Vor 40 Jahren entführte ein Kellner aus Berlin (Ost) ein polnisches Verkehrsflugzeug nach Berlin (West). Aufsehen erregte, dass das US-Besatzungsgericht das Urteil in die Hand von zwölf deutschen Geschworenen legte.
Im Frühjahr 1931 sollen einige, offenbar eher pittoreske peruanische Revolutionäre die Luftpiraterie erfunden haben, indem sie einen Piloten nötigten, seine Maschine zum Abwerfen von Flugblättern zur Verfügung zu stellen. Dabei sollte es nicht bleiben.
Seit ihren Anfängen zog die Verkehrsluftfahrt immer wieder politische Gesinnungstäter an. Beeinflussten die Anschläge vom 11. September 2001 seither die Militär- und Polizeipolitik wohl aller westlichen Länder, blieben von der Welle krimineller Eingriffe in den Luftverkehr vor allem die Entführung der Air-France-Maschine Flug 139 mit der Befreiungsaktion der israelischen Armee im ugandischen Entebbe am 4. Juli 1976 und die "Landshut"-Entführung, beendet am 18. Oktober 1977, im Gedächtnis.
So prägend das Bild der terroristisch motivierten Fälle ist, waren doch sehr viele Flugzeugentführungen der 1950er- bis 1970er-Jahre vom Wunsch getrieben, aus den leninistisch regierten Diktaturen zu fliehen – von Kuba bis Osteuropa.
Berliner Flugzeugentführung mit besonderen Problemen
Am 18. Oktober 1969 nötigten beispielsweise der 19-jährige Ulrich von Hof und der 24-jährige Peter Klemt – bis dahin Automechaniker in Berlin (Ost) – die Besatzung einer polnischen Verkehrsmaschine, die auf ihrem Flug von Warschau nach Brüssel eine Zwischenlandung in Schönefeld (bei Berlin) gemacht hatte, auf dem Flughafen Tegel in Berlin (West) zu landen.
Mag sein, dass sonst kein Problem der Welt groß genug sein kann, um nicht von Berlinern auf ein etwas schlumpfiges Niveau gebracht zu werden – doch schon in dieser ersten Berliner Flugzeugentführung steckte tatsächlich einiges an Rechtsproblemen in den Ortsangaben: Der Prozess gegen die beiden jungen Männer wurde vor dem Tribunal du Gouvernement Militaire Français de Berlin geführt – also einem Gericht der französischen Militärregierung zu Berlin, das nach alliiertem und deutschem Recht auf zwei Jahre Freiheitsstrafe erkannte: Tegel lag in der französischen Besatzungszone von Berlin (West). Dass der Flughafen von Berlin (Ost) außerhalb der früheren Reichshauptstadt angelegt worden war, mochte bei all dem dazu beigetragen haben, dass die sowjetische Kommandantur dabei weniger hineinzufunken hatte, als es ihr womöglich lieb war.
Der U.S. Court for Berlin übernimmt erstmals
Die Entführung einer weiteren polnischen Verkehrsmaschine, am 30. August 1978 zog deutlich weitere Wellen. Der 34-jährige Kellner Hans Tiede aus Berlin (Ost) bestieg an diesem Tag – nachdem sich ein Fluchtplan mittels gefälschter Papiere wegen Ermittlungen der DDR-Staatssicherheit zerschlagen hatte – in Danzig ein Flugzeug des staatlichen polnischen Luftverkehrsunternehmens Polskie Linie Lotnicze LOT. Begleitet wurde er von einer Freundin und ihrer 12-jährigen Tochter.
Indem Tiede eine Stewardess mit einer Pistole bedrohte, zwang er den Kapitän, statt – wie vorgesehen – in Schönefeld bei Berlin (Ost) in Berlin- Tempelhof zu landen, dem militärisch genutzten Flughafen im amerikanischen Sektor.
Dort vom amerikanischen Militär in Haft genommen, wurde Tiede – ein polnisches Auslieferungsersuchen blieb erfolglos – vor dem United States Court for Berlin wegen Angriffs auf den Luftverkehr, Geiselnahme und Körperverletzung zulasten der Stewardess, §§ 316c, 239b, 223 Strafgesetzbuch (StGB) angeklagt.
Ein Verfahren vor deutschen Gerichten wäre in Frage gekommen, jedoch entzog der Kommandant des amerikanischen Sektors mit Schreiben an den Berliner Justizsenator vom 1. November 1978 diesen die Zuständigkeit. Rechtsgrundlage hierfür war Artikel 7 Gesetz Nr. 7 der Alliierten Kommandatura Berlin vom 17. März 1950, das in besonderen Fällen die Überweisung einer Strafsache an Besatzungsgerichte erlaubte.
Der U.S. Court for Berlin war durch Gesetz Nr. 46 des Hohen Kommissars der Vereinigten Staaten vom 28. April 1955 geregelt, bis 1979 aber nie einberufen worden – vorgesehen war die Ernennung von Staatsanwälten nach Maßgabe der US-Regierung. Für die übrige Bundesrepublik waren entsprechende besatzungsrechtliche Gerichtsbarkeiten bereits 1955 beseitigt worden.
Zwölf Berliner Geschworene
Vor dem Hintergrund der in den späten 1960er-Jahren einsetzenden Welle von Flugzeugentführungen, vielfach noch durch Flüchtlinge, vermehrt aber auch durch Terroristen, waren – ungeachtet des Ost-West-Konflikts – völkerrechtliche Vereinbarungen zustande gekommen, die alle am Berliner Verfahren interessierten Seiten banden, Polen und die Bundesrepublik, die USA und die Sowjetunion.
Daher war es ein Anliegen der US-Regierung, dass der DDR-flüchtige Tiede und seine Begleiterin zügig und spürbar bestraft würde.
Der vom US-Botschafter berufene Richter Herbert J. Stern gab jedoch dem Antrag der Verteidigung statt, ein Geschworenengericht nach Artikel III § 2 cl. 3 und dem 6. Zusatzartikel der US-Verfassung einzusetzen.
Wie Stefan Forch in seiner Analyse unter dem Titel "Mitwirkung deutscher Geschworener an der Ausübung amerikanischer Besatzungsgerichtsbarkeit in Berlin" zeigte, begab sich Richter Stern damit auf mehr als dünnes Eis. Forch zeichnete den Abbau der Besatzungsgerichtsbarkeit in den früheren Westzonen Deutschlands nach und hielt – aus der Perspektive des Jahres 1980 für Berlin fest: "Diese amerikanischen Besatzungsgerichte waren – und der U.S. Court for Berlin ist somit als Nachfolgegericht auch heute noch – Teil der Militärverwaltung (military government) der besetzten Gebiete."
Die Besatzungsgerichte seien zwar von den mit Militärs besetzen Kriegsgerichten zu unterscheiden, hätten mit diesen aber gemeinsam, dass beide als "military commissions" nach amerikanischem Verfassungsrecht nicht kraft Gesetzes, sondern aufgrund von Kriegsrecht eingesetzt würden. Die Ermächtigungsgrundlage hierzu findet sich in den Befugnissen des US-Präsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Artikel II § 2 cl. 1 der US-Verfassung. Grundsätzlich kennen "military commissions" keinen Prozess vor Geschworenen.
Entsprechende Einwände trug die Anklage vor, doch verwahrte sich Richter Stern gegen ein Verfahren ohne "peers" mit dem Argument, die USA hätten niemals dauerhaft Regierungsgewalt ausgeübt, ohne ihre Verfassung zu beachten. Dieses Argument des Richters war, mit Blick auf die Präzedenzfalle zwar schwach, doch indem die Anklageseite ihren Einwand nicht weiter verfolgte, blieb es beim Geschworenenprozess (Urt. v. 14.3.1979, 85 F.R.D 227).
Für Tiede war dies erfreulich. Denn die Berliner Geschworenen befanden ihn nur im Anklagepunkt der Geiselnahme für schuldig, Richter Stern erkannte auf eine Haftstrafe, die durch die bisherige Haft abgegolten war.
Alliierten Rechte, ein eigenartiges juristisches Arbeitsfeld
In seiner detaillierten Untersuchung des Falls benennt Forch eine ganze Reihe von Kritikpunkten. Richter Stern habe einen in sich widersprüchlichen Standpunkt eingenommen, indem er, nachdem den deutschen Gerichten auf besatzungs-, also kriegsrechtlicher Grundlage die Zuständigkeit entzogen worden war, deutsche Staatsangehörige an der Ausübung dieser fremden Staatsgewalt beteiligt habe – nicht allein ein Problem der inneren Logik, sondern auch eine an sich kriegsvölkerrechtlich verbotene Pflicht zur Kollaboration.
Da seinerzeit der SED-Staat Berlin (West) nicht nur von den Landkarten tilgte, sondern jede von den westalliierten Besatzungsmächten an die Westberliner Bevölkerung delegierte Staatsgewalt als Möglichkeit sehen mochte, Berlin (West) als von der Bundesrepublik auch rechtlich getrennten Teil Deutschlands zu behandeln, war man – abgesehen von der notorisch einfältigen Boulevardpresse – auch in Berlin (West) nicht unbedingt glücklich mit der amerikanisch-deutschen Mischjustiz des Richters Stern.
Bis mit der Wiedervereinigung die alliierten Rechte in Berlin beendet wurden, blieben sie ein eigenartiges juristisches Arbeitsfeld – weit über das Mitführen von Brotmessern, für das die Besatzungsmächte bis 1990 nicht vollends legendär in Berlin die Todesstrafe androhten. So suchten beispielsweise Bürger im britischen Sektor Berlins 1983 vergeblich nach Rechtsschutzmöglichkeiten gegen einen Schießplatz ihrer Schutzmacht.
Der Prozess zur Flugzeugentführung vom 30. August 1978 wurde zehn Jahre später mit Martin Sheen in der Rolle des Richters Stern vergleichsweise unverschnulzt verfilmt. Weil nach dem 11. September 2001 gern auf die Militärgerichtsbarkeit gebaut wird, mag das Urteil von Richter Stern inzwischen auch wieder mehr sein als ein rein moralischer Stachel im imperialen Sitzfleisch des US-Präsidenten.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Flugzeugentführung von Ost nach West: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30689 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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