2010 forderte Kirsten Heisig in ihrem vielbeachteten Werk "Das Ende der Geduld" ein schnelleres und resoluteres Vorgehen gegen Straftäter. Am Montag veröffentlichte ihr langjähriger Freund und Weggefährte Andreas Müller seine eigene Bestandsaufnahme zur deutschen Strafjustiz. In den Medien wird er als "härtester Jugendrichter Deutschlands" gehandelt.
LTO: Herr Müller, in Ihren Anfangstagen als Jugendrichter hatte die Staatsanwaltschaft Ihnen den Spitznamen "Der milde Müller" verliehen, weil Sie nie Haftstrafen verhängen wollten. Heute gelten Sie als härtester Jugendrichter des Landes. Was hat sich seitdem verändert?
Müller: Meine erste Haftstrafe habe ich sehr widerwillig verhängt, gerade im Jugendstrafrecht versucht man das ja tunlichst zu vermeiden. Im Laufe der Jahre habe ich aber angefangen, dieses Credo in Frage zu stellen. Ich hatte immer wieder Täter, häufig aus der rechtsradikalen Szene, mit einem ellenlangen Strafregister vor mir, die noch nie eine JVA von innen gesehen hatten. Bei denen zeigten die bisherigen Strafen offensichtlich keinerlei Wirkung. Wenn ich als Richter die fünfte Geld- oder Bewährungsstrafe verhänge und schon vorher beinahe mit Sicherheit weiß, dass der Angeklagte erneut straffällig werden wird, dann muss ich mich doch fragen, ob ich nicht etwas an meiner Arbeitsweise ändern sollte.
LTO: Und die Lösung besteht darin, die Täter einfach wegzusperren?
Müller: Um "einfach wegsperren" geht es nicht. Ich will keine längeren Haftsstrafen, sondern kürzere.
LTO: Wir hatten auf etwas mehr konservative Polemik gehofft.
Müller: Dann muss ich Sie enttäuschen. Die gesetzlich vorgesehenen Strafrahmen reichen nach oben hin völlig aus, sie werden ja ohnehin kaum jemals ausgeschöpft. Das Problem besteht aber, gerade im Jugendstrafrecht, an der Untergrenze. Ich kann einen Täter nur für mindestens sechs Monate ins Gefängnis schicken. Alternativ gibt es noch den Arrest mit einer Höchstdauer von vier Wochen. Ich habe aber häufig Fälle, bei denen ich einen Täter gerne mal für zwei oder drei Monate in die JVA schicken würde.
"Wenn über ein Jahr zwischen Straftat und Urteil liegt, geht jeder erzieherische Effekt verloren"
LTO: Was müsste sich sonst noch ändern?
Müller: Eine Reihe von Dingen. Wenn Sie zum Beispiel einen 14-jährigen Straftäter vor sich haben, dessen drei jüngere Brüder ebenfalls kriminell und dessen Eltern Alkoholiker sind, dann liegt es ja auf der Hand, dass die Lösung des Problems nicht allein darin liegen kann, den 14-Jährigen zu bestrafen. Derzeit haben Sie als Jugendstrafrichter aber keinerlei Handhabe gegen die Eltern oder Geschwister, weil das allein Sache des Familienrichters ist. Das müsste in einer Hand gebündelt werden. Den "Erziehungsrichter" gibt es schon als gesetzliche Soll-Vorschrift – leider auch nur als solche.
Aber es geht nicht nur um Gesetzesänderungen, es müssten sich auch die Abläufe beschleunigen, bei den Gerichten und vor allem bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Oft liegt mehr als ein Jahr zwischen dem Bekanntwerden und der Aburteilung wegen einer Straftat. Dadurch geht die für den erzieherischen Effekt essentielle Unmittelbarkeit zwischen der kriminellen Handlung und der Strafe verloren.
Wenn es denn überhaupt zu einer Strafe kommt. Oftmals werden die Verfahren ja schon im Vorfeld durch die Staatsanwaltschaft eingestellt; manche Täter werden drei oder viermal straffällig, bevor sie einen Jugendrichter auch nur zu Gesicht kriegen. Da würde ich mir eine Änderung des § 45 Jugendgerichtsgesetz wünschen, wonach spätestens bei der zweiten Straftat die Sache zwingend zum Jugendrichter kommen muss.
Schluss mit der Sozialromantik: . In: Legal Tribune Online, 14.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9557 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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