
Sprachkritiker sind bekanntlich zornige alte Leute, die mit stummen Lippen zucken, wenn der gepiercte Nachwuchs in der Straßenbahn ins Handy klagt, er sei "der einzigste in seiner Klasse", der von seiner Lehrerin kujoniert werde. Beim "F"-Wort-Gebrauch durch den Sender "n-tv" ist dieses stumme Lippenzucken indiziert: Oft wird "formaljuristisch" geschrieben, wo ein einfaches "juristisch" gereicht hätte. Der einfache britische Parlamentsbeschluss wäre nur ein politisches Statement gewesen, ohne Rechtsverbindlichkeit. "Formal" dient hier bloß der rhetorischen Politur. Das ist harm-, wenn auch gedankenlos.
Von der rhetorischen Politur zur Wut(unterdrückungs)vokabel
Referentenentwurf, Kabinettsentwurf, erste Lesung, zweite Lesung, dritte Lesung, Zeichnung und Gegenzeichnung, Verkündung et cetera – kaum ein Lebensbereich ist derart von Formalitäten geprägt wie der juristische Sektor. Sich öffentlich darüber zu beklagen, dass es die bösen Formen des juristischen Betriebs gewesen seien, die den moralischen oder politischen Erfolg verhindert hätten, zählt zur fast schon traditionellen Rhetorik des enttäuschten Bürgers – mit oder ohne Mandat.
So zog das Land Brandenburg in diesen Tagen eine verwaltungsgerichtliche Klage zurück, die es im Zusammenhang mit einer Schleuse erhoben hatte, die in einem Ort mit dem possierlichen Namen Kleinmachnow erweitert werden soll. Die Regierung Brandenburgs habe, so gibt der "Tagesspiegel" wieder, "eingesehen dass sie mit der Klage formaljuristisch keine Chance habe" und das Blatt zitiert den zuständigen Verkehrsstaatssekretär mit den Worten: "Das Land hat zwar einen Anspruch auf vernünftige verkehrspolitische Entscheidungen – das ist aber nicht einklagbar."
Jeder Kläger weiß sicher, dass er im Recht ist. Falls er nicht sicher ist, hat er jedenfalls die Vernunft auf seiner Seite, dieser Glaube ist ja noch weiter verbreitet. Ein Gericht sagt dem Kläger, dass er sein vermeintliches Recht nicht bekommen wird. Nun steht der Kläger da mit seiner Vernunft und beschwert sich: Nicht "juristische" Gründe hätten ihn gehindert, sein Recht zu bekommen – das klänge zu sehr nach "materiellem Recht" oder "klaren Prozessregeln", also ehrwürdig und hochherrschaftlich. Nein, an "formaljuristischen" Erwägungen sei der Anspruch gescheitert. Das klingt klandestin, spitzfindig, unwürdig. Man will ja seine Vernunft behaupten.
Beispiele dieser Rhetorik sind Legion und haben nicht immer nur etwas vom maulenden Helden. Als jüngst Bundestagspräsident Nobert Lammert in seiner Funktion als Wächter über formgerechte Parteienfinanzierung der bayerischen SPD nicht ihren Willen gab, ereiferte sich laut "Augsburger Allgemeiner" der weiß-blaue SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher über eine "formaljuristische Spitzfindigkeit" des Bundestagspräsidenten. Der hatte aus Steuergeldern finanzierte Meinungsumfragen der Bayerischen Staatskanzlei, die – so die "Augsburger Allgemeine" – den Interessen der CSU dienten, nicht als verdeckte Parteienfinanzierung brandmarken wollen: Die Bundestagsverwaltung begründete dies offenbar mit der Aussage, es sei ihr nicht gelungen, der CSU nachzuweisen, dass sie in den Besitz der Meinungsumfrage gekommen war. Darin entdeckt der SPD-Mann – womöglich zu Recht – eine juristische Spitzfindigkeit: "Ministerpräsidenten und Parteivorsitzende – das gilt auch für Horst Seehofer – sind in der Regel nicht gespaltene Persönlichkeiten."
Allein, auch hier dient der Vorwurf des bloß "Formaljuristischen" dazu, moralische Enttäuschung zu unterstreichen. Das hilft bei der rhetorischen Abwertung des bundestagspräsidialen Entscheids. Wollte man ihn anfechten, griffe man aber wohl doch auf "hartes" materielles Recht zurück.
Ernster könnte die Lage werden, wenn der neuerdings des Öfteren als "Wutbürger" apostrophierte Souverän sich selbst einer politischen Rhetorik bemächtigt, in der das "nur Formale" zugunsten einer vermeintlich wertvolleren Vernunft oder Moral beiseite treten soll. Ein Beispiel finden wir wiederum in Süddeutschland, womöglich passend, weil wir den Dreisprung von problematischer Justizkritik über barocke Sprachgewalt zu handfestem Protest gerne südlich von "Preißn" vermuten wollen:
Gegen den Ausbau der Autobahn A3 bei Würzburg hatten vier betroffene Ortsansässige geklagt und waren letztlich vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gescheitert. Hinter ihnen stand, wie die Presse berichtet, "eine große Bürgerinitiative". Wie ist die Rechtslage, wenn sie von der Lokalpresse beschrieben wird? "Sie [die Bürgerinitiative] hatte formaljuristisch nicht das Recht, kollektiv zu klagen."
Diese Medienrhetorik soll wohl bedeuten: Eigentlich haben die Verbände ein Recht zu klagen. Oder sie sollten es doch bekommen. Aber es ist die böse Justiz, die es ihnen "formaljuristisch" verweigert.
BGH gegen Formalismus und den "Triumph des sittlich Verwerflichen"
Es sind jedoch nicht nur Journalisten und "Wutbürger" (in spe), die am "Formaljuristischen" zu bemängeln haben, dass es ihnen mit ihren moralischen Überzeugungen oder anderen Spielarten höherer Vernunft nicht zum Erfolg verhilft.
Sogar der Bundesgerichtshof hatte seine schwachen Stunden und griff tief in die Kiste des etwas vulgären "formaljuristischen" Topos, nachzulesen in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" des Jahres 1959 auf den Seiten 2.207-2.209. Die BGH-Richter mussten über einen verwickelten Fall entscheiden (Urt. v. 29. April 1959, Az. IV ZR 265/58), der sie schwer in moralische Atemnot brachte:
Der Kläger heiratete 1944 in Polen Frau Nr. 1 und 1945 in Deutschland Frau Nr. 2, mit der er dann drei Kinder hatte. 1946 wurde er von einem polnischen Gericht für tot erklärt, Frau Nr. 1 heiratete 1957 von Neuem. Wohl um eine Frau Nr. 3 heiraten zu können, erhob der Mann nun Klage, um seine Ehe mit Frau Nr. 2 wegen Bigamie für nichtig erklären zu lassen.
Ambrose Bierce definierte zwar lange vor dieser Affäre: "Bigamie, die – Geschmacksverwirrung, für die künftige Weisheit eine Strafe namens Trigamie verhängen wird", als Rechtsquelle hatte "Des Teufels Wörterbuch" aus der Feder des bösen US-amerikanischen Schriftstellers natürlich 1959 vor dem schwer naturrechtsorientierten BGH keine Chance.
Den BGH-Richtern schwebte zur Lösung der nur moralisch, nicht rechtlich verwickelten Ehe-Affäre indes weder der fröhliche Zynismus eines Ambrose Bierce vor noch die schlichte Anwendung des positiven Rechts. In einem einfachen Subsumtionsakt hätten die Gerichte dem Klagebegehren des Mannes stattgeben können: Das damals geltende Ehegesetz sah die Ehe mit Frau Nr. 2 formal als für nichtig zu erklärende Doppelehe an.
Für ihre moralische Empörung – mit der womöglichen Frau Nr. 3 scheint der Kläger auch 'schon etwas gehabt zu haben' – fanden die Bundesrichter, positives Recht hin oder her, diese goldenen Worte:
Das Vorgehen des Klägers stelle sich "aufs Ganze gesehen, eindeutig als Bestätigung einer wertverneinenden Lebenseinstellung dar" und deshalb "erhält es von dieser notwendigen sittlichen Gesamtwertung her trotz seiner formal-rechtlichen Legitimation den Charakter eines Unrechts, vor dem die davon Betroffenen oder Bedrohten in ihren berechtigten Interessen geschützt werden müssen."
Das Formale im Recht, es zählt hier also wenig, "(d)enn es kann niemandem gestattet sein, einen Rechtserfolg herbeizuführen, der zwar für sich betrachtet von der Rechtsordnung nicht mißbilligt wird, sich aber im Gesamtgefüge der Handlungen dessen, der ihn herbeiführen will, und in der Gesamtheit der mit ihm bezweckten Auswirkungen als Triumph einer sittlich verwerflichen Gesinnung darstellt."
Gibt es heute eine Lehre von den Kryptoargumenten?
In einer umfangreichen Studie "über die juristischen Argumente: formal, formell, formalistisch, formallogisch, formaljuristisch", die 1972 unter dem Titel "Formalismusargumente" im ehrwürdigen "Archiv für civilistische Praxis" (AcP Band 172, Seiten 396-451) erschien, diente das BGH-Urteil dem Mainzer Juraprofessor Wilhelm A. Scheuerle als damals aktueller "leading case" für eine "Kryptoargumentation" im juristischen Diskurs – ehrlicher wäre ein offenes Bekenntnis des BGH gewesen, ein Urteil gegen das Gesetz zu fällen und ihre Entscheidung nicht mit dem Vorwurf des "Formaljuristischen" zu würzen.
Kurz gefasst: Wenn ein Strafverteidiger mit dem Vorwurf des "Formalismus" komme, gehe das womöglich noch an. In Urteilen hingegen unterliefen Kryptoargumente das rechtsstaatliche Gebot schlüssig begründeter Gerichtsentscheidungen.
Zwei Aspekte der Aufmerksamkeit
Scheuerle hat seinerzeit eine ganze Serie luzider Untersuchungen zu problematischen Argumentationsstrategien im juristischen Diskurs veröffentlicht, neben dem "Formalismus" nahm er sich umfangreich auch des "Wesens des Wesens" an oder einer vermeintlichen juristischen "Logik". Trotz digitalisierter Form lassen sich leider bis heute keine statistischen Aussagen über die – inzwischen möglicherweise gereifte? – Begründungspraxis treffen, weil die Veröffentlichungsroutinen der Gerichte keinen entsprechenden Zugriff erlauben. Man darf zwar vermuten, dass jedenfalls der Bundesgerichtshof nicht mehr derart tief in die Zauberkiste der Kryptoargumente greifen wird, wie er das 1959 noch tun konnte. Über die verschiedenen Gerichtsbarkeiten hinweg beobachten zu können, wie weit die "wahren" Urteilsgründe verdunkelt werden, bleibt gleichwohl von anhaltendem Interesse. Die Suche nach "Formalismusargumenten" könnte dazu dienen.
Insoweit schult der Vorwurf des "bloßen Formalismus" den kritischen Blick auf die Justiz. In der Journalistensprache und jener der Politik – leider oft ein Ei, das dem anderen gleicht - kann der Vorwurf, es gehe nur "formaljuristisch" zu, als Indikator für den Grad an Populismus der Gesellschaft dienen. Juristische Formen sind neben dem Gefühl, ethisch ans positive Recht gebunden zu sein, sowohl eine Voraussetzung für den Rechtsstaat als auch für eine funktionierende Demokratie. Denn ohne Form weiß ja niemand, worüber (demokratisch) zu entscheiden ist.
Gerade begeisterte Demokraten sollten daher ihre Ohren spitzen, wenn von "Formaljuristerei" die Rede ist. Auch wenn man zugeben muss: Die Phrase ist so verbraucht, man würde manchmal lieber den US-amerikanischen Piepston hören.
Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Kleine juristische Sprachkritik: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3838 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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