Ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahr 1887 erinnert nicht nur an eine düstere Zeit politischer Justiz in Deutschland. Es wirft auch ein Licht darauf, dass seinerzeit andere Weichenstellungen bei der strafprozessualen Beweiswürdigung möglich gewesen wären.
Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. hielten 1878 dazu her, ein scharfes Gesetz gegen die revolutionären Umtriebe der Sozialdemokratie durch den Reichstag zu bringen. Obwohl sie terroristische Methoden ablehnte und die Attentäter keine nennenswerte Beziehung zu den Vorläuferorganisationen der SPD hatten, versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck, ein scharfes Gesetz gegen die politische Linke durchzusetzen.
Nach dem ersten Anschlag, niemand wurde verletzt, scheiterte Bismarck noch an der Reichstagsmehrheit und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die Nationalliberalen spalten zu wollen, indem er sie nötigte, rechtsstaatliche Prinzipien zugunsten seiner Ausnahmegesetzgebung zu opfern.
Über den Machiavellismus des Kanzlers urteilt der Historiker Lothar Gall, es gehörte "zweifellos zu den dunkelsten Punkten in Bismarcks politischer Laufbahn, wie er sich die beiden Attentate zunutze machte". Denn nach einem zweiten Anschlag, bei dem der geistig verwirrte Landwirt Karl Nobiling den greisen Kaiser schwer verletzte, führte Bismarck Neuwahlen zum Reichstag herbei. Gestärkt konnte er das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" durchsetzen, das am 22. Oktober 1878 in Kraft trat.
Sozialistengesetz – Mustergesetz für Obrigkeitsstaaten
Das sogenannte Sozialistengesetz wurde bis 1890 regelmäßig verlängert. Seine 30 Paragrafen könnten noch heute jedem autoritären Regime der Welt als Vorbild dienen: Beinah jede politische Handlungsform der linken Opposition war illegal. Das betraf die Gründung von Vereinen, nahezu jede Form der Publizistik und öffentliche Versammlungen. Engmaschige Polizeiaufsicht sah das Gesetz vor, auch die Ausweisung sozialdemokratischer Aktivisten. Manche Arbeiterstadt wurde ihnen ganz verboten.
Als wäre es vom PR-Beauftragten einer heutigen Diktatur erfunden, lag die zarte Perfidie des Sozialistengesetzes darin, den schönen liberalen Anschein zu wahren. Ganz verboten oder von der parlamentarischen Existenz ausgeschlossen war die Opposition nicht. Aber jede Öffentlichkeitsarbeit außerhalb von Wahlkämpfen wurde hart unterbunden.
Sozialdemokraten – gerichtsnotorische Verschwörer?
Neben seinen eigenständigen Strafandrohungen, etwa Verbreitung sozialistischer Zeitungen, ermöglichte es das Sozialistengesetz auch, Vorschriften des Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) anzuwenden, vor allem § 129. Härter als das Sozialistengesetz selbst drohte die Norm (Fassung von 1872-1951):
"Die Theilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, ist an den Mitgliedern mit Gefängniß bis zu einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu bestrafen."
Vermutlich fällt in jedem Strafprozess, der einer konspirativen Gruppe gilt, der Beweis der Konspiration schwer. Eine handfest zugreifende Mafia hinterlässt eben eher Spuren als eine idealistische Truppe, die mit Druckwerken Köpfe erobern will.
Ganz besonders leicht hatte es sich das Landgericht Potsdam gemacht, als es einen Angeklagten aufgrund von § 129 RStGB verurteilte, weil dieser "an einer innerhalb der sozialdemokratischen Partei in Deutschland bestehenden Verbindung teilgenommen" habe, die das Sozialistengesetz "durch Verbreitung verbotener Schriften zu verhindern oder zu entkräften" bezwecke.
Illegale Verbindungen, die keines Beweises bedürfen
Das Landgericht hatte, so monierte das Reichsgericht, im konkreten Fall gar keinen Beweis darüber erhoben, ob im konkreten Fall überhaupt eine "Verbindung" im Sinne der Norm bestand. Die Strafkammer hatte ihr Urteil u.a. darauf gestützt, dass die Existenz des obskuren sozialdemokratischen Lesezirkels "gerichtskundig sei und auch aus den bisher geführten Sozialistenprozessen, insbesondere aus den überzeugenden Gründen der Entscheidung des Reichsgerichts [...] zu entnehmen sei".
Mit anderen Worten: Weil das Reichsgericht in einem anderen Fall eine "Verbindung" innerhalb der Sozialdemokratie bejaht hatte, sei sie auch der Strafkammer in Potsdam "gerichtsbekannt". Das Reichsgerichts erklärt sich diese Worte der Potsdamer Kollegen: "Das kann nur bedeuten, daß diese Existenz [der illegalen ‚Verbindung‘] bei dem erkennenden Gericht so bekannt [ist], daß sie keines Beweises bedürfe."
Anders geschrieben und als § 260 Strafprozessordnung galt seinerzeit schon der Satz: "Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung."
Das Reichsgericht konnte dem Protokoll des Potsdamer Prozesses nicht entnehmen, dass über die "Verbindung" verhandelt worden wäre. Es hob daher das Urteil gegen den Sozialdemokraten mit Urteil vom 15. November 1887 auf – RGSt 16, 327-332, Aktenzeichen Rep. 2410/87.
Oberrichter als Oberlehrer
Das Landgericht hatte, nach heutigem Verständnis eindeutig, strafprozessuale Grundsätze verletzt – den der freien Beweiswürdigung, der Unmittelbarkeit und auch der Mündlichkeit des Verfahrens.
Wenn auch die Strafprozessordnung von 1877 diese Grundsätze nicht neu erfunden hatte, gab dieser Sozialistenprozess dem Reichsgericht Anlass, sich sehr grundsätzlich zur Frage zu äußern, wie die Richter in Strafsachen mit ihrem Vorwissen umzugehen hätten.
Das war sicher darin begründet, dass die Justiz noch aus unterschiedlichen Traditionen kam. Am gemeinen bzw. am kanonischen Recht geschulte Juristen mochten mit der Figur der Notorietät noch vertraut gewesen sein: Was nicht ohne Schikane geleugnet werden kann, darf dem Beweis entzogen bleiben. Die Potsdamer Richter hatten dem Reichsgericht geschmeichelt, dass die Urteilssammlung aus Leipzig eine solch unbezweifelte Erkenntnisquelle sei. Das Reichsgericht erlag der Versuchung nicht. Kann man das bis heute von den höchsten Gerichten behaupten?
Anderer Gerichte schnitten eher zu wenig als zu viel Beweismittel ab. Friedrich Stein fühlte sich etwa "tief beschämt", dass noch 1892 ein Gericht in Bayern Beweis über die Möglichkeit erhoben hatte, ein Kind könnte "verhext" worden sein.
Steinsche versus moderne Pathosformeln
Zur Zeit des Reichsgerichts hatte ein Richter das Wissen aus seinem Studium, kaum Fachzeitschriften, ein wenig obergerichtliche Judikatur, den Brockhaus in der Gerichtsbibliothek. Zugespitzt gesagt: Wenig Information, Zweifel keimen zu lassen.
Der Bundesgerichtshof fordert in seiner bekannten Formel, eine Verurteilung dürfe nur erfolgen, wenn der Richter eine persönliche Gewissheit habe, der gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Natürlich, "überspannt" sollen die Anforderungen an die Gewissheit auch wieder nicht sein, doch wen tröstet das?
Wie viel mehr an Information trifft heute auf den Kopf eines Richters, verglichen mit der Zeit des Reichsgerichts? Wie viel mehr Anlässe gibt es zu zweifeln, vernünftig oder halbwegs vernünftig?
Tröstlicher sind vielleicht diese vom seinerzeit berühmten Prozessrechtler Friedrich Stein 1893 formulieren Forderungen und Einschränkungen:
"(M)ehr als einen auf der Höhe und Bildung seiner Zeit stehenden Mann überzeugen, kann kein Beweis. Auch der Prozess kann nirgends der Erkenntniss seiner Zeit und seines Volks voraus sein."
Oder geschlechtersensibler formuliert: Die Fähigkeit, "trotz der Möglichkeit von Zweifel und Irrthum, von der Wahrheit eines Satzes oder einer Thatsache überzeugt" zu sein, "bezeichnet nicht nur das Mindestmass dessen, was der Beweis erreichen muss, sondern zugleich auch sein höchstes und letztes Ziel. Les choses parfaites ne sont pas du ressort de l’humanité."
Der Autor Martin Rath ist Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Grundlagen der Beweiswürdigung: . In: Legal Tribune Online, 15.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1197 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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