Vor 80 Jahren wurde einer schottischen Spiritistin der Prozess wegen Verletzung eines Hexerei-Gesetzes aus dem Jahr 1735 gemacht. Neben der allgemeinen Neigung zur Geisterseherei stand sie auch aus Gründen der Kriegslist unter Beobachtung.
Eigentlich lesen die Leute heute keine Bücher mehr, sondern starren lieber auf kleine Bildschirme, die sie überall mit sich herumtragen.
Zu den auch in Deutschland populären Werken der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur, die sich immer noch recht gut verkaufen, zählen aber die Romane des britischen Schriftstellers Ben Aaronovitch (1964–) rund um den magisch begabten Polizisten Peter Grant, der seinen Dienst in einem von übernatürlichen Wesen bevölkerten London der Flussgötter, Vampire und Geister verrichtet.
Zu den beneidenswerten Nebenwirkungen der Hexerei-Übungen des jungen Ermittlers gehört es, das elektronische Innenleben von Mobiltelefonen in Silikonstaub zu verwandeln. Abgesehen davon, diese heimliche Sehnsucht bibliophiler Menschen auszudrücken, gelingt es Aaronovitch gut, seine Figur in einer realistisch dargestellten Arbeitswelt der Polizei zu verankern – er skizziert die soziologischen Abgründe dieser Behörde und auch die konventionelle Ermittlungsarbeit akkurater als es der gewöhnliche deutsche Fernsehkrimi kann.
Wenn es sich ein Land leisten darf, seine Staatsverfassung rund um ein Staatsoberhaupt aufzubauen, das mit magischem Öl ins Amt gesalbt wird, liegt der Gedanke an Polizisten mit Hexereikompetenz wohl nicht fern. In Deutschland muss man sich insoweit leider mit Frank-Walter Steinmeier und Rainer Wendt begnügen.
Königliche Kriegsmarine erkennt spiritistische Praxis an
Mitunter überrascht es trotzdem, wie kurz der Weg vom populären magischen Denken in die britische Staatspraxis mitunter war.
Im Lauf des Jahres 1941 erkannte beispielsweise die Royal Navy den Spiritismus offiziell als religiöse Praxis an. Die Kriegsmarine reagierte damit, wie der Historiker Malcolm Gaskill (1967–) erzählt, auf die seinerzeit starke Verbreitung von Séancen und anderen Formen des Kontakts mit den Geistern verstorbener Menschen. So bestanden in Großbritannien zwischen beiden Weltkriegen nicht weniger als rund 50.000 magische Zirkel.
Es war vor allem die Todesfabrik des Ersten Weltkriegs, die dem Spiritismus während der 1920er und 1930er Jahre diese beachtliche Konjunktur verschaffte. Die oft nur vage konfessionelle Bindung der Briten, verbunden mit ganz oberflächlichen säkularen Überzeugungen, kam hinzu.
Bekannt ist etwa die Leidenschaft von Arthur Conan Doyle (1859–1930) für die Geisterseherei, die nicht zu der berühmtesten Figur des Mediziners und Schriftstellers zu passen scheint – selbst wenn sein Sherlock Holmes bei Licht besehen doch weniger als ein rationaler Detektiv, mehr als ein manischer Interpret von Zeichen mit überzogenem Anspruch an deren logische Auswertung auftritt.
Während sich Doyle in der sogenannten besseren Gesellschaft bewegte, verkaufte seine schottische Landsmännin Helen Duncan (1897–1956) ihre spiritistischen Dienstleistungen in den Kreisen der einfachen Leute – darunter Mannschaften der britischen Marine und ihre Angehörigen an Land.
Ein Medium macht sich bei den Behörden unbeliebt
Die Karriere Helen Duncans in der spiritistischen Szene war offenbar nicht untypisch. Zunächst suchten Menschen aus der Nachbarschaft um ihren Rat, weil die psychisch auffällige Frau als hellseherisch begabt galt. Hoch intelligente Großmütter ohne hinreichenden sozialen Aktionsradius, dafür mit "zweitem Gesicht", zählen ja auch zur Legende nicht weniger deutscher Familien.
In der unfassbaren Armut, die weite Teile der britischen Arbeiterschaft zwischen den Weltkriegen traf – Duncan hatte acht Kinder, ihr Mann kam verkrüppelt aus dem Krieg – begann sie Séancen gegen Entgelt anzubieten. Zu einer gewissen landesweiten Bekanntheit trug bei, dass sich parallel zum Spiritismus auch eine Skeptikerbewegung organisierte. Denn selbsternannte Hexen, Geisterseher und andere Sonderlinge sind ein dankbares Forschungsgebiet für wissenschaftlich interessierte Menschen, denen nicht die Mittel des akademischen Wissenschaftsapparats zur Verfügung stehen.
1933 hatte Duncan eine empfindliche Geldstrafe wegen Betrugs zu zahlen, was ihrem Ansehen als spiritistische Dienstleisterin der einfachen Leute keinen Abbruch tat. Die Aufmerksamkeit hochrangiger Stäbe der britischen Regierung zog aber erst ein Vorgang während des Zweiten Weltkriegs nach sich.
Am 25. November 1941 sank das Schlachtschiff HMS Barham nach einem Torpedotreffer vor der Küste Ägyptens, wobei 862 Seeleute den Tod fanden. Die britische Regierung entschied, den Vorgang zunächst geheim zu halten. Einerseits lagen zu viele schlechte Nachrichten aus dem Kriegsgeschehen vor, es litt auch die britische Flottenpräsenz im Mittelmeer unter dem Verlust. Andererseits wusste der britische Nachrichtendienst dank seiner guten Entschlüsselungsleistungen, dass der Kommandant des deutschen U-Boots U 331 nicht gesichert von seinem Erfolg wusste – man hatte, verfolgt von anderen britischen Schiffen, die Flucht ergreifen müssen.
Die britische Regierung machte den Verlust erst im Frühjahr 1942 amtlich bekannt, jedoch gilt heute als gesichert, dass die Hinterbliebenen vom Tod ihrer Väter, Söhne, Brüder unterrichtet wurden – wenn auch mit der dringenden Bitte, außerhalb der engsten Familie nicht darüber zu sprechen. Wie erfolgreich das sein kann, lässt sich auch ohne Taschentelefon ausrechnen.
In der Zwischenzeit beschwor Helen Duncan im Rahmen einer Séance den Geist eines getöteten Seemanns der HMS Barham – was eine Frau aus seiner Familie der britischen Admiralität meldete.
Verfahren nach dem Hexereigesetz aus dem Jahr 1735
Spätestens seit diesem Vorgang genoss Duncan die Aufmerksamkeit der britischen Inlandsgeheimdienste.
Diese sorgten sich im Vorfeld der für das Jahr 1944 geplanten Landungsoperation in der Normandie, dass die sehr strikte Geheimhaltung im Resonanzraum der kaum kontrollierbaren magischen Zirkel scheitern könnte – sei es durch Präsenz deutscher Agenten in diesen Kreisen, sei es durch die bloße Verbreitung von Nachrichten in dem allzu weitläufigen arkanen Netzwerk.
Am 19. Januar 1944 löste die Polizei eine Séance von Helen Duncan auf. Ihr wurde zunächst vorgeworfen, gegen den Vagrancy Act aus dem Jahr 1824 verstoßen zu haben – ein Gesetz, mit dem der britische Staat die Folgen der Armut nach den Kriegen gegen Frankreich, in der frühen Zeit auch zunehmender Industrialisierung, unter Strafe gestellt hatte, insbesondere Landstreicherei und Prostitution, aber auch kommerzielle spiritistische Dienstleistungen.
Der Vagrancy Act setzte aber ein relativ hohes Beweismaß an. Die Anklage hatte nachzuweisen, dass die Kunden der magischen Verrichtungen ihre Zahlung in der Erwartung geleistet hatten, dass etwa der Geist eines Toten beschworen werde. Dagegen schützten sich professionelle Akteure wie Helen Duncan jedoch, indem sie zwar ein Entgelt verlangten, das Versprechen einer konkreten erfolgreichen magisch-medialen Leistung jedoch unbedingt vermieden. Bei sozial ganz deklassierten magischen Dienstleistern mochte das für die Anklage kein relevantes Prozessrisiko darstellen. Über die Inhaftierung Duncans hingegen berichtete sogar die BBC.
Für die Anklage aussichtsreicher war daher eine Vorschrift aus dem Witchcraft Act, eingebracht 1735.
Dieses Gesetz, das 1736 in Kraft trat, beseitigte im aufgeklärten Zeitgeist des 18. Jahrhunderts zwar das ältere Strafrecht, das noch von der realen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch magische Tätigkeiten ausgegangen war, etwa durch die hochverräterische Verschwörung von Hexern und Hexen mit dem Satan.
Alternativlos mit Freiheitsstrafe, ursprünglich auch mit einer Stunde Pranger, bedrohte das Gesetz jedoch weiterhin, anderen Menschen vorzuspiegeln, "irgendeine Art von Hexerei, Zauberei, Verzauberung oder Beschwörung auszuüben oder zu gebrauchen", wobei insbesondere das Wahrsagen verboten wurde, etwa durch "Fähigkeiten oder Kenntnisse in irgendeiner okkulten oder schlauen Wissenschaft herauszufinden, wo oder auf welche Weise irgendwelche Güter oder Gegenstände, die als gestohlen oder verloren gelten, gefunden werden können" ("exercise or use any kind of Witchcraft, Sorcery, Inchantment, or Conjuration, or undertake to tell Fortunes, or pretend, from his or her Skill or Knowledge in any occult or crafty Science, to discover where or in what manner any Goods or Chattels, supposed to have been stolen or lost, may be found").
Folgen des Verfahrens
Trotz der kriegsbedingten Einschränkungen betrieb die britische Justiz das Verfahren gegen Helen Duncan und Komplizen mit erheblichem Aufwand.
Angeklagte und Zeugen wurden aus Portsmouth nach London gebracht, das Verfahren vor dem Old Bailey, dem im Krieg schwer beschädigten Gerichtshof, zog sich über acht Tage – auch weil die Verteidigung den letztlich etwas halbherzigen Versuch machte, die magischen Qualitäten der Angeklagten als Tatsache einzuführen.
Die Jury – ihr gehörten in Kriegszeiten statt zwölf nur sieben Geschworene an – kam rasch zu einem Urteil. Duncan wurde zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt, von denen sie sechs Monate verbüßte.
Auf wenig Gegenliebe traf das Verfahren nicht nur unter gläubigen Spiritisten – immerhin hatte, wie erwähnt, sogar die Royal Navy ihren Seeleuten 1941 erlaubt, sich zu Séancen und ähnlichen Ritualen zu versammeln. Auch Premierminister Winston Churchill (1874–1965), dem die spiritistische Denkungsart nicht fremd war – er hielt beispielsweise mögliche Wahrträume von seinem Vater fest –, kritisierte gegenüber einem Mitglied seines Kabinetts den Prozess nach altertümlichem Recht, intervenierte naturgemäß aber nicht.
Abgelöst wurde der Witchcraft Act 1735 auf Betreiben des Labour-Abgeordneten Walter Monslow (1895–1966) durch den Fraudulent Mediums Act aus dem Jahr 1951, der zwar weiterhin unter Strafe stellte, betrügerisch gegen Entgelt vorzugeben, ein spiritistisches Medium, ein Telepath oder Hellseher zu sein, jedoch Handlungen ausnahm, "die ausschließlich zum Zweck der Unterhaltung erfolgen". Dieses Gesetz wiederum wurde 2008 durch Regelungen des EU-Verbraucherschutzrechts abgelöst.
Der Prozess gegen Helen Duncan bleibt in der britischen Öffentlichkeit bis heute präsent. Grund geben zum einen Gerüchte um eine Verstrickung des Geheimdienstes in ihren Fall, zum anderen auch das Anliegen einer Rehabilitation, weil die Anwendung des Witchcraft Acts aus dem Jahr 1735 schlechthin und überzeitlich ungerecht gewesen sei.
Während in Deutschland die inzwischen offenbar weitgehend eingeschlafene Kampagne zur Rehabilitation von Hexern und Hexen bestenfalls auf moralischen Vorstellungen beruhte, berufen sich Fans und Familienangehörige von Duncan auf ein juristisches Präjudiz – die Begnadigung des berühmten Mathematikers und Informatikers Alan Turing (1912–1954), der 1952 wegen seiner homosexuellen Neigung ("gross indecency") strafrechtlich verfolgt und vor die Wahl gestellt worden war, eine Haftstrafe anzutreten oder sich einer pharmakologischen Behandlung zu unterwerfen.
Zu einer rechtlichen Rehabilitation der Spiritistin kam es bisher nicht. Mehrere Eingaben an das Parlament wurden abgelehnt, teils schon ihre Bearbeitung verweigert.
Tipp: Das instruktive Werk von Malcolm Gaskill: "Hellish Nell. The Curious Case of Britain’s Last Witch Trial", liegt in zweiter, ergänzter Auflage seit 2023 vor, Penguin Books, 464 Seiten, ₤ 12,99.
Auf hoher See und vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 08.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55355 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag