Im dunklen Frühmittelalter war er eine der Lichtgestalten: Karl der Große. Als Eroberer machte er sich ebenso einen Namen wie als Reformer. Jetzt jährte sich sein Todestag zum 1.200sten Mal. André Niedostadek nimmt das zum Anlass, zu fragen, was der Vorbote Europas rechtsgeschichtlich in die Waagschale der Justitia zu werfen hat.
Rom im Jahr 799. Die Neuigkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Rest der Welt: Es heißt man habe Papst Leo III bei einem Anschlag die Augen ausgerissen und die Zunge abgeschnitten. Tatsächlich hat das Kirchenoberhaupt so manche Feinde, die ihm nicht nur Ehebruch und Meineid krumm nehmen.
Doch auch wenn man in jenen Tagen nicht eben zimperlich miteinander umgeht, ist der Pontifex wohlauf. Er kann seinen Häschern entwischen und macht sich über die Alpen auf und davon. Sein Ziel: Paderborn. Dort residiert Karl, König der Franken, mit seiner Entourage.
Gewaltherrscher und Reformer
Der Frankenkönig aus der Dynastie der Karolinger ist einer der mächtigsten Herrscher. Schon lange verbindet ihn eine enge Bande mit Rom. Mit Leos Onkel und Vorgänger Papst Hadrian I hat er einen Deal in einem abgekarteten Machtspiel: Der Papst billigt Karl als König, der im Gegenzug verspricht, bei seinen Eroberungs- und Unterwerfungsfeldzügen die heidnischen Stämme zu christianisieren – im Zweifel auch mit dem Schwert.
Anlässe gibt es genug: Langobarden, Sachsen und Bayern – wer nicht spurt wird oft in aufreibenden jahre- und jahrzehntelangen Kriegen und Scharmützeln von Karl und seinen Mannen unterworfen. Eigentlich ist immer Krieg. Karl formt so das Frankenreich zu einer Großmacht, die über Zentraleuropa von Italien bis hinauf nach Dänemark reicht.
Aber wie soll man ein solches Imperium regieren? Karl macht sich daran, alles zu vereinheitlichen: Angefangen von der Bildung über die Sprache bis hin zu den Steuern. Und er setzt auf das, was man heute vielleicht eine dezentrale Verwaltungsreform nennen würde. Er richtet Grafschaften ein und besetzt sie mit Vertrauensleuten. Es ist ein einfaches Spiegelbild bestehender Machtverhältnisse. Die Pfalz- und Marktgrafen sind Verwalter der Königsgüter, militärische Befehlshaber mit Herrschaftsbefugnissen und sie können Recht sprechen.
Karl selbst hat mit Aachen als Herrschersitz zwar eine Lieblingsresidenz. Eigentlich führt er aber ein ruheloses Leben und zieht samt Hofstaat im Reich von einer Pfalz zur nächsten. Und er hat in allem das letzte Wort – auch bei der Gerichtsgewalt.
Ein rechtliches Wirrwarr
Wie sich das Rechtsleben tatsächlich abspielte, lässt sich wie so vieles heute kaum rekonstruieren. Sicher ist dem frühen Mittelalter ein einheitliches kodifiziertes Recht nach unserem Verständnis fremd. Selbst bis zu bedeutenden mittelalterlichen Rechtssammlungen wie dem "Sachsenspiegel" Eike von Repgows werden noch weitere vier Jahrhunderte verstreichen. Es gibt stattdessen eine Vielzahl an regionalen Volks- und Stammesrechten, nur teilweise aufgezeichnet sind sie oft als Gewohnheitsrecht mündlich überliefert. Mitunter ist es mehr oder weniger stark vom römischen Recht beeinflusst, was kaum überrascht: Der Expansionskurs der Römer einige Jahrhunderte zuvor wirkt nach.
Rechtsgeschichtlich birgt die Regierungszeit Karls des Großen viel Interessantes, auch wenn die Quellenlage dürftig ist und echte Belege fehlen. Man beginnt damit, einzelne Stammesrechte aufzuzeichnen und wo es sinnvoll erscheint kurzerhand mit fränkischem Recht zu ergänzen. Die Lex Saxonum gilt dafür als Beispiel. Vor allem aber sind es die überlieferten Kapitularien die man mit Karl dem Großen verbindet. Karl, der selbst wohl kaum lesen oder schreiben kann, aber doch mehrere Sprachen spricht, bringt ein Sammelsurium aus Anweisungen, Ratschlägen oder auch nur Hinweisen auf den Weg. Sie sind teils ergänzend, teils grundlegend, teils fallbezogen und haben vielleicht so etwas wie gesetzlichen Charakter. Möglicherweise dienen sie zur Rechtsharmonisierung – gerade in Europa auch heute noch ein Thema.
Das Rätsel der Kaiserkrönung
Wieder zurück nach Paderborn: Dort bereitet Karl dem eintreffenden Papst Leo einen feierlichen Empfang. Der bleibt jedoch nur kurze Zeit, bevor er wieder an den Tiber zurückkehrt. Was die beiden miteinander ausmachen ist ungewiss. Vielleicht werfen schon größere Ereignisse ihre Schatten voraus. Im Jahr drauf bricht Karl jedenfalls selbst Richtung Rom auf. Dort angekommen wird der Frankenkönig von Papst Leo III ehrenvoll empfangen und zu Weihnachten im Jahr 800 von ihm in der Peterskirche zum Kaiser gekrönt. Warum er das tut, wie es dazu kam und vor allem aber welche Rolle der Frankenkönig selbst dabei spielt, lässt Historiker noch heute rätseln.
Karl sieht seine Kaiserwürde weniger durch den Papst verliehen als vielmehr von Gott höchst selbst empfangen. Er nennt sich entsprechend "allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert, durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden". Er ist das Oberhaupt der Christenheit, jedenfalls in weltlichen Belangen. Sein Symbol wird übrigens ein römisches Feldzeichen: Der Adler als Sinnbild einer universalen weltlichen Ordnung. Spuren dieses Zeichens reichen bis in die heutige Zeit.
Neben dem Kaiserreich Byzanz im Osten ist damit im Westen nach dem Untergang der antiken römischen eine neue Kaisertradition begründet. Sie verschwindet mit dem Ende der Karolinger gut 100 Jahre später zwar noch einmal von der Bildfläche. Dann besinnen sich die die ostfränkischen und römisch-deutschen Könige ab dem 10. Jahrhundert wieder darauf bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806.
Knapp tausend Jahre zuvor stirbt Karl am 28. Januar 814 in seiner Geburtsstadt Aachen mit nicht ganz 70 Jahren. Wenig später schon nennt man ihn „Karolus magnus“.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
André Niedostadek, Karl der Große: . In: Legal Tribune Online, 01.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10850 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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